BOMBENTOD VON ALBERT ELLINGHAM: ANARCHISTEN UNTER VERDACHT
New York Times
Polizei und FBI haben bei den Ermittlungen zum Tode Albert Ellinghams und des FBI-Agenten George Marsh eine Anarchistengruppe im Visier.
»Der Anschlag könnte als Rache für den Tod von Anton Vorachek zu werten sein«, so FBI-Agent Patrick O’Hallahan. »Wir verfolgen derzeit verschiedene Spuren. Und wir werden nicht ruhen, bis die Schuldigen gefasst sind, darauf können Sie sich verlassen.«
Vorachek, der für die Entführung von Iris und Alice Ellingham sowie den Mord an Iris Ellingham und Dorothy Epstein schuldig gesprochen worden war, wurde unmittelbar nach seiner Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude erschossen. Der Schütze konnte unerkannt entkommen.
Albert Ellingham hatte schon früher häufig Morddrohungen erhalten. Er und George Marsh hatten sich kennengelernt, nachdem Letzterer ein geplantes Bombenattentat gegen Ellingham aufgedeckt und verhindert hatte. Zum Dank für seine Dienste stellte Ellingham Marsh, der bis dahin bei der New Yorker Polizei gearbeitet hatte, als Leibwächter ein. Nach Marshs Wechsel zum FBI bat Ellingham Direktor J. Edgar Hoover persönlich darum, Marsh in der Nähe seines Wohnorts, der neu gegründeten Ellingham Academy, in Vermont zu stationieren. Doch auch diese Vorsichtsmaßnahmen konnten die Entführung von Iris und Alice Ellingham nicht verhindern …
Leonard Holmes Nair schob die Zeitung beiseite, aber darunter lag direkt die zweite.
ALBERT ELLINGHAM AUF SEINEM ANWESEN IN DEN BERGEN BESTATTET
Boston Herald
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde heute Albert Ellingham auf seinem Anwesen in den Vermonter Bergen nahe Burlington beigesetzt. Mr Ellingham kam am 30. Oktober bei einer Bombenexplosion auf seinem Segelboot ums Leben. Mit ihm starb George Marsh, ein Agent des FBI. Den Ermittlern zufolge besteht der Verdacht, dass die beiden Männer Opfer eines Anarchistenattentats wurden. Die Beerdigung …
Leo trat mit seiner Kaffeetasse ans Fenster des Frühstücksraums und blickte hinaus in den Wirbel von Herbstfarben.
Diese Beerdigung war eine einzige Lüge.
Es waren gerade einmal genug Teile gefunden worden, um die Toten anhand von Fingerabdrücken zu identifizieren, und der Zustand der Finger hatte darauf hingedeutet, dass ihre Besitzer nicht mehr am Leben waren.
»Viel war da nicht mehr«, hatte einer der Ermittler Leo gestanden. »Drei Hände, ein Bein, ein Fuß, ein paar Hautfetzen …«
Was genau passiert war, konnte die Polizei nicht rekonstruieren, nur, dass der Sprengstoff sich vermutlich am Heck des Boots befunden hatte. Albert und George waren damit auf den See rausgefahren und nicht mehr zurückgekommen. Sie waren mit allergrößter Wahrscheinlichkeit tot, aber mehr ließ sich dazu nicht sagen.
Iris hatte Familie gehabt, Albert nicht – oder zumindest nicht, soweit irgendjemand wusste. Trotz seiner vielen Angestellten und unzähligen Bekannten waren die einzigen Menschen, die er je wirklich als Freunde betrachtet hatte, Leo und Flora sowie Robert Mackenzie, sein Privatsekretär und enger Vertrauter. Und nachdem Alberts sterbliche Überreste sich noch immer in der Leichenhalle der Polizei befanden, oblag es nun diesen dreien, die makabre Fassade einer Trauerfeier in der Ellingham-Villa aufrechtzuerhalten.
Am Ende war kaum mehr von ihm geblieben als Papierkram und ein paar Sachen, die es zu verstauen galt. Wie zuvor schon Iris wurde nun auch Albert in Stapel und Kisten sortiert. Ein so bedeutsames Leben – reduziert worauf?
Leo überlegte, ob er weiter an seinem Familienporträt arbeiten sollte. Das war eigentlich seine einzige Aufgabe hier, da schien es ihm nur richtig, sie zu vollenden. Im Augenblick stand die Leinwand mit einem Laken verhängt im Morgensalon. Ein paarmal hatte Leo bereits die Tür geöffnet und sie dort warten sehen wie einen im Sonnenschein erstarrten Geist. Doch er ertrug den Anblick nicht, genauso wenig wie das warme Licht und die Geräusche des verlassenen Hauses. Die Ellingham-Villa war ein Ort für Feste, für eine Familie und Freunde – das Herzstück einer Schule, die nun ausgestorben dalag.
