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Stevie kam sich vor, als würde sie eine Bombe versteckt halten.

Es war seltsam, dass schon wieder Abend war und die Gruppe erneut zusammen am großen Esstisch saß. Vor lauter Aufregung über die Suche in der Wand hatte Stevie für kurze Zeit alles andere vergessen – den Schnee, David, die Dateien auf den USB-Sticks.

Pix, die von all den Aktivitäten nichts wusste, hatte Brot und Beläge bereitgestellt, außerdem ein paar Salate und alles, was der Speisesaal sonst noch hergegeben hatte. Es gab kalte Getränke in schneebestäubten Flaschen. Stevie schnappte sich eine der Ahorn-Limette-Fichte-Limonaden, die sie so widerlich fand. Im Moment war es ihr völlig egal, was sie zu sich nahm. Sie musste einfach nur dieses Abendessen hinter sich bringen, damit sie zurück in ihr Zimmer konnte, zu dem Tagebuch, das dort auf sie wartete. Ihr Blick fiel auf eine Schale Thunfischsalat. Sie schnappte sich zwei Scheiben des nächstbesten Brots, klatschte auf eine davon einen Löffel Salat und presste die andere obendrauf. Achtlos hackte sie ihr Sandwich in zwei Hälften und ließ sich damit auf einen Stuhl fallen.

David saß am anderen Ende des Tischs, neben sich eins der alten Tablets mit dem Display nach unten.

»Thunfischsalat esse ich nicht«, verkündete er gerade und nahm sich eine Scheibe Brot. »Der ist mir zu mysteriös. Dadrin können einem die Leute ja alles Mögliche unterjubeln. Ein hinterhältiges Essen.«

»Ich find ihn lecker«, entgegnete Hunter. »Zu Hause tun wir da immer Dillgürkchen rein und eine Old-Bay-Gewürzmischung.«

»Gut zu wissen«, erwiderte David. »Und, Nate, wie stehst du zu Thunfischsalat?«

Nate wollte ganz offensichtlich einfach in Ruhe lesen und dabei kalte Käsemakkaroni in sich reinschaufeln.

»Ich esse keinen Fisch«, sagte er. »Fisch macht mir Angst.«

»Ist vermerkt. Und du, Janelle?«

Vi warf immer wieder verstohlene Blicke in Richtung ihrer Freundin, die sich ihr gegenüber höflich, aber reserviert verhielt. Gerade stellte sie sich einen Teller mit Tofu und Salat zusammen und setzte sich neben Stevie. Vi starrte in die Tiefen ihrer Teetasse.

»Ich hab Wichtigeres, was mich beschäftigt«, antwortete Janelle auf Davids Frage. »Wie war denn dein Tag so?«

»Lang«, sagte der. »Ach, du weißt schon.«

»Nö, eigentlich nicht«, erwiderte Janelle.

David guckte Stevie immer wieder an. Sein Gesichtsausdruck war unmöglich zu deuten. Unfreundlich kam er eigentlich nicht herüber. Eher … mitfühlend? Tat sie ihm jetzt etwa leid?

Das durfte sie nicht auf sich sitzen lassen. Dann sollte er lieber höhnisch grinsen. Oder sie ignorieren. Mitleid wirkte jedenfalls völlig fehl am Platz auf seinem scharfkantigen Gesicht. Stevie hob trotzig das Kinn, starrte zurück und biss in ihr Sandwich. Selbst als dabei ein Stück Thunfisch auf ihrem Schoß landete, schnippte sie es einfach zu Boden und tat so, als wäre nichts passiert.

Sobald sie aufgegessen hatte, räumte sie ihren Teller ab und ging. Janelle schloss sich ihr an. Zurück in ihrem Zimmer kniete Stevie sich neben ihr Bett, als wollte sie beten oder einem religiösen Objekt huldigen. Janelle setzte sich auf die Kante und sah zu, als Stevie das Buch erneut aufklappte. Wieder knarzte der Einband. Es roch ganz leicht muffig und das Papier war zu einem milchigen Gelb nachgedunkelt, aber davon abgesehen befand sich das Tagebuch in einwandfreiem Zustand. Die Handschrift darin war schnurgerade in einer Linie, klein und hatte einen eleganten Schwung. Hier und da war die Tinte ein wenig verschmiert.

