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Während eines Schneesturms auf einem Anwesen in den Bergen festzusitzen, mochte vielleicht nett und romantisch klingen, insbesondere auf einem Anwesen wie der Ellingham Academy, die komplett aus gemütlichen Nischen und atemberaubenden Ausblicken zu bestehen schien. Sie hatten reichlich Feuerholz und Essen. Es war genügend Platz für alle. Da hätte man doch meinen können, dass es einigermaßen annehmbar würde.

Aber Schnee konnte dem Verstand seltsame Streiche spielen. Alles fühlte sich eng und erdrückend an. Die Zeit verlor jegliche Bedeutung. Nachdem einmal erledigt war, weswegen die Hälfte von ihnen überhaupt dageblieben war, herrschte allgemeine Verwirrung darüber, wie es weitergehen sollte. Wenigstens hatten Vi und Janelle sich wieder vertragen und kuschelten sich so dicht zusammen, dass Stevie kaum noch sagen konnte, wo die eine anfing und die andere aufhörte. Hunter hielt ein Nickerchen. Nate tat sein Bestes, um mit seinem Sessel zu verschmelzen und in Ruhe gelassen zu werden.

Und David? Tja, der hockte auf seinem eigenen Sessel, spielte ein Spiel auf seinem Laptop und lugte gelegentlich über den Rand zu Stevie herüber.

Irgendwann stand sie auf und verließ den Salon. Ihren Rucksack nahm sie mit.

Nach oben durften sie nicht, aber niemand hatte ihr verboten, sich auf die große Treppe zu setzen, und da richtete sie sich nun ein, allein und ganz öffentlich. Wo sucht man den, der nie wirklich ist da? Auf der Treppe …

»Sollte nicht mehr viel länger als vierundzwanzig Stunden dauern, bis wir hier wegkommen«, hörte sie Mark Parsons sagen, der ein Stockwerk höher zusammen mit Dr. Quinn und Nennt-mich-ruhig-Charles über die Empore ging. Also wurden bereits Pläne geschmiedet. Bald würde sich ihr kleines Camp auflösen und sie alle würden in eine ungewisse Zukunft gehen.

Stevie wickelte sich fester in ihre Decke und starrte auf das Familienporträt der Ellinghams. Die strudelnden Farben, der verzerrte Mond, der dunkle Himmel und im Hintergrund die bedrohliche Kuppel des Observatoriums. Stevies Puls fing an zu rasen, die Welt vor ihren Augen verschwamm und sie tauchte in das Gemälde ein. Jetzt war sie mittendrin, stand neben den Ellinghams in ihrer kaleidoskopartigen Welt. Den armen Ellinghams, die noch nichts von ihrem Schicksal ahnten.

Das Gemälde. Das Foto von Leonard Holmes Nair mit seiner Leinwand.

Stevie griff nach ihrem Rucksack und kramte das Tagebuch hervor. Nachdem es ihr gelungen war, zumindest einen Teil der Pünktchen wegzublinzeln, die vor ihren Augen tanzten, schlug sie das Buch auf, schnappte sich die Fotos und sah sie hastig durch. Francis und Eddie in ihren Gangsterposen, die beiden im Wald und dann …

Da. Leonard Holmes Nair auf dem Rasen. Immer wieder ließ sie den Blick zwischen dem Foto und dem Gemälde hin- und herwandern. Dann stand sie auf und trat ganz nah an das Porträt heran, um es genauer zu betrachten. Besonders den Himmel, der die Ellinghams umhüllte. Die Platzierung des Mondes.

Es war eindeutig dasselbe Gemälde. Die Figuren waren exakt gleich. Aber an der Stelle, wo jetzt der Mond prangte, war auf dem Foto eine Sonne zu sehen. Und die Villa im Hintergrund war dem Observatorium und dieser seltsamen Aura aus Licht gewichen.

Dasselbe Gemälde. Aber es bildete einen anderen Ort ab. Warum hatte der Maler es umgearbeitet? Der Mond stand hoch am Himmel und seine Strahlen bogen sich um die Glaskuppel, schienen auf einen Punkt seitlich davon zu deuten, ungefähr dorthin, wo sich der Tunnel befand. Und wo das Licht sich bündelte …

Da war etwas – etwas, das sie nicht richtig begriff.

Stevie wandte sich von dem Bild ab, schlug erneut das Tagebuch auf und blätterte durch die mittlerweile vertrauten Einträge. Die verliebte Francis, die unglückliche Francis, die gelangweilte Francis. Die Francis, die Munitions- und Sprengstofflisten erstellte. Wieder überflog sie die Gedichte und kehrte schließlich zu dem zurück, das sich von allen anderen abhob.

