In ein Loch zu fallen ist einfach. Sollte jeder mal probieren. Man muss bloß den Boden verschwinden lassen und schon macht die Schwerkraft, was sie am besten kann.
Etwas Gutes hatte dieses Loch ja: Es war nicht furchtbar tief, zweieinhalb Meter vielleicht, und es gab keine Treppe, nur eine Art Erdrampe. Und diese rollte Stevie gerade hinunter, was ja schon mal besser war als ein freier Sturz. Nach fünf, sechs Metern kam sie unten an und blieb einen Moment liegen, bis alles aufhörte, sich zu drehen. Zum Glück hatte ihr Rucksack das Schlimmste abgefangen und ihren Kopf davor bewahrt, auf den Boden zu prallen. Der war zwar, wie gesagt, nur aus Erde, aber dafür hart und gefroren.
Sie tastete ihr Gesicht und ihren Hinterkopf nach Blut ab und fand keins. Puh. Trotzdem war ein unerwarteter Sturz aus zweieinhalb Metern Höhe eher suboptimal.
Stevie rappelte sich langsam auf, stemmte die Hände auf die Knie und schnappte nach Luft. Ihr tat alles weh, aber wenigstens schien nichts gebrochen zu sein. Sie kramte ihre Taschenlampe aus dem Rucksack hervor und trat damit zurück an die Rampe. Die offene Luke über ihr zeigte einen rechteckigen Ausschnitt des Himmels mit einem Schneerand. Eigentlich war es offensichtlich, dass sie dort nicht so ohne Weiteres wieder hochkommen würde, aber sie hüpfte dennoch ein paarmal und wäre dabei fast wieder die Rampe hinuntergerutscht. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, das Gott sei Dank unversehrt, aber natürlich ohne Empfang war. Wenn es schon an der Oberfläche keinen gab, dann wohl erst recht nicht in diesem Erdloch.
»Keine. Panik«, ermahnte sie sich selbst und die Worte hallten zu ihr zurück.
Ausnahmsweise war das hier, anders als so oft an der Ellingham, kein Tunnel, sondern eher eine Höhle – ein weiter, offener Raum unter der Erde mit rauen Felswänden, aus denen die interessantesten Steingebilde ragten. Okay, es war eiskalt. Und dunkel. Und sie war ganz allein. Aber sie hatte in letzter Zeit wesentlich Schlimmeres durchgemacht. Ein großes Erdloch mit einer offenen Luke war immer noch besser als ein kleines mit einer geschlossenen.
Man musste eben das Beste daraus machen.
Erfreulicherweise waren die Taschenlampen, mit denen die Ellingham ihre Schüler ausstattete, so lichtstark, dass man damit Fluglotse hätte spielen können. Stevie leuchtete in dem unterirdischen Raum umher und stellte fest, dass er hinter ihr noch gut und gern zwanzig Meter weiterging und dann nach links abknickte. Zögernd machte sie ein paar Schritte in die Richtung und ließ dabei den Lichtstrahl über den Boden schweifen. Dort lag so einiges herum: abgebrochene Schaufeln, eine Whiskeyflasche aus längst vergangener Zeit, ein Löffel, ein Kerzenstummel, ein paar Bretter, Bierflaschen und ein Tütchen Schrauben. Außerdem mehrere zusammengeknüllte Zeitungsseiten, brüchig und vergilbt, aber es gelang ihr, eine davon genug zu glätten, um das Datum darauf zu erkennen: 3. Juni 1935.
Ihre Verwirrung über den Sturz durch das Loch wich Verwirrung darüber, wo sie eigentlich gelandet war. Das hier war eine ziemlich unnatürlich-natürliche Höhle mit ihren vielen Stalagmiten und Stalaktiten, die eindeutig von Menschenhand gemacht waren. Alles wirkte so seltsam geordnet und symmetrisch. Vorsichtig tastete Stevie sich weiter vor, leuchtete mal nach unten, mal nach oben, um sich zu vergewissern, dass von keiner Seite Gefahr drohte. Vor ihr auf dem Boden glitzerte etwas und sie ging in die Hocke, um es näher zu untersuchen. Patronenhülsen – und zwar jede Menge. Die Wand darüber war ganz zerlöchert. Jemand hatte diesen Ort für Schießübungen genutzt. Immerhin deutete die Zigarettenschachtel, die sie ganz in der Nähe fand, darauf hin, dass das schon eine Weile her war.
Sie ging bis ganz nach hinten durch. In der Kurve befand sich eine Öffnung, etwa doppelt so breit wie eine normale Tür. Stevie blieb stehen, leuchtete mit ihrer Taschenlampe mal hierhin, mal dorthin und überlegte, wie riskant es wohl war, ihre Expedition fortzusetzen.
