»Ähhhhhhm«, machte David.
Was die Situation ziemlich treffend beschrieb.
»Oh«, fügte Stevie hinzu.
Ebenfalls eine bestechend präzise Einschätzung.
Die Ellingham Academy hatte ein ernsthaftes Einkerkerungsproblem, so viel stand fest. Stevie fühlte eine Ader in der Nähe ihres Ohrs pochen, ein sicheres Zeichen dafür, dass eine Panikattacke im Anzug war. Eine Panikattacke derart monströsen Ausmaßes, dass sie die Welt wegwischen, Stevie in die Knie zwingen und sie unter sich zermalmen würde.
Sie wartete.
Die Ader pochte munter weiter, wie das nervige Bassgedröhn aus einem weit entfernten Auto. Doch die Panik blieb aus. Stevie richtete ihre Taschenlampe zur Luke und dann auf David, der selbst ein wenig blass um die Nase wirkte.
»Damit hab ich echt nicht gerechnet«, sagte er. »Die Luke geht doch nach innen auf.«
»Tja, passiert ist es trotzdem«, entgegnete sie. »Die Frage ist nur, wie?«
»Der Wind weht ziemlich heftig da oben«, merkte David an und leuchtete ebenfalls Richtung Luke. »Durch den Sog vielleicht?«
»Oder sie schließt sich automatisch«, vermutete Stevie. »Geheimnisvolle Grotte, geheimnisvolle Luke.«
»Aber sie hat gar keinen Griff auf dieser Seite«, sagte David zunehmend besorgt. »Warum hat sie innen keinen Griff? Wer baut denn bitte eine Luke, die man nicht öffnen kann? Wer macht so was? Das ist übel. Das ist richtig übel.«
Jetzt leuchtete er durch die Höhle, suchte den herumliegenden Müll ab. Schnappte sich einen abgebrochenen Schaufelstiel, reckte ihn, so hoch es ging, und drückte damit von unten gegen die Luke. Sie bewegte sich nicht. Er warf den Stiel weg.
»Beruhig dich«, sagte Stevie und bereute es sofort. Jemanden zu ermahnen, sich zu beruhigen, war so was von daneben. Aber David war so beschäftigt mit seiner Panik, dass er es sowieso nicht mitbekam.
»Wir müssen irgendwas unternehmen«, sagte er. »Nur durch Warten kommen wir nicht weiter. Bald wird’s eiskalt hier unten. Wir müssen das Ding aufkriegen und raus, verdammt noch mal.«
»Die Gondel.« Stevie legte ihm die Hand auf den Arm. »Die holen wir her und klettern darauf. Immerhin sind wir zu zweit, das ist besser als allein. Und wenn wir erst mal näher dran sind, finden wir vielleicht heraus, wie die Luke aufgeht.«
»Kann sein«, stieß er etwas atemlos hervor. »Ja. Okay.«
Stevie merkte, wie ihre eigene Panik ein wenig nachließ. Je aufgeregter David wurde, desto leichter fiel es ihr, einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit festen, entschlossenen Schritten ging sie zurück in die Grotte.
Zuerst versuchten sie mit vereinten Kräften, die Gondel aufzurichten. Doch der Schwan war tonnenschwer. Er schien komplett aus Metall und Beton zu bestehen – nicht unbedingt die geeignetsten Materialien, wenn man ein Boot bauen wollte. Also war die Gondel vermutlich nie zum Schwimmen gedacht gewesen, sondern bloß als Deko für Ellinghams verrückte unterirdische Liebesgrotte. So viel zu ihrem Plan, das Ding zur Luke zu tragen.
»Mann, ist das alles ein Mist!«, schimpfte David. »Ich will hier raus.«
Stevie sah sich um. Hier gab es so viel Kram – irgendetwas davon musste doch zu gebrauchen sein. Gut, die Stalaktiten und Stalagmiten konnten sie wohl kaum abbrechen. Die drei Säcke Zement waren über die Jahrzehnte steinhart geworden. Blieb nur noch der kleine Haufen Backsteine in der Ecke.