UNSER SCHATZ

Mit neun beginnt alles, was lieb mir und teuer

Tanz zwölfhundert Schritte, nach Nord weist das Steuer

Dann nach links bis zum Rand dreihundertmal

E+A

Zeig Flagge

Auf Zehenspitzen

Ging es darin um Orte, an denen Francis gewesen war? Tanzveranstaltungen? Nach Norden von wo? Und welchen linken Rand? Wovon?

Stevies Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie wusste, was sie hier vor sich hatte. Irgendwo hatte sie so was schon mal gesehen. Aber sie kam nicht darauf.

Sie rieb sich die Augen und betrachtete abermals das Gemälde, das Observatorium im Mondschein.

Das Observatorium.

Das hier war kein Gedicht. Es war eine Wegbeschreibung. Und sie wusste ganz genau, was Francis dafür als Vorlage benutzt hatte.

Niemand beachtete sie, als sie zurück in den Morgensalon schlenderte und sich eine der Broschüren vom Tisch neben der Tür nahm. Dann zog sie sich wieder auf die Treppe zurück, um ihre Ruhe zu haben. Erneut schlug sie die Tagebuchseite mit dem Gedicht auf und legte die Karte der Ellingham Academy aus der Broschüre daneben, die idealisierte Version von der Kinderbuchillustratorin.

Mit neun beginnt alles, was lieb mir und teuer. Nummer neun auf der Karte war Minerva – das Haus, in dem auch Francis gewohnt hatte.

Tanz zwölfhundert Schritte, nach Nord weist das Steuer. Das war relativ unmissverständlich: tausendzweihundert Schritte Richtung Norden. Zwar konnte Stevie die Schritte im Moment nur auf dem Papier abschätzen, aber das war besser als nichts. Dann nach links bis zum Rand dreihundertmal. Also ein Viertel der Distanz aus der zweiten Zeile. Damit landete man …

Am oberen Rand der Karte bei dem Kreis, in dem die Buchstaben »E« und »A« für Ellingham Academy und »GEGRÜNDET 1935« standen.

Zeig Flagge. Oben auf der Kuppel des Observatoriums war tatsächlich eine Flagge eingezeichnet und deren Mast deutete direkt auf das »E« und das »A«.

Dort musste etwas sein, irgendetwas, das Francis als »Schatz« bezeichnete. Und Stevie blieb nichts anderes übrig, als loszuziehen und sich auf die Suche danach zu machen.

Wären da nur nicht zwei winzig kleine Probleme: der Schneesturm und die Tatsache, dass sie die Villa nicht verlassen durfte. Letzteres bereitete ihr kein besonders großes Kopfzerbrechen. Wenn man sowieso schon Ärger am Hals hatte, kam es auf ein wenig mehr Ärger auch nicht an. David hatte gesagt, das Sicherheitssystem laufe über WLAN. Und das funktionierte momentan zwar in der Villa, aber auf dem gesamten Rest des Schulgeländes nicht, also würde mit ein bisschen Glück vielleicht niemand mitbekommen, dass sie sich draußen herumtrieb. Sie brauchte bloß ihre Jacke und ihre Stiefel, die triefnass im Büro des Wachdiensts verblieben waren. Sie würde einfach hingehen, sich anziehen und dann unauffällig nach draußen verschwinden. Nur um etwas Luft zu schnappen. Einen kleinen Spaziergang konnte ihr doch wohl niemand verwehren.

Ganz lässig machte sie sich auf den Weg die Treppe hinunter und auf die Toilette, wo sie ihren Rucksack deponierte. Die Fenster dort waren gerade groß genug zum Durchklettern und führten auf die Steinpromenade, die teilweise das Haus umgab. Charles und Dr. Quinn waren nirgends zu sehen, aber es klang, als wären sie in einem der Büros in der ersten Etage. Mark Parsons ging sowieso schon den ganzen Tag ein und aus und war wahrscheinlich gerade mit der Pistenraupe unterwegs. Nur Pix saß am großen Kamin in der Eingangshalle und las. Irgendwie musste Stevie an ihr vorbeikommen.

Am besten, das hatte sie in all ihren Recherchen gelernt, hielt man es so einfach wie möglich. Sie brauchte ja bloß eine Minute.

Stevie ging zu Pix.

»Äh …«, sagte sie. »Ich glaube, Janelle und Vi … die würden gern mal mit Ihnen reden.«

»Worüber denn?«, fragte Pix.

»Keine Ahnung. Sie wollten doch gestern wissen, was mit den beiden los ist …« Sehr gut, das war schließlich die Wahrheit. Immer ein Körnchen Wahrheit hinzufügen. »Und ich glaube, sie …«

Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen und zuckte mit den Schultern. Pix nickte, stand auf und machte sich auf den Weg zum Morgensalon. Stevie zögerte keine Sekunde. Noch etwas, was sie gelernt hatte – wenn man erst einmal den Plan in Gang gesetzt hatte, durfte man nicht zögern. Sich nicht umdrehen. Sie holte ihre Jacke und ihre Stiefel und ging langsam zurück auf die Toilette. Bloß nicht rennen.