»Da reinzugehen wäre ganz schön dumm«, sagte sie laut.
Aber natürlich tat sie es trotzdem.
Und der Durchgang entpuppte sich als Portal in eine bizarre Fantasiewelt.
Der größte Teil des Raums, der sich vor ihr auftat, wurde von einem etwa mannstiefen Graben eingenommen. Dahinter lag eine goldene Gondel in Form eines Schwans auf der Seite, dessen Kopf in die Vertiefung hing. Je länger Stevie mit der Taschenlampe umherleuchtete, desto mehr halb fertige Details konnte sie ausmachen – weitere Tropfsteine, blaue Kacheln, Kabel, die einfach so aus der Wand ragten, aus Holz geschnitzte und grün bemalte Ranken. An der Rückwand befand sich ein Fresko von ein paar Frauen – oder wohl eher Göttinnen –, die hauchzarte Gewänder trugen und von ihren gold-roséfarbenen Wolken herabblickten.
Stevie schien durch den steingewordenen Traum eines verschrobenen Mannes aus der Vergangenheit zu wandeln.
Das musste der Schatz sein. Hier hatten Francis und Eddie sich getroffen. Und sofort entdeckte sie die ersten Hinweise darauf – massenhaft verschieden weit heruntergebrannte Kerzen, kreisförmig auf dem Boden angeordnet. Einen großen, offenbar abgerissenen roten Knopf, Zigaretten, mehrere Wein- und Ginflaschen und weitere Patronenhülsen.
Am Rand stapelten sich ein paar Säcke Zement und alte Holzkisten. Stevie kletterte versuchsweise auf eine der Kisten, um zu testen, ob sie ihr Gewicht tragen würde, aber sie war zu morsch.
Schließlich setzte sie sich in die Mitte des Kerzenkreises und ließ den Blick schweifen. Für einen Augenblick schien die Gegenwart zu verblassen und sie reiste zurück ins Jahr 1936. Hierher waren die beiden gekommen, um ungestört zu sein. Der Knopf stammte vermutlich von Francis’ Kleid oder Mantel. Dies hier war der Schatz, ein weiteres Geheimversteck unter der Erde. Ein weiterer Trip ins Nirgendwo. Ein absolut atemberaubender Fund, aber leider half er ihr kein bisschen weiter.
Licht. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas aufblitzen. Es war noch jemand hier. Rasch verschwand sie hinter einem der Felsen und wartete mit klopfendem Herzen ab. Jemand war ihr gefolgt, leise und unbemerkt. Sie schnappte sich eine der Schaufeln vom Boden. Keine besonders gefährliche Waffe, aber besser als nichts. Sie umklammerte sie mit beiden Händen wie einen Baseballschläger.
Das Licht kam näher. Ihr Verfolger hatte die Grotte betreten. Stevie spannte sämtliche Muskeln an, machte sich bereit zum …
»Hey! Hey! Stevie!«
Es war David.
»Was soll das denn werden?«, keuchte er. »Willst du mich erschlagen, oder was?«
»Was machst du hier?«, fragte sie, die Schaufel noch immer hoch erhoben.
»Na, was wohl? Ich hab gesehen, wie du zu der Statue gegangen und wie Rumpelstilzchen drum herumgetanzt bist, und mit einem Mal hat dich der Erdboden verschluckt. Was blieb mir denn anderes übrig? Willst du das Ding jetzt vielleicht mal runternehmen?«
Stevie blickte auf die Schaufel in ihren Händen, als müsste sie das erst mal mit ihr besprechen. Dann legte sie sie langsam hin.
»Und warum hast du dich dann so angeschlichen?«, wollte sie wissen.
»Hab ich doch gar nicht. Ich hab da oben wie bescheuert nach dir gerufen. Und als du nicht geantwortet hast, bin ich halt reingesprungen, weil ich dachte, du wärst vielleicht verletzt.«
»Ich hab nichts gehört.«
»Denkst du vielleicht, ich lüge?«, fauchte er. »Soll ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass ich mich in ein dunkles Loch hinter dir hergestürzt hab? Na, herzlichen Dank auch.«
Stevie hatte keine Ahnung, was sie denken sollte, außer dass Rufe in einer unterirdischen Grotte doch wohl von den Wänden widerhallen würden. Aber eigentlich wusste sie auch nicht, warum David sie deswegen anlügen sollte. Langsam beruhigte sich ihre Atmung wieder und sie trat hinter ihrem Fels hervor.
»Ich dachte, du wolltest mich ignorieren«, merkte sie an.