Das alles war schwer auszuhalten, also beschloss Leo, den Morgen in Albert Ellinghams Arbeitszimmer zu verbringen, einem der wenigen Räume hier, in dem die Stille berechtigt schien. Obwohl das Zimmer sich über zwei Stockwerke erstreckte, mit einer ringsum laufenden Galerie voller Bücherregale, verliehen ihm Teppiche, Ledersessel und das prasselnde Feuer im Kamin ein Gefühl von Gemütlichkeit. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und dämpften das Licht. Auf dem Kaminsims stand die grüne Marmoruhr, die Albert gekauft hatte, als sie zu Alice’ Geburt in der Schweiz gewesen waren.
»Guten Morgen«, sagte Robert Mackenzie, der gerade ins Zimmer kam. Er war ein höflicher, ernster und überaus pflichtbewusster junger Mann, aber das nahm Leo ihm nicht übel.
»Hier ist noch eine Menge zu tun«, bemerkte Mackenzie. »Ich würde mir jetzt den Schreibtisch vornehmen und die Sachen nach oben bringen lassen. Ich hoffe, das stört Sie nicht.«
Leo, der noch nie irgendwelche Hemmungen gehabt hatte, anderen Leuten bei der Arbeit zuzusehen, während er selbst dem Nichtstun frönte, nickte gnädig. Mackenzie ging zu Alberts Schreibtisch und begann, Briefpapier, Tintenfässer, Stifte und Notizen zu sortieren. Ihn dabei zu beobachten hatte für Leo etwas angenehm Einschläferndes.
»Entschuldigen Sie«, meldete sich Mackenzie nach einer Weile abermals zu Wort und hielt eine kleine Schachtel mit dem Aufdruck »Webster-Chicago-Aufnahmedraht« hoch. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich kurz überprüfe, was hier drauf ist? Es scheint, als hätte Mr Ellingham sich die Aufnahme an jenem Morgen angehört, und ich wüsste gern, worunter ich sie einordnen soll.«
»Nur zu«, sagte Leo.
Mackenzie trat zu einem Gerät an der Wand, hob die schwere Abdeckung an und legte die Drahtspule ein. Kurz darauf erfüllte Albert Ellinghams sonore Stimme den Raum und Leos Magen zog sich zusammen.
»Setz dich doch, Dolores.«
Die hohe, klare Stimme eines jungen Mädchens antwortete. Sie sprach mit starkem New Yorker Akzent.
»Dahin?«
»Genau. Und beug dich bitte ein bisschen zum Mikrofon vor. Gut so. Und jetzt kannst du ganz normal sprechen. Ich würde dich gern ein wenig über deine Erfahrungen hier an der Ellingham befragen. Ich möchte einige Aufnahmen über die Schule produzieren –«
Mackenzie schaltete das Gerät wieder aus und Albert verstummte. Ein Surren ertönte, als er den Draht zurückspulte. Dann legte er die Spule zurück in die Schachtel.
»Dolores«, sagte er dann. »Vielleicht wollte er ja ihre Stimme noch einmal hören. Er hatte so ein schlechtes Gewissen ihretwegen. Sie muss ein außergewöhnliches Mädchen gewesen sein.«
Leo wusste keine Antwort darauf und eine Weile herrschte Schweigen, durchbrochen nur vom Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Irgendwann räusperte sich Mackenzie und legte die Schachtel mit der Aufnahme zu den anderen Sachen in die Kiste.
»Und in dem Buch, das sie gelesen hat, wollte er offenbar auch noch einmal blättern«, fügte Mackenzie hinzu und deutete auf das Exemplar von Die Abenteuer des Sherlock Holmes, das auf dem Schreibtisch lag. »Das hatte sie bei sich, als sie gestorben ist. Wahrscheinlich sollte ich es zurück in die Bibliothek bringen. So hätte er das gewollt. Jedes Buch an seinem Platz …«
Er hielt inne und blieb einen Moment wie erstarrt stehen, den Zeigefinger auf dem Buch. Sein Blick ging ins Leere. Wieder hatte die tickende Uhr das Wort. Leo begann, unbehaglich auf seinem Sessel hin und her zu rutschen. Vielleicht sollte er lieber eine Tasse Tee trinken gehen.
»Es gibt da etwas, das mir Kopfzerbrechen bereitet«, redete Mackenzie dann weiter. »Ich würde gern mit jemandem darüber sprechen. Aber Sie müssen mir versichern, dass die Sache unter uns bleibt. Was ich Ihnen erzähle, darf diesen Raum niemals verlassen.«
Leo ließ sich zurück in den Sessel sinken und blickte sich reflexartig um, aber natürlich waren sie allein.