»Backsteine!«, rief sie entzückt, als handelte es sich um nette Partymitbringsel.
David richtete seine Taschenlampe auf den mickrigen Haufen.
»Zu wenig«, wandte er ein.
»Aber immerhin ein paar. Ein paar Backsteine sind besser als gar keine. Und wir sind zu zweit. Vielleicht kann ja einer draufklettern und dem anderen eine Räuberleiter machen.«
»Hm … vielleicht. Kann sein. Ja.«
Der Nachteil bei Backsteinen war allerdings, dass sie sich ziemlich schlecht transportieren ließen. Mehr als einer pro Hand ging nicht. Und leider stand in der Grotte auch nicht gerade zufällig eine Schubkarre herum.
»Dann müssen wir eben ein paarmal hin und her«, bemühte sich Stevie, zuversichtlich zu bleiben. »Wir können ja unsere Rucksäcke ausleeren und sie darin tragen.«
Nachdem sie ihre Rucksäcke mit jeweils zehn Backsteinen beladen hatten, traten sie ihre Reise zurück zur Luke an. David leuchtete ihnen den Weg.
»Lass uns doch mal ein bisschen spekulieren«, schlug Stevie vor, die sich noch immer betont gut gelaunt gab. »Angenommen, du hättest vor, Hayes was anzutun. Und hättest Sorge, ich, als zufällig anwesende Detektivin, könnte auf die Idee kommen, dass es kein Unfall war – wie es ja auch gewesen ist. Da würde es sich doch durchaus anbieten, mich als ein bisschen paranoid hinzustellen. Eine arme Irre, die nachts Drohbotschaften an ihrer Wand sieht.«
»Sind wir mit dem Thema immer noch nicht durch?«, stöhnte David. »Meinst du nicht, wir haben gerade dringendere Probleme?«
»Hör mir einfach mal zu. Da würden meine Ideen doch jedenfalls gleich weniger glaubwürdig wirken, oder?«
»Warum müssen wir denn ausgerechnet jetzt darüber reden?«
»Um uns zu beschäftigen«, schnaufte Stevie. Steineschleppen war ganz schön anstrengend.
»Tja, danke, aber da verzichte ich lieber. Wie wär’s, wenn wir uns nicht jedes Mal wenn wir allein sind, den Kopf über deinen Fall zerbrechen? Es muss sich doch nicht immer alles um Mord drehen.«
»Okay«, sagte sie.
»Wir müssen hier raus.«
»Wir arbeiten doch daran«, entgegnete Stevie.
»Hast du nicht auch langsam mal genug von diesem Scheißladen?«, schimpfte er. »Wer macht denn bitte so was? Wer baut so viele Tunnel und gefakte Grotten?«
Seine Worte hallten durch die Höhle und kehrten als Echo wieder zurück.
Stevie merkte, wie vor Kälte langsam ihre Muskeln steif wurden und sie anfing zu zittern. Sie musste sich zusammenreißen. Durfte nicht in Panik geraten, damit David es auch nicht tat. Und solange er bei ihr war, würde sie nicht in Panik geraten.
»Wusstest du, dass Disneyland auf einem Hügel erbaut ist, unter dem ein ganzes Tunnelsystem liegt?«, fragte sie im Plauderton.
David schwieg.
»Das ist dazu da, damit die Figuren immer nur am richtigen Ort auftauchen. Es will ja schließlich keiner ein Weltraummonster in der Westernstadt sehen.«
»Ein Weltraummonster?«, wiederholte David. »Warst du überhaupt schon mal in Disneyland?«
»Nö.«
»Echt nicht?«
»Viel zu teuer. Aber ich male mir halt gern meine perfekte Disney-Traumhochzeit aus, mit Weltraummonstern und, äh, Micky Maus oder so …«
Sie luden ihre zwanzig Backsteine am oberen Ende der Erdrampe ab.
»Lassen wir das mit dem Reden lieber«, riet er ihr. »Das hilft nicht.«
Sie gingen wieder zurück, um die nächste Ladung von dem deprimierend kleinen Steinhaufen abzuholen. Stevie war klar, dass sie mit dieser Aktion kaum etwas bewirken würden, aber sie öffnete trotzdem pflichtbewusst ihren Rucksack und packte die Steine hinein. Ihre Arme schmerzten vor Kälte.
»Oh«, sagte David.
Stevie sah hoch. David starrte auf den Steinhaufen. Oder nicht auf den Haufen selbst, sondern auf das, was darunter zum Vorschein kam. Mehrere Holzkisten mit der Aufschrift »LIBERTY POWDER CO., PITTSBURGH, PENNSYLVANIA. HOCHEXPLOSIVER SPRENGSTOFF – GEFAHR!«.
»Ist ja krass«, hauchte er.
Hastig räumte er die letzten Steine von den Kisten. Es waren insgesamt drei. Nach kurzer Suche fanden sie auch ein Bündel Kabel und Sprengkapseln.
»Glaubst du, das ist echt?«, fragte er.
»Auf jeden Fall«, antwortete Stevie. »Das muss der Schatz sein.«
»Der Schatz?«
»Francis – die mit dem Tagebuch – muss irgendwo Dynamit geklaut und hier gelagert haben.«
»Hier gab’s mal eine Schülerin, die Dynamit gesammelt hat? Und da machen die so einen Aufstand wegen ein paar Eichhörnchen in der Bibliothek?«
Eine Weile betrachteten sie den Haufen. Es war klar, wie es weitergehen musste, aber Stevie wollte nicht diejenige sein, die es aussprach.
»Ich sage jetzt etwas, was dir vermutlich nicht gefallen wird«, ergriff schließlich David das Wort.
Stevie schwieg.
»Also, das da ist echt ’ne Menge Dynamit«, fuhr er fort. »So viel brauchen wir gar nicht. Wahrscheinlich reicht schon eine Stange. Ich meine, guck doch mal – Sprengkapseln, Kabel, alles da, außer ’ner Zündmaschine mit Hebel zum Runterdrücken. Aber zum Zünden ist im Prinzip auch bloß ein elektrischer Impuls nötig. Vielleicht hab ich ja was in meiner Tasche …«
»Wir können doch hier kein Dynamit zünden«, protestierte sie.
»Klar können wird das. Noch nie ’nen Zeichentrickfilm gesehen?«
»Willst du uns umbringen?«
»Quatsch, das passiert schon nicht. Also, höchstwahrscheinlich nicht. Nur so ein, zwei Stangen, völlig harmlos.«
»Das ist Dynamit«, wiederholte sie. »Uraltes Dynamit. Damit jagen wir hier alles in die Luft.«
»Dynamit ist ein hochexplosiver Sprengstoff«, erklärte er und sah zu ihr hoch. »Das löst eine Druckwelle aus. Stell dir einfach eine Blase vor, die sich ausdehnt. Je weiter sie sich ausdehnt, desto größer wird ihre Oberfläche, und zwar im Quadrat zu ihrem Radius, was bedeutet, dass der Druck ebenfalls im Quadrat zu ihrem Radius abfällt. Und außerdem haben wir hier eine Wand dazwischen, das heißt, die Druckwelle muss um eine Ecke, was dank der Diffraktion zwar kein Problem ist, aber dabei verliert sie ordentlich an Energie. Kurz: So schlimm wird’s nicht.«
Stevie war zu perplex, um zu antworten.
»Janelle ist nicht die Einzige, die sich mit Physik auskennt«, bemerkte er knapp. »Kann sein, dass ich was dabeihabe, womit es klappen könnte. Warte mal, die Taschenlampenbatterie …«
Er schraubte seine Lampe auf.