»Du warst auf einmal verschwunden.«
»Und da bist du mir gleich hinterhergerannt?«
»Nicht gerannt«, korrigierte er. »Draußen liegt Schnee. Und es war nur ein einziges Paar Fußstapfen zu sehen. Das krieg selbst ich mit meiner minderwertigen Schnüfflerkompetenz hin.«
»Okay«, seufzte sie.
»Okay?«
»Was soll ich denn sagen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nichts«, erwiderte er. »Sag einfach gar nichts.«
Anscheinend war Stevie gerade durch einen Test gerasselt, von dem sie nicht mal gewusst hatte, dass sie daran teilnahm, in einem Fach, das sie nicht kannte. Da verzog sie sich schon still und leise in ein Erdloch und was machte David? Kam ihr hinterher und hatte wieder was zu meckern.
David ließ seinen Taschenlampenstrahl durch den Raum wandern.
»Ich hab hier ja schon einiges durchgeknalltes Zeugs gesehen, aber das schießt echt den Vogel ab«, staunte er. »Wie bist du darauf gestoßen?«
»Ich hab ein Tagebuch gefunden«, erklärte sie. »Von einer Schülerin aus den Dreißigern. Dadrin stand eine Wegbeschreibung, der bin ich gefolgt. Die letzte Anweisung war, auf den Zeh dieser Statue zu drücken, und das hab ich gemacht. Und dann bin ich ins Loch gefallen. Schätze, es hatte bis dahin noch keiner hier entdeckt, weil die Leute nicht so oft auf Statuenfüßen herumdrücken.«
»Da sieht man mal wieder, wie stinkfaul unsere Generation ist«, kommentierte er. »Außer dir natürlich. Du ziehst mitten im Schneesturm los und gehst auf Statuenzehenjagd.«
Er kletterte in den Graben, um sich die umgekippte Schwanengondel und das Fresko näher anzusehen.
»Krasser König-Ludwig-Vibe hier unten.«
»Hä?«
»Als ich zehn war, ist mein Dad mal mit mir nach Deutschland geflogen«, sagte er. »Wenn ich nicht komplett danebenliege, haben sie hier etwas aus einem der Schlösser von Ludwig II. nachgebaut. Unterirdische Höhle, fette, antik aussehende Wandmalerei und ein goldener Kahn. Alles da. Und warum sollte man auch keine unterirdische Grotte mit ’nem schwanenförmigen Boot haben? Man gönnt sich ja sonst nichts, was?«
Während David sich weiter umsah, schwirrte Stevie noch immer der Kopf. Er war ihr durch den Schnee gefolgt und hatte unmöglich voraussehen können, wo sie hinwollte. Wie sollte er das alles geplant haben, wenn sie doch selbst nicht geahnt hatte, was passieren würde?
»Na los, lass uns mal gucken gehen, wie wir hier irgendwie wieder rauskommen«, schlug er dann vor.
»Vorher will ich aber noch was wissen«, erwiderte sie.
»Noch was?«
»Ich hab neulich in der Stadt ein paar von deinen Freunden kennengelernt«, erklärte Stevie. »Im Kunstkollektiv.«
David hob überrascht den Kopf. Das hatte er ganz offensichtlich nicht erwartet.
»Ach, da warst du? Witziger Haufen. Hast du Paul getroffen? Kommuniziert er immer noch über Marionetten?«
»Ich glaube, jetzt ist er gerade in so ’ner Art Schweigephase«, antwortete Stevie.
»Immer noch besser als Marionetten.«
»Bath – Bathsheba – hat gesagt, Ellie hätte ihr von der Botschaft erzählt, die in der Nacht vor Hayes’ Tod an meiner Wand aufgetaucht ist.«
»Wie oft denn noch: Ich hab dir keine Gruselnachricht in dein Zimmer projiziert.«
»Na ja, Ellie hatte das auf jeden Fall irgendwie mitgekriegt und außerdem klang es, als hätte sie gewusst, wer es getan hat. Wenn du es nicht warst und Ellie auch nicht, wer dann?«
»Ich hab keine Ahnung«, sagte er. »Du, es ist echt schon spät. Wir müssen langsam mal los, wenn wir hier rauswollen. Komm.«
Draußen musste es tatsächlich schon ziemlich dunkel geworden sein, denn als sie sich dem Ausgang näherten, war dort kein Licht mehr an der Stelle, wo sich die Luke befand, kein helles Rechteck schneeverhangenen Himmels. Und im nächsten Moment sickerte die grauenhafte Wahrheit zu Stevie durch. Sie wusste, was los war, noch bevor sie es richtig sah.
Die Luke hatte sich über ihnen geschlossen.