»An dem Morgen, bevor er in das Boot gestiegen ist«, begann Mackenzie, »da stimmte etwas nicht. Ich kann nicht richtig erklären, was es war. Er hatte ein Rätsel verfasst, was ich zunächst als gutes Zeichen gewertet habe. Und dann hat er mir das Versprechen abgenommen, nach draußen in die Sonne zu gehen und mich zu amüsieren. Jetzt kommt es mir vor, als –«
Mackenzie unterbrach sich.
»Als?«, hakte Leo nach.
»Als hätte er schon gewusst, dass er nicht zurückkommen würde«, sagte Mackenzie, dem dies selbst gerade erst klar zu werden schien. »Und dann noch dieser Testamentsnachtrag.«
Er kramte kurz in einer der Schreibtischschubladen herum und förderte dann ein juristisches Dokument zutage, das er sogleich Leo reichte.
»Es geht um den Anfang.«
»›Zusätzlich zu den genannten Zuwendungen‹«, las Leo vor, »›soll der Betrag von zehn Millionen Dollar treuhänderisch für meine Tochter Alice Madeline Ellingham verwaltet werden. Sollte sie nicht mehr am Leben sein, bestimme ich jede Person, Personengruppe oder Organisation, die Alice’ sterbliche Überreste ausfindig macht – vorausgesetzt, eine Verbindung zum Verschwinden meiner Tochter kann nachweislich ausgeschlossen werden – zum Empfänger dieser Geldsumme. Sollte Alice bis zu ihrem neunzigsten Geburtstag nicht gefunden werden, darf das Vermögen nach Gutdünken des Vorstandes zugunsten der Ellingham Academy eingesetzt werden. Von dieser Regelung ausgenommen sind sämtliche Mitglieder des Lehrerkollegiums und der Verwaltung. Diese dürfen das Geld nicht für sich privat beanspruchen.‹«
»Er war bei absolut klarem Verstand«, kommentierte Mackenzie, »doch sein Herz war gebrochen – das muss ihn hierzu getrieben haben. Ich weiß nicht, wo Alice ist, aber falls sie wirklich irgendwo da draußen sein sollte …«
»… wäre das hier alles andere als hilfreich«, fasste Leo Mackenzies Sorge in Worte. Er legte das Dokument weg, trat ans Fenster und zog den Vorhang auf, sodass die Grube, die einst der See gewesen war, dahinter sichtbar wurde. Jene offene, nässende Wunde, aus der die Kuppel des Observatoriums hervorragte wie ein Geschwür.
Er könnte Mackenzie die Wahrheit sagen, ihm verraten, dass Alice hier war und begraben im Tunnel lag. Dann wäre er endlich dieses entsetzliche Geheimnis los. Aber was würde es bringen? Alice würde exhumiert werden und es gäbe ein Medienspektakel. Ihr kleiner Körper würde fotografiert, betatscht und seziert werden. Dabei hatte sie doch bereits genug durchgemacht. Leo hatte noch nie in seinem Leben so etwas wie Vatergefühle empfunden, jetzt jedoch regte sich in ihm der übermächtige Drang, Alice zu beschützen. Sie war zu Hause.
»Vernichten darf ich das Dokument nicht«, fuhr Mackenzie fort. »So gerne ich es täte. Es ist rechtlich bindend. Aber es darf auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen. Dann würde Chaos ausbrechen und das würde uns die Suche nach Alice nur erschweren. Ich weiß einfach nicht, was ich damit anfangen soll.«
»Geben Sie her.« Leo wandte sich vom Fenster ab und streckte die Hand aus.
»Dass Sie es vernichten, kann ich genauso wenig zulassen.«
»Das habe ich auch nicht vor.«
Mackenzie zögerte kurz, dann aber händigte er Leo das Dokument aus. Der ging damit zum Kamin und griff nach der grünen Uhr auf dem Sims. Behutsam drehte er sie um und drückte in die Vertiefung am Boden, um die versteckte Schublade zu öffnen. Er faltete das Dokument mehrere Male, bis nur noch ein kleines Rechteck übrig war, steckte es in die Schublade und schob sie zu.
»So ist es sicher zusammen mit Albert Ellinghams restlichen Besitztümern verwahrt«, verkündete er.
Mackenzie nickte. »Danke«, sagte er. »Dann werde ich die Sachen jetzt nach oben schaffen.«
Als Mackenzie weg war, durchzuckte Leo plötzlich eine nervöse Energie. Er verließ das Arbeitszimmer und ging durch die gigantische Eingangshalle zum Morgensalon. Dort trat er vor die Staffelei, riss das Laken herunter und betrachtete sein Werk – Iris, eingefangen an einem Nachmittag, der noch nicht lange zurücklag, fröstelnd und auf Kokainentzug. Er hatte sie, Albert und Alice getrennt Modell sitzen lassen, aber nun waren sie alle zusammen vor dem Hintergrund der Villa verewigt. Die Figuren waