»Hey«, sagte Germaine. »Habt ihr die Luke hier gesprengt, oder was? Ich dachte mir doch, ich hätte so was gehört.«
Germaine Batt trug eine dicke Mütze und eine Skibrille. Als sie Letztere jetzt hochschob, hinterließ sie einen aggressiv roten Abdruck um ihre Augen. Ansonsten schien es sie nicht weiter zu schockieren, dass sie gerade möglicherweise Zeugin einer Explosion geworden war.
»Ich fasse es nicht, du bist echt hier! Ich könnte dich knutschen!«, rief David.
»Was?«
»Schon gut.«
»Habt ihr ein Seil?«, schrie Germaine zu ihnen hinunter.
»Nein«, antwortete David. »Wir hatten nämlich nicht vor, in dieses Loch zu fallen.«
»Okay. Wartet kurz. Ich bin gleich wieder da.« Als sie aufstand, sah Stevie, dass sie perfekt ausgerüstet war: Skijacke und -hose sowie zwei Skistöcke, um sich einen Weg durch den Schnee zu bahnen.
»Keine Sorge, wir gehen nirgendwohin!«, rief David. »Aber kannst du die Luke bitte auflassen? Wir sind jetzt doch ein klitzekleines bisschen paranoid, was den Aufenthalt in Erdlöchern angeht.«
Germaine setzte ihren Rucksack ab und klemmte ihn in die Luke.
David wandte sich verwundert Stevie zu. »Germaine.«
»Germaine.«
Schnee rieselte durch die Öffnung über ihnen, aber Stevie und David, die nicht bereit waren, ihr Himmelsfenster so schnell wieder aufzugeben, blieben stur darunter sitzen. So eng wie nur möglich drängten sie sich unter der Rettungsdecke aneinander. Die Kälte war jetzt so beißend, dass sie Stevie auf der Haut brannte. Allein die Anstrengung, sich warm zu halten, machte sie müde.
»Was wenn sie nicht zurückkommt?«, fragte David.
»Sie kommt schon zurück«, antwortete Stevie und stieß ihn in die Seite. »Wir reden hier immerhin von Germaine. Die lässt sich durch nichts aufhalten.«
Germaine kam zurück.
Sie hatte ein paar Laken dabei, die im Kunstschuppen vor Janelles Maschine auf dem Boden gelegen hatten, damit die Paintball-Geschosse nicht alles vollspritzten. Sie machte in regelmäßigen Abständen Knoten hinein und band sie dann alle aneinander. Ein Ende schlang sie um die Statue und ließ das andere zu ihnen herunter. David zog ein paarmal prüfend daran und nickte.
»Du zuerst?«, bot er Stevie an. »Dann fang ich dich auf, wenn du fällst.«
Eine solche Kletterpartie hatte Stevie noch nie unternommen. Ihre Hände waren taub vor Kälte und ihre Füße rutschten immer wieder von den Knoten ab. Aber sie war fest entschlossen, aus diesem Loch herauszukommen, und fand tatsächlich irgendwie die Kraft, sich hochzuziehen. Wenn sie es nicht mehr weiterschaffte, spürte sie, wie David ihr von unten Anschub gab. Das letzte Stück half ihr Germaine hinauf in den tiefen Schnee. Sie krabbelte aus der Öffnung wie aus einem Grab. Nach der Dunkelheit der unterirdischen Grotte war sie so gut wie blind in all dem grellen Weiß. Auch die Kälte war überwältigend. Jetzt folgte David und Germaine und Stevie zogen ihn mit vereinten Kräften durch die Luke.
Gemeinsam stapften sie zurück zur Villa. Sie hatten nicht mal mehr Angst davor, Ärger zu kriegen – solche Sorgen waren wie in weite Ferne gerückt. Und tatsächlich warf Pix ihnen bloß einen erschöpft-resignierten Blick zu, als sie sich klatschnass und voller Schnee durch die Tür schleppten.
»Da seid ihr ja wieder«, sagte sie. »Und ihr habt … Germaine dabei.«
»Hallo«, grüßte Germaine.
Pix schüttelte den Kopf.
»Seht zu, dass ihr euch aufwärmt.« Sie deutete auf den Kamin. »Ich geb’s auf.«
Es ist schon seltsam mit der Kälte. So richtig spürt man sie erst, wenn einem wieder warm wird. Kaum, dass Stevie vor dem Feuer stand, fing sie an, unkontrolliert zu zittern. Ihre Hände und Füße taten höllisch weh.
»W-w-was machst du hier?«, presste sie durch klappernde Zähne hervor.
»Ihr wart n-n-nicht im Bus«, bibberte Germaine zurück. »Da d-d-dachte ich mir, dass was nicht stimmt. Hab beim n-n-nächsten Halt den Bus zurück genommen. Dem Fahrer hab ich gesagt, ich hätte was v-v-vergessen. Und dann b-b-bin ich hiergeblieben. War ganz leicht. Ich hab meinen Eltern einfach geschrieben, d-d-dass ich nicht nach Hause komme.«
»Und d-d-das reicht denen?«, fragte Stevie.
»Meine Eltern v-v-vertrauen mir.«
Stevie und David starrten sie verständnislos an.
»W-w-wie ist das so?«, wollte David wissen.
Germaine zuckte mit den Schultern.
Jetzt kamen auch die anderen, um die aus dem Schnee Zurückgekehrten willkommen zu heißen. Alle waren überrascht, Germaine Batt bei ihnen zu finden. Sie hatten jede Menge Fragen, doch noch war keiner der drei bereit, sie zu beantworten. Stevie und David waren noch immer voller Staub und husteten. Das Klingeln in Stevies Ohren hatte zwar nachgelassen, aber verschwunden war es nicht.
Und plötzlich kam die Angst.
Angst fragt nicht um Erlaubnis. Angst kommt nicht, wenn man darauf vorbereitet ist. Stattdessen platzt sie im unpassendsten Moment herein und drängt sich gnadenlos in den Vordergrund. Sie saugt einem die Luft aus der Lunge und legt einen Verzerrer über die Welt. Plötzlich tanzten bunte Punkte an den Rändern von Stevies Blickfeld. Das Fiepen in ihren Ohren wurde wieder lauter. Dann gaben ihre Knie unter ihr nach.
»Stevie?«, fragte irgendjemand. Wer, wusste sie nicht.
Taumelnd entfernte sie sich von den anderen. Die Villa verwandelte sich in eine hässliche Karikatur ihrer selbst. Der Kamin war ein feuerspeiender Schlund. Die Gesichter ihrer Freunde kamen ihr auf einmal fremd vor. Alles rauschte an ihr vorbei, bis sie schließlich selbst von der Strömung mitgerissen wurde.
»Wo ist deine Medizin?« Janelle kniete sich neben sie.
Ihre Medizin war in einem Erdloch. Sie hatte alles aus ihrem Rucksack geräumt, um Platz für die Backsteine zu schaffen. Das hier musste sie wohl ohne Hilfe überstehen.
Sie starrte auf die große Treppe ihr gegenüber. Ihre Therapeutin hatte es ihr immer wieder eingebläut: An Angst war noch niemand gestorben. Es fühlte sich zwar so an, aber das war bloß eine Illusion. Eine schreckliche Illusion, die einem die Kontrolle über den eigenen Körper entriss und ihn in ihre Marionette verwandelte. Die einem weiszumachen versuchte, dass nichts mehr eine Rolle spielte, weil sowieso alles nur aus Angst bestand.
»Scheiß drauf«, stieß sie mühsam hervor.
Ohne zu wissen, warum, stolperte sie auf die Treppe zu.
»Hey, warte mal.« Janelle hielt sie am Arm fest. »Vielleicht solltest du dich lieber hinsetzen.«
»Treppe«, würgte sie hervor. Das Wort platzte aus ihrem Mund wie eine merkwürdige Seifenblase.
»Treppe«, wiederholte Janelle. »Okay, von mir aus. Nate, nimm mal ihren anderen Arm. Wir helfen dir.«
Wo sucht man das, das nie wirklich ist da? Flankiert von ihren Freunden stieg Stevie die Treppe hoch.
Die Ellinghams erwarteten sie auf dem Absatz. Auf der Treppe, nicht Stufe. Das war doch klar. Sie brauchte etwas, woran sie sich klammern konnte – irgendetwas, worauf sie ihre Konzentration richten konnte. Ein Rettungsanker. Die Ellinghams. Darum war sie hier. Albert. Iris. Alice. Immer wieder sagte sie im Geiste die Namen auf. Leonard Holmes Nair hatte die drei in diesem bizarren Gemälde für die Ewigkeit festgehalten, hatte nachträglich die Kuppel des Observatoriums und den Mond hinzugefügt, dessen Strahlen …
Wo suchte man jemanden, der überall sein konnte?
Die Frage ploppte in einer Nische ihres Hirns auf und lenkte sie für einen Moment ab.
Die Kleine ist …, hatte Fenton am Telefon gesagt. Die Kleine ist … Wo war die Kleine? Wenn George Marsh der Schuldige war, hatte er sie dann womöglich zurück nach Hause gebracht? Was wenn er sie aus schlechtem Gewissen irgendwo begraben hatte? Was wenn Alice in dem Tunnel war und …?
Wieder richtete Stevie ihren Blick auf das Gemälde, zwang sich, jedes Detail in sich aufzunehmen. Der Mond. Sein heller Strahl deutete genau auf die Stelle, wo der zugeschüttete Tunnel war. Und die Form des Lichtscheins – die erinnerte vage an …
»Hey«, versuchte David, der nun ebenfalls zu ihnen getreten war, sie zu beruhigen. »Alles gut. Ist bloß ein bisschen Panik.«
»Klappe«, sagte sie. Sie konnte nicht erklären, was sich in ihrem Kopf abspielte, diese verzwickte Textaufgabe, deren Lösung sich gerade in irgendeinem Hinterstübchen ihres Hirns zusammensetzte. Alice war hier begraben. Sie war hier. Die Kleine war hier.
Eines nach dem anderen reihten sich die Einzelteile aneinander. Und mit einem Mal ergab das Ganze einen Sinn. Alles. All die Fakten, die zuvor willkürlich vom Himmel gefallen und in ihrem Gehirn geschmolzen waren wie Schnee, begannen, sich zu verfestigen und zu sortieren. Der Tunnel. Die Bauarbeiten. Hayes im Tunnel … Fenton …
»Jetzt kapier ich.« Sie wandte sich David zu und spürte, wie ihre Augen sich weiteten.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich besorgt.
»Dein Handy!«, stieß sie hervor. »Gib her.«
»Warum?«
»Bitte.«
Irgendetwas in ihrem Tonfall musste ihn überzeugt haben. Er musterte sie verwirrt, zog aber sein Handy aus der Tasche und reichte es ihr. Sie scrollte, bis sie fand, was sie suchte.
Da war er – der eine schiefe Ton.
Natürlich war es kein Zufall, dass es auf diese Weise endete. Sie hatte so viel Mühe in die Sache gesteckt, jahrelang alles darüber gelesen. Sie hatte es an die Ellingham geschafft, hatte eine Detektivin aus sich gemacht. Hatte durch harte Arbeit, Stürze in Erdlöcher und Wanderungen durch finstere Tunnel genau diesen Moment heraufbeschworen. Es wurde Zeit, die Verdächtigen zusammenzurufen, genau wie am Ende eines jeden guten Krimis.
»Hol die anderen her«, forderte sie David auf. »Alle, die im Haus sind.«
»Warum?«, fragte er wieder. »Was ist denn los? Geht’s dir gut?«
Sie sah ihn an. Ihre Panik war verflogen, ihr Blick absolut klar, ihre Welt zurück in den Fugen.
»Es wird Zeit, ein paar Morde aufzuklären«, sagte sie.