»Fangen wir mit den Fotos an.« Stevie hielt eines der Bilder hoch. Das Mädchen darauf trug ein eng anliegendes Strickkleid, hatte die Hand in die Hüfte gestemmt und zwischen ihren Zähnen klemmte eine Zigarre. »Sie heißt Francis. Das hier muss ihr Tagebuch sein. Sie hat mal hier gewohnt.«

Francis Josephine Crane und Edward Pierce Davenport waren beide Schüler des allerersten Ellingham-Jahrgangs von 1935 gewesen, der im April 1936, nach der Entführung, vorzeitig nach Hause geschickt worden war. Francis hatte in Minerva gewohnt, in genau diesem Zimmer. Sie stammte aus einer extrem reichen Mehlfabrikantenfamilie. (»Amerikas beliebtestes Mehl! Mit Crane Mehl schlägt der Kuchen nie fehl!«, hatte der Werbeslogan gelautet.) Ihre Eltern waren Freunde der Ellinghams und die beiden Familien lebten in benachbarten Stadthäusern auf der Fifth Avenue in New York. Sie war gerade einmal sechzehn gewesen, als sie an die Academy gekommen war, dennoch bestand ihr Leben bereits aus Wochenendtrips, Privatlehrern, Sommern in Newport und Wintern in Miami, Europa-Rundreisen, Bällen und Partys, kurz gesagt: aus all den Annehmlichkeiten, die reiche Leute sich während der Wirtschaftskrise leisteten, während der Rest der Bevölkerung am Hungertuch nagte. Wie ihr Leben nach der Ellingham weitergegangen war, hatte Stevie nie herausfinden können. Mit achtzehn war sie auf einem Debütantinnenball in die Gesellschaft eingeführt worden, danach jedoch hatte sich ihre Spur verlaufen.

Edward, oder Eddie, stammte aus ganz ähnlichen Verhältnissen. Ein reicher Bengel, der von einem Internat zum nächsten weitergereicht wurde. Eddie sah sich als Poet und sein Schicksal war bekannt. Nach der Ellingham war er zunächst aufs College gegangen, das er jedoch abgebrochen hatte, um nach Paris auszuwandern, wo er sein Glück tatsächlich als Dichter versuchte. Am Tag, als die deutschen Streitkräfte in die Stadt einmarschierten, betrank er sich mit Champagner, sprang vom Dach seines Wohnhauses und landete auf einem Naziwagen. Er war auf der Stelle tot.

Auf diesen Fotos jedoch waren die beiden wieder wild und lebendig. Stevie blätterte vorsichtig weiter und besah sich zunächst die eingeklebten Zeitungsausschnitte. Artikel über John Dillinger, Ma Barker und Pretty Boy Floyd. Bankräuber. Gesetzlose. Es waren aber auch aus naturwissenschaftlichen Lehrbüchern ausgerissene Seiten darunter. Hauptsächlich chemische Formeln.

»Sagt dir das irgendwas?«, wandte sich Stevie an Janelle.

»Nur, dass das meiste davon explosiv ist«, antwortete diese.

Einmal stand an den Rand gekritzelt:

Fingerabdrücke: H2SO4 NaOH

»Wofür steht das denn?«, wollte Stevie wissen.

»Schwefelsäure und Natronlauge. Zwei ziemlich gebräuchliche Säuren. Aber keine Ahnung, was das mit Fingerabdrücken zu tun haben soll.«

»Ich glaube, damit kann man sich die Fingerkuppen wegätzen«, sagte Stevie. »Haben Gangster und Bankräuber früher so gemacht, um keine Spuren zu hinterlassen.«

Die nächsten Seiten waren voller Karten, sehr detailliert und mit feinem Bleistift handgezeichnet – Relikte aus einer Zeit, in der es noch kein Google gab und man seine Reiserouten auf diese Weise planen musste. Wer auch immer sie angefertigt hatte, war ein geübter Zeichner mit sicherer, präziser Hand gewesen. In ein paar anderen der Zeitungsausschnitte und Notizen ging es um Waffen und Munition.

»Da wird einem ja richtig mulmig«, merkte Janelle an. »Liest sich wie Vorbereitungen für ein Schulmassaker.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Stevie. »Kommt mir eher wie eine Art Handbuch für angehende Gangster oder Bankräuber vor. Damals gab es ja noch kein Internet, darum hat sie sich vielleicht einfach selbst einen Ratgeber zusammengestellt, in dem sie Sachen nachschlagen konnte.«

Ein Lesebändchen teilte das Buch in zwei Partien. Stevie schlug die Seite auf. Ab hier war fast alles nur noch handschriftlich verfasst. Tagebucheinträge. Stevie überflog die ersten paar:

12. September 1935

Eigentlich sollte hier alles anders werden, aber im Grunde ist es genauso langweilig wie zu Hause. Jeden Tag habe ich Gertrude van Coevordens dummes Gesicht vor der Nase und denke mir so manches Mal, wenn sie noch mehr von diesem Unsinn von sich gibt, muss ich ihr leider die Haare anzünden. Sie ist eine eingebildete Ziege und furchtbar gemein zu Dottie, die hier außer mir die Einzige mit ein bisschen Grips zu sein scheint. Eine Schande, dass sie so bettelarm ist.

20. September 1935

Ein Lichtblick. Er heißt Eddie und ist ziemlich interessant. Ob er der Eddie ist, von dem man so viel hört? Wenn ja, dann sind die Geschichten über ihn regelrecht skandalös. Es heißt, er habe ein Mädchen geschwängert, das zur Geburt in irgendein verschlafenes Nest bei Boston verfrachtet wurde, damit niemand etwas mitbekommt. Zuzutrauen wäre es ihm. Ich muss auf jeden Fall mehr über ihn herausfinden.

21. September 1935

Heute habe ich Eddie nach dem Baby gefragt.

Er hat bloß gegrinst und gesagt, wenn ich neugierig sei, würde er mir mit Freuden Nachhilfe erteilen. Ich habe ihm gedroht, meine Zigarette in seinem Auge auszudrücken, wenn er noch einmal so frech zu mir ist. Wir treffen uns heute Abend, wenn es dunkel ist.

22. September 1935

Heute hatte ich meine erste Nachhilfestunde bei Eddie. Vielleicht ist es hier doch gar nicht so übel.

25. September 1935

Mein neuer Lehrer und ich üben fleißig. Oh, Daddy. Oh, Mutter. Wenn ihr wüsstet. Welch Glück, dass ihr den Ellinghams so treue Freunde seid und mich hergeschickt habt.

»Na, die hatte ihren Spaß«, schmunzelte Janelle.

Stevie blätterte weiter und überflog die Einträge. Weiter hinten folgten ein paar Gedichte oder zumindest Rohfassungen.

UNSER SCHATZ

Mit neun beginnt alles, was lieb mir und teuer

Tanz zwölfhundert Schritte, nach Nord weist das Steuer

Dann nach links bis zum Rand dreihundertmal

E+A

Zeig Flagge

Auf Zehenspitzen

Das ließ Stevie schon ratloser zurück. E stand vermutlich für Eddie, aber wer war A?

Und plötzlich schlug sie eine Seite auf, bei deren Anblick ihr beinahe das Herz stehen blieb. Dort prangte, Schwarz auf Weiß, der Entwurf für den Brief des Wahrhaftigen Lügners. Stevie konnte die beiden regelrecht vor sich sehen, wie sie da hockten und an den Versen tüftelten.

Seht mal, ein Rätsel!

Das erfordert Geschick!

Nehmen wir die Pistole

Oder lieber den Strick?

Streichholzbrand und Scherenstich

Ein Messer ritzt, ein Streichholz brennt

Messer schneiden

Messer sind scharf

Und glänzen fein

Bomben sind

Gift ist bitter

Gift wirkt langsam

Drei Seiten lang ging es so weiter, bis schließlich die endgültige Version stand.

Stevie sprang auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu tigern.

»Ist dir klar, was das ist?«, fragte sie dann Janelle.

»Ein Beweis«, antwortete die.

»Ein weiterer Beweis. Wofür auch immer. Auf jeden Fall dafür, dass der Wahrhaftige Lügner –«

In dem Moment fiel der Strom aus.