»Neun Volt«, sagte er. »Dürfte funktionieren. Jetzt nur noch verkabeln.«
»Dynamit«, wiederholte Stevie. »Damit haben die hier alles weggesprengt. Den halben Berg.«
»Ja, aber dafür braucht man massenweise von dem Zeug«, beruhigte David sie. »Mit einer Stange löst man schon keine Lawine aus oder so. Glaub ich jedenfalls.«
»Glaubst du?«
»Nein!«, sagte er. »Nee. Vermutlich nicht. Nein. Wir sind hier ja auch gar nicht am Hang, was soll da schon runterkommen?«
»Höchstens das, was über uns noch vom Berg übrig ist.«
»Eine Stange«, beharrte David. »Ein winziges, kleines Dynamitchen. Ich denke echt, das krieg ich hin. Vertraust du mir oder nicht?«
Tatsache war, dass ihnen wohl sowieso nichts anderes übrig blieb. Es wurde immer kälter und dunkler und niemand wusste, dass sie hier unten eingesperrt waren.
Und außerdem, ganz insgeheim, vertraute sie ihm.
»Und wie soll das ablaufen?«, fragte Stevie.
Das Wie war ihr noch nicht ganz klar und die Vorstellung, dass Davids Plan zu großen Teilen auf Cartoons zu basieren schien, machte es nicht viel besser. Als Erstes legten sie die Kabel aus.
»Wir brauchen drei, um den Stromkreis zu schließen«, sagte David. »Die längsten sind wie lang, sechs Meter vielleicht? Auf jeden Fall nicht lang genug, um die Luke zu präparieren und uns dann hierher in Sicherheit zu bringen. Da muss ich wohl näher ran.«
»Wir müssen näher ran«, korrigierte Stevie.
»Es bringt doch nichts, wenn …«
»Wir«, wiederholte sie. »Ich erfriere ganz bestimmt nicht allein in diesem dämlichen Loch. Wir.«
Ein weiteres Problem war, dass sie das Dynamit nicht direkt an der Luke befestigen, sondern es lediglich darunterlegen konnten, in der Hoffnung, dass die Druckwelle stark genug sein würde. Und das bedeutete … mehr Dynamit.
Sie einigten sich auf zwei Stangen.
»Die sollten doch wohl ordentlich was wegpusten, oder?«, überlegte David.
»Ja, zum Beispiel die ganze Decke und uns darunter begraben.«
»Zum Beispiel, ja.«
David steckte die Sprengkapseln auf die Dynamitstangen und verband alles mithilfe der Kabel. Stevie traute sich kaum zuzusehen, vor Angst und weil sie außerdem den beunruhigenden Verdacht hatte, dass er hauptsächlich improvisierte. Schließlich kauerten sie sich hinter einen der kleinen Felsen. So wären sie zwar ziemlich nah dran an der Explosion, aber zumindest irgendwie geschützt. Zusammen wickelten sie sich in eine der Rettungsdecken, die Janelle ihnen so vorausschauend aufgedrängt hatte.
»Sicher, dass du nicht lieber hinten warten willst?«, fragte David jetzt.
»Bevor es losgeht«, erwiderte sie statt einer Antwort, »muss ich dir was sagen.«
»Ach herrje.«
»Ich hab ihn aufgeklärt.«
»Was?«
»Ich hab ihn aufgeklärt«, wiederholte sie schlicht. »Den Ellingham-Fall.«
»Du hast den Kriminalfall des Jahrhunderts aufgeklärt?«
»Ja.«
»Und, wer ist der Übeltäter?«
»George Marsh«, sagte sie ohne Umschweife. »Der Leibwächter, der erst bei der Polizei und dann beim FBI war.«
»Und … das war’s jetzt einfach? Bist du dir ganz sicher?«
»Ja, ich bin mir ganz sicher, aber einfach war es nicht, nein«, entgegnete sie. »Ich hab alles tausendmal gedreht und gewendet. Hab recherchiert wie eine Blöde. Ich hab auf dem Dachboden gesessen und Menüabfolgen und Speisekammerinventare durchgeackert.«
»Du … hast ihn echt aufgeklärt.«
»Mhm.«
»Und wer weiß davon?«
»Nate«, sagte sie.
»Nate.«
»Jepp. Nate.«
Er zögerte einen Moment.
»Okay«, meinte er dann. »Leuchtet ein.«
»So, und jetzt verrätst du mir, warum ich kein Tablet haben durfte«, verlangte Stevie.
David rutschte unbehaglich hin und her.
»Er ist dir schon einmal zu nahe gekommen«, erklärte er. »Ich wollte ihn nicht noch mal an dich ranlassen. Zufrieden?«
»So zufrieden, wie man in einem Erdloch sein kann, das man gleich mit altem, instabilem Dynamit in die Luft jagen wird.«
»Ach, übrigens«, fügte er hinzu. »Bevor du eben verschwunden bist, wollte ich dir eigentlich was zeigen.«
Er zog sein Handy aus der Tasche und öffnete eine E-Mail.
»Eine Antwort von Nennt-mich-ruhig-Charles an unseren jimaginären Freund«, sagte er.
Stevie las:
AN: jimmalloy@waehltedwardking.com
Heute 15:47 Uhr
VON: cscott@ellingham.edu
CC: jquinn@ellingham.edu
Sehr geehrter Mr Malloy,
natürlich können wir die Sorge des Senators nachvollziehen und sind ihm zudem überaus dankbar für seine Unterstützung dabei, die Sicherheitslage an unserer Schule zu verbessern. Im Anhang finden Sie eine Kopie von Albert Ellinghams Testamentsnachtrag. Wir dürfen hoffentlich darauf vertrauen, dass der Senator diese Information mit aller gebotenen Diskretion behandelt.
Zusätzlich zu den genannten Zuwendungen soll der Betrag von zehn Millionen Dollar treuhänderisch für meine Tochter Alice Madeline Ellingham verwaltet werden. Sollte sie nicht mehr am Leben sein, bestimme ich jede Person, Personengruppe oder Organisation, die Alice’ sterbliche Überreste ausfindig macht – vorausgesetzt, eine Verbindung zum Verschwinden meiner Tochter kann nachweislich ausgeschlossen werden –, zum Empfänger dieser Geldsumme. Sollte Alice bis zu ihrem neunzigsten Geburtstag nicht gefunden werden, darf das Vermögen nach Gutdünken des Vorstandes zugunsten der Ellingham Academy eingesetzt werden. Von dieser Regelung ausgenommen sind sämtliche Mitglieder des Lehrerkollegiums und der Verwaltung. Diese dürfen das Geld nicht für sich privat beanspruchen.
»Er ist echt«, flüsterte Stevie atemlos. »Den Nachtrag gibt es wirklich.«
»Sieht so aus.«
»Er ist echt«, wiederholte sie.
»Ja.«
Sie ließ den Kopf an die kalte Felswand hinter sich sinken und brach in Gekicher aus, das rasch zu einem nicht enden wollenden Lachkrampf anwuchs, bis sie kaum noch Luft bekam und anfing zu würgen. David konnte nicht anders als mitzulachen.
»Jetzt hast du, was du wolltest«, japste er schließlich. »Und, hilft dir das irgendwie weiter?«
»Nein.« Stevie riss sich mit Gewalt aus ihrer Hysterie und wischte sich die Augen.
Dann schmiegten sie sich aneinander. Stevie schlang die Arme um Davids Hüften und er tat umgekehrt dasselbe. Die Rettungsdecke raschelte.
»Ich hab übrigens beschlossen, dich nicht zu ignorieren«, sagte sie. »Mir egal, ob ich’s dir versprochen hab oder nicht.«
»Spielt sowieso keine Rolle mehr. Ich bin geliefert.«
Er öffnete eine weitere Nachricht auf seinem Handy.
Heute 14:24 Uhr
Wie sich herausgestellt hat, arbeitet neuerdings ein gewisser Jim Malloy für mich. Ich kann nur annehmen, dass du dahintersteckst. Außerdem scheinst du an die Ellingham zurückgekehrt zu sein.
Nur damit du Bescheid weißt: Mir ist bewusst, dass du an meinem Safe und unserem privaten Server warst. Falls du glaubst, ich würde keine rechtlichen Schritte gegen dich einleiten, irrst du dich gewaltig. Ein Mann, der derart in der Öffentlichkeit steht wie ich, muss ein Exempel statuieren. Mein Sohn erhält keine Sonderbehandlung. Du solltest noch einmal gründlich über dein weiteres Vorgehen nachdenken und darüber, was du dir von deinem Leben erwartest.