Der Rest war leicht. Jacke an. Stiefel an. Rucksack auf. Dann stemmte sie sich hoch auf den Waschbeckenrand und stieg ohne große Schwierigkeiten aus dem Fenster.

Die Schwierigkeiten begannen erst, als sie auf der anderen Seite in einem knappen Meter Schnee versank. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, gleich wieder zurückzuklettern, aber das hier war ihre einzige Chance. Jetzt oder nie.

Also stapfte sie los. Zuerst nach Minerva.

Der Umweg durch den Garten, den sie nehmen musste, um von der Villa aus nicht gesehen zu werden, dauerte eine halbe Stunde anstatt der normalen fünf Minuten. Der Schnee klebte bleischwer an ihren Schuhen und Beinen. Die kalte Luft trocknete ihre Kehle aus, bis jeder Atemzug brannte und sie sich schließlich den Schal übers Gesicht zog. Als sie irgendwann keuchend Minerva erreichte, musste sie erst mal reingehen und sich ein paar Minuten aufwärmen. Sie huschte in ihr Zimmer, schlüpfte in eine weitere Schicht Kleider und hielt die Hände unter warmes Wasser.

Und wieder ab in den Schnee.

Tausendzweihundert Schritte nach Norden. Stevie holte ihr Handy heraus und schaltete die Kompass-App ein. Dann ging sie los und zählte dabei ihre Schritte.

Unter normalen Umständen waren tausendzweihundert Schritte nicht viel. In diesem Schnee jedoch kamen sie ihr vor wie zehn Kilometer. Schon nach den ersten zweihundert Schritten war sie komplett außer Atem, nach vierhundert nass geschwitzt. Sie musste die Jurte umrunden, dann den Kunstschuppen und beides irgendwie mit einberechnen.

Schneeblind, erschöpft und nach grob geschätzt tausendzweihundert Schritten blieb sie schließlich stehen. Kurz fragte sie sich, ob das alles nicht eine ziemlich dämliche Idee gewesen war, und sehnte sich zurück in die Villa, aber der Rückweg war ungefähr genauso weit, wie sie jetzt noch gehen musste. Dreihundert Schritte.

Dort, versteckt unter schneebedeckten Bäumen, wo keiner je hinging, stand eine Statue, die sie selbst noch nie gesehen hatte. Das allein wäre für Ellingham-Verhältnisse nun nicht unbedingt etwas Besonderes gewesen – das ganze Gelände war so voller Statuen, dass es wirkte, als wäre jemand im Gartendeko-Discounter in einen akuten Kaufrausch verfallen. Die Statuen waren wie Mülleimer oder Laternen; sie gehörten einfach zum Landschaftsbild. Bei diesem Exemplar handelte es sich um irgendeinen Griechen oder Römer in einer Toga, der eine dicke Mütze aus Schnee auf dem Kopf trug. Gelangweilt blickte er von seinem Sockel herunter.

»Okay«, sagte Stevie. »Auf Zehenspitzen.«

Nur, wie sollte sie so durch diesen Schnee kommen? Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hatte nun einen Blick auf die Knie der Statue.

Das war wohl nicht richtig.

Sie wandte sich Richtung Villa und versuchte es noch einmal. Nichts.

Vielleicht musste sie sich einfach mehr anstrengen. Sie hüpfte ein paarmal auf der Stelle. Trat gegen den Sockel der Statue, sodass eine Schneewolke aufgewirbelt wurde.

»Komm schon!«, zischte sie, drehte sich wieder um und sah hoch in den dunkler werdenden Himmel. »Irgendwas muss doch hier sein. Auf Zehenspitzen, auf Zehenspitzen …«

Erst als sie es laut aussprach, fiel plötzlich der Groschen. Damit stand Francis Albert Ellingham wirklich in nichts nach. Auf Zehenspitzen. Irgendetwas war mit den Zehenspitzen der Statue. Vielleicht musste man draufdrücken.

Sie wischte den Schnee beiseite, bis die nackten Füße des Steinmannes darunter zum Vorschein kamen, und tatsächlich, der linke große Zeh war leicht erhoben, als wollte die Figur einen Schritt nach vorn machen. Stevie beugte sich vor und entdeckte schließlich eine schmale Linie, die den Zeh vom restlichen Stein abtrennte. Sie streifte ihren Handschuh ab, ignorierte die beißende Kälte, packte den Zeh und drückte, drückte, drückte, bis er ein Stückchen nachgab.

Bevor sie allerdings Gelegenheit hatte, sich über ihren Erfolg zu freuen, tat sich der Boden unter ihr auf und sie stürzte in die Tiefe.