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13. April 1937

Ein sanfter Schauer ging auf die Ellingham-Villa nieder. Leonard Holmes Nair stand auf der von Nebel umwaberten Steinterrasse. Seine Hände und Schuhe waren mit Erde verschmiert; seine Hosenumschläge würden sich wohl nicht mehr retten lassen. Er wünschte sich, der Regen würde fortwaschen, was er dort unten im Tunnel gesehen hatte.

Leo war nicht mit auf dem Ausflug gewesen und hatte den ganzen Tag im Haus verbracht. Auf halbem Weg die Zufahrtsstraße hinunter hatte er sich, einem plötzlichen Impuls folgend, an Albert gewandt: »Halt doch bitte kurz an, ja? Mir ist auf einmal nicht ganz wohl. Vielleicht lege ich mich lieber ein wenig hin, wenn’s euch nichts ausmacht. Der kleine Spaziergang zurück wird sicher auch schon guttun.« Er stieg aus und ging auf einem Schleichweg durch den Wald zurück zum Haus.

Ein Gutes hatte Alberts Villa ja: Wenn man nicht gesehen werden wollte, ließ sich das leicht bewerkstelligen. Allein schon der schieren Größe wegen, aber die vielen kleinen Korridore und Nischen machten es zum reinsten Kinderspiel. George Marshs Wagen war fort, als Leo wieder am Haus eintraf, und fuhr erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder vor. Leo beobachtete, wie er zunächst die Wachmänner an die Grundstücksgrenze schickte und anschließend seinen seltsamen Ausflug in den Garten unternahm. Er wagte es nicht, ihm durchs Observatorium nach unten zu folgen, sah ihn jedoch eine Weile später völlig verdreckt wieder auftauchen, zu seinem Wagen gehen und mit einem sperrigen Gegenstand in den Armen denselben Weg zurücknehmen. Als er das nächste Mal wiederkam, war der Gegenstand verschwunden. Nachdem George Marsh sich ins Haus zurückgezogen hatte, stieg Leo hinunter in den Tunnel und schaute nach.

Jetzt war er wieder über der Erde, starr vor Schreck und kurz davor, sich zu übergeben. Er hatte soeben beobachtet, wie George Marsh Alice’ Leiche begraben hatte. Leo hatte schon öfter Tote gesehen; damals als Kunststudent hatte er hin und wieder medizinische Illustrationen angefertigt, um sich ein wenig Geld dazuzuverdienen. Er hatte Körperteile in Becken und Schalen studiert und Autopsien beigewohnt. Nach dem Krieg hatte er zudem das Pech gehabt, Zeuge gleich zweier Selbstmorde zu werden.

Aber dies hier war ganz anders, neu und absolut lähmend. Es war unbegreiflich und verlangte doch so unbedingt danach, begriffen zu werden.

Und so stand Leo nun auf der Terrasse, nass und zitternd unter dem Sichelmond, und überlegte, was zu tun sei. Wie verhielt man sich, wenn man sich mit jemandem, den man des Mordes verdächtigte, an einem abgelegenen Ort befand? Zwar waren irgendwo auf dem Gelände noch Wachmänner unterwegs, aber die waren weit weg. Montgomery schlief mit Sicherheit längst und war ohnehin nicht kräftig genug, um es mit jemandem wie Marsh aufzunehmen.

Es schien ihm am vernünftigsten, sich in Alberts Arbeitszimmer zu schleichen und von dort aus die Polizei zu verständigen. Dann würde binnen einer Stunde eine Hundertschaft hier sein. Und so lange musste er sich eben im Verborgenen halten.

Ja, das war die beste Lösung. Die Polizei verständigen. Und zwar schnell. Sich verstecken und abwarten.

Aber Leonard Holmes Nair war nun mal nicht dafür bekannt zu tun, was vernünftig war und auf der Hand lag. Er war nicht unbedingt ein Draufgänger, neigte jedoch dazu, wenig begangene Sonderwege einzuschlagen. Was auch immer George Marsh getan hatte – dahinter steckte eine Geschichte und die würde er niemals erfahren, sobald die Polizei ihn festgenommen hatte. Und es musste eine überaus komplizierte Geschichte sein, denn wenn George wirklich Alice’ Mörder war, warum hätte er sie dann hierher zurückbringen sollen? Fragen wie diese würden ihn bis an sein Lebensende umtreiben und diese Aussicht erschien Leo unerträglich.

Andererseits: Einen Mann, der noch nie vor körperlicher Gewalt zurückgeschreckt war und dessen Nerven derzeit sicherlich blank lagen, mit seinem Verdacht zu konfrontieren, war vermutlich auch keine gute Idee.

Was also sollte er tun?

Leo sah zum Mond hinauf, als erhoffte er sich Rat von ihm, doch der stand nur stumm am Himmel. Die Kälte kroch ihm durch die Kleider. Wenigstens wich ihm langsam der Geruch aus der Nase. Nie wieder würde er frisch umgegrabene Erde riechen können. Er war hinabgestiegen in die Unterwelt und für immer verändert von dort zurückgekehrt.

Er ging in Alberts Arbeitszimmer und schaltete die kleine Lampe mit dem grünen Schirm auf dem Schreibtisch an der Fensterseite ein. Wenn ihn nicht alles täuschte, bewahrte Albert in einer der Schubladen einen Revolver auf. Er zog an den Griffen, aber sie waren alle abgeschlossen. Also suchte er den Schreibtisch nach einem Schlüssel ab, verschob Papiere, Telegrammformulare, Stifthalter, warf einen Blick unter das Telefon. Dann ließ er Mackenzies weitaus ordentlicherem Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Zimmerseite dieselbe Behandlung zuteilwerden. Eine halbe Ewigkeit durchwühlte er so behutsam wie erfolglos den Raum, bis er sich schließlich erschöpft an den kalten Kamin lehnte. Die französische Uhr vermeldete tickend die vorgerückte Stunde.

Die Uhr. Leo hob sie hoch – sie war schwer, gut und gern zehn Kilo – und trug sie zu einem der Lesesessel. Dort drehte er sie auf den Kopf und tastete nach dem Mechanismus, den Albert ihm an jenem verschneiten Tag vor all den Jahren in der Schweiz gezeigt hatte. Seine langen Finger glitten über die Unterseite der Uhr, bis sie die unauffällige Vertiefung fanden. Er drückte darauf und die kleine Schublade sprang heraus. Darin lag eine kleine Sammlung loser Schlüssel.

»Albert, du Wahnsinniger«, raunte Leo und klaubte sie heraus. Nach mehreren Fehlversuchen hatte er schließlich herausgefunden, welcher Schlüssel zu welcher Schublade gehörte, und förderte einen kleinen, aber überaus zweckdienlich aussehenden Revolver samt Munition aus einer davon zutage. Leo hatte nie zuvor eine Waffe geladen, aber dieses Ding schien ihm einigermaßen selbsterklärend.

Fünf Minuten später trat er hinaus in die Eingangshalle, diese Kathedrale aus Reichtum und Leid. Seine Schritte hallten von all dem Marmor, Kristall und haufenweise glänzend poliertem Holz wider. Es erschien ihm klüger, Marsh rechtzeitig über sein Kommen in Kenntnis zu setzen; einen Mann, der gerade eine Leiche in einem Tunnel vergraben hatte, überraschte man besser nicht hinterrücks. Und so schlug er gehörig Lärm.

»Hallo!«, rief er. »Ich bin’s, Leo! George, sind Sie da oben?«

Innerhalb von Sekunden trat der Gerufene auf den oberen Treppenabsatz. Er trug nichts als eine Pyjamahose.

»Leo?«, fragte er. »Was machen Sie denn hier? Wie lange sind Sie schon wieder zurück?«

Seine Stimme verriet nichts, seine Frage dafür umso mehr.

»Ach, schon die ganze Zeit«, antwortete Leo. »Gott, ist das ein grässliches Wetter. Kommen Sie doch runter und trinken Sie etwas mit mir.«

George zögerte einen Augenblick und umklammerte die Brüstung. Dann sagte er: »Natürlich … gern.« Ohne den Blick zu heben, näherte er sich der Treppe. »Sind die anderen auch hier? Ich habe gar nichts gehört.«

»Nein.« Leo bemühte sich um einen lockeren Plauderton. »Mir war nicht ganz wohl, darum bin ich eher zurückgekommen. Hab den ganzen Tag im Bett gelegen. Aber jetzt bin ich aufgewacht und dachte mir, Sie hätten vielleicht Lust auf ein wenig Gesellschaft.«

Das war zugegebenermaßen eine etwas seltsame Art zu verkünden, dass man schon seit Stunden im Haus war, aber es musste reichen. Der Revolver in Leos Tasche schien immer schwerer zu werden. Ob er zu sehen war? Wahrscheinlich. Besser, er legte ihn weg.

»Kommen Sie in Alberts Arbeitszimmer!«, rief er und eilte voraus. »Das richtig gute Zeug bewahrt er dort auf.«

Hastig setzte er sich in den Sessel neben einem der Servierwagen und versteckte die Waffe hinter sich zwischen den Polstern, sodass die Mündung nach unten wies. Hoffentlich ging sie nicht einfach los. Aber so was passierte doch nicht im wahren Leben, oder?

»Seltsam, dass ich Sie gar nicht gehört habe«, sagte George erneut. »Wann genau sind Sie denn zurückgekommen?«

»Ach …« Leo winkte ab. »Eigentlich war ich gar nicht erst weg. Hab Albert gebeten, mich unten an der Straße rauszulassen. So ein ganzer Tag da draußen auf dem Boot, allein die Vorstellung …«

Er schüttelte sich, um anzudeuten, wie unerträglich er die Vorstellung fand.

»Ja.« George schien sich ein wenig zu entspannen. Er kam näher und goss sich aus einer der Karaffen Whiskey ein. »Geht mir genauso. Ein Drink ist jetzt gerade richtig.«

»Klug von Ihnen, auch hierzubleiben«, sagte Leo und nippte an seinem Glas. »Ein Albtraum, das Ganze.«

Wegen des Revolvers konnte er sich nicht zurücklehnen, also beugte Leo sich mit krummem Rücken vor, als hockte ihm der überstandene Tag auf den Schultern wie ein zentnerschwerer Affe. Einige Minuten lang saßen die Männer schweigend da und tranken, lauschten dem Regen, der gegen die Glastüren schlug, und dem Wind, der im Schornstein heulte.

Jetzt oder nie. Er konnte austrinken und einfach ins Bett gehen. Oder er konnte es wagen.

»George …«, sagte Leo.

»Hm?«

»Wissen Sie, ich … Nun ja, ich würde Sie gern etwas fragen.«

George ließ sich fast nichts anmerken. Ein kurzes Blinzeln. Ein kaum wahrnehmbares Mahlen des Kiefers.

»Nur zu.«

Leo schwenkte mit einer Hand sein Glas, während er die andere neben seinen Oberschenkel legte, von wo er rasch und unbemerkt den Griff erreichen konnte, wenn nötig.

»Ich habe gesehen, was Sie heute gemacht haben. Ich dachte mir, Sie würden es vielleicht gern erklären.«

Zunächst kam keine Antwort. Nur die Uhr tickte und der Regen prasselte.

»Was ich gemacht habe?«, wiederholte George schließlich.

»Draußen unter der Kuppel, im Tunnel.«

»Oh«, sagte George.

Oh wurde der Situation nun nicht gerade gerecht, fand Leo, aber wenigstens war ein Gespräch in Gang gebracht. George stieß gedehnt die Luft aus und beugte sich vor. Panik erfasste Leo und er wollte schon nach dem Revolver tasten, doch George stellte bloß sein Glas ab, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub für einen Moment den Kopf in den Händen.

»Ich hab sie gefunden«, sagte er.

»Offensichtlich«, erwiderte Leo. »Aber wo? Wie?«

George hob den Kopf.

»Ich hab meine Fühler in New York ausgestreckt«, erklärte er. »Bin verschiedenen Spuren gefolgt. Dann, vor einigen Wochen, kam ein vielversprechender Hinweis auf ein paar Ganoven, die angeblich mit der Ellingham-Geschichte geprahlt hatten. Also bin ich hingefahren und hab mich ein bisschen umgehört. Schließlich hab ich mir einen von den beiden Burschen vor einem Restaurant in Little Italy gepackt. Hat nicht lange gedauert, bis ich ihn zum Reden gebracht hatte. Er hat mir einen Ort genannt. Ich bin hingefahren. Und hab ihre Leiche gefunden.«

»Aber warum haben Sie denn nichts gesagt?«, wollte Leo wissen.

»Weil der Gedanke an Alice Albert am Leben hält«, erklärte George, der zusehends aufgebrachter wirkte. »Er hat sie zwar nicht bei sich, aber immerhin hat er diese Vorstellung von ihr – jemanden, nach dem er suchen und für den er Spielzeug kaufen kann. Was sollte er ohne das tun?«

»Damit abschließen und sein Leben endlich wiederaufnehmen«, sagte Leo.

»Oder es beenden. Das Kind ist sein Ein und Alles.« George schluckte. »Ich habe ihn an diesem Abend letztes Jahr im Stich gelassen. Ihn und Iris und Alice. Aber am Ende habe ich sie wenigstens gefunden. Und ich habe sie hergebracht, weil sie zu Hause sein sollte, nicht da, wo ich sie entdeckt habe, verscharrt in irgendeiner Wiese. Sie hatte es verdient, liebevoll bestattet zu werden. In der Nähe ihres Vaters.«

»In der Nähe ihres Vaters?«, wiederholte Leo.

»Albert«, sagte George. Doch das Beben in seiner Stimme verriet Leo alles, was er wissen musste.

»Flora hat es Ihnen also gesagt«, schlussfolgerte Leo.

George sackte auf seinem Sessel zusammen. Das Kinn sank ihm auf die Brust.

»Wie lange wollen Sie das geheim halten?«, fragte Leo. »Für immer? Bis er sein gesamtes Vermögen für die Suche nach ihr ausgegeben hat?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete George. »Ich weiß nur, dass es fürs Erste so am besten ist.«

»Und dann? Wollen Sie irgendwann sagen: ›Überraschung! Das erraten Sie nie – ich hab Ihre Tochter gefunden und hinten im Garten vergraben.‹?«

»Nein«, knurrte George. »Dann meinetwegen für immer. Ja, vermutlich. Solange Alice in seiner Fantasie lebendig ist, bleibt es zumindest ein Teil von ihm auch.«

»Und die Männer, die ihr das angetan haben?«

»Die sagen nichts mehr«, erwiderte George, so unmissverständlich, dass kein Nachfragen nötig war.

»Also«, fing Leo nach einer Weile wieder an und trommelte mit den Fingerspitzen auf seiner Armlehne, »ist der Fall aufgeklärt.«

»Ja.«

»Alice liegt hinterm Haus begraben.«

»Ja.«

»Und nur Sie und ich wissen davon.«

»Ja.«

»Und jetzt wollen Sie, dass ich mit Ihnen einen Schweigepakt eingehe.«

»Ja. Das Ganze muss ein Geheimnis bleiben.«

»Selbstverständlich«, sagte Leo.

»Und damit meine ich, zwischen uns beiden, Ihnen und mir. Niemand sonst darf davon erfahren. Auch nicht Flora.«

»Wie gesagt, das ist für mich selbstverständlich. Dieses Wissen will ich Flora auf gar keinen Fall aufbürden.«

»Also sind wir uns einig?«, vergewisserte sich George.

Leo rückte vorsichtig auf seinem Sessel nach vorn, spürte noch immer den Revolver in seinem Rücken. Einerseits war ihm klar, was es zu tun galt – er musste es jemandem sagen. Allen. Er musste die Polizei rufen.

Aber andererseits …

Es wäre nicht das erste Mal, dass er miterlebte, wie ein Mensch jegliche Hoffnung verlor, wie das Licht in seinen Augen erlosch. Albert Ellingham konnte sich fast alles kaufen, was er wollte, aber Hoffnung gehörte nicht dazu. Hoffnung war nicht mit Geld zu bezahlen. Hoffnung war ein Geschenk.

»Nun, ich würde sagen«, entgegnete er nach einem Moment, »dass man jetzt sowieso nichts mehr für Iris oder Alice tun kann. Kümmern wir uns lieber um die Lebenden.«

»Sie haben recht. Kümmern wir uns um die Lebenden. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar ganz froh, dass Sie Bescheid wissen.« George rieb sich über die Stirn. »Es war nicht leicht.«

»Tja, geteiltes Leid …«

Draußen fiel der Regen und die beiden Männer tranken weiter ihren Whiskey. Später, als Leo sich in sein Zimmer zurückzog, nahm er den Revolver mit. Warum, wusste er selbst nicht genau.