»Wuah-wuah-wuaaaah!«, imitierte David jetzt eine traurige Posaune. »Damit ist der Spaß wohl vorbei. Spätestens nach meiner Antwort darauf.«
Er zeigte sie ihr.
Heute 14:46 Uhr
Dein Erpressungsmaterial ist vernichtet. Von meinem Leben erwarte ich mir, dass es besser verläuft als deins, und das wird es jetzt auch. Leck mich.
»Da hast du ja nicht lange gefackelt«, merkte Stevie an.
»Nein«, sagte er. »Gab auch keinen Grund dazu. Aber ab jetzt wird er alles tun, um mir das Leben schwer zu machen.«
»Im Gegensatz zu vorher?«
»Auch wieder wahr«, räumte er ein.
Eine Weile lehnten sie schweigend nebeneinander an der Felswand.
»Warst du echt noch nie in Disneyland?«, fragte er.
»Nö.«
»Das müssen wir dringend ändern.«
»Wenn wir hier lebendig rauskommen, darfst du mich gerne dorthin einladen«, erwiderte sie. »Bereit?«
»Klar. Wieso auch nicht. Wollen wir?«
»Schätze, schon.«
David nahm die beiden losen Kabelenden und führte sie vorsichtig, ganz vorsichtig, zu den Polen der Batterie.
Stevie guckte hoch zu den dunklen Felsen und fragte sich, ob sie gerade alles in Zeitlupe erlebte. Vielleicht war sie ja schon längst tot. Vielleicht war alles vorbei und am Ende hatte die Ellingham sie doch verschlungen, genau wie Hayes und Ellie.
Dann knallte es – so laut, dass sie ernsthaft um ihre Trommelfelle fürchtete. Eine weiße Staubwolke schoss an ihnen vorbei und es roch verkohlt. Als Stevie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass sie sich mit aller Kraft an David klammerte, genau wie er sich an sie. Außer einem schrillen Klingeln in ihren Ohren konnte sie nichts hören und noch dazu schüttelte sie ein unkontrollierbarer Husten.
Aber sie waren am Leben. Von oben bis unten voller Staub und möglicherweise dauerhaft hörgeschädigt. Aber am Leben.
Sie standen auf und spähten zögernd um die Ecke. Unter der Luke lag ein Geröllhaufen, erleuchtet von einem schmalen Streifen Licht. Vorsichtig gingen sie näher heran. Die Explosion hatte ein Loch in den Boden gesprengt und die Wände waren rußgeschwärzt. Über ihnen wölbte sich die Luke nach oben – sie war nicht komplett offen, aber auch nicht mehr ganz geschlossen.
»Das war der Wahnsinn«, sagte sie.
»Ja! Ja, ja, ja!«
David wirbelte zu ihr herum und zog sie in eine stürmische Umarmung. Dann fing er an, auf und ab zu hüpfen, und Stevie hüpfte mit, einfach, weil es schwer war, nicht zu hüpfen, und das hier nun mal wirklich ein hüpfenswerter Moment war. Sie waren nicht frei, aber auch nicht mehr gefangen. Es war kalt, es schneite und sie standen in einem Loch unter der Erde.
»Wir kommen trotzdem nicht hier raus!«, rief David. »Wir stecken immer noch fest! Wir haben fast diesen Berg in die Luft gejagt und stecken immer noch fest! Wahrscheinlich erfrieren wir jetzt hier drin!«
Irgendwann wurde Stevie das Hüpfen zu langweilig und sie hörte auf. David ebenfalls. Eine Weile rangen sie beide nach Luft. Jetzt, nachdem ein kleines bisschen Licht hereinfiel, konnte sie ihn besser sehen.
»Und nun?«, fragte er.
Über ihnen ertönte ein Scharren. Ein Paar Hände packte den Rand der Luke und öffnete sie.
Dann erschien ein Gesicht über dem Loch.
»Germaine?«, stieß Stevie ungläubig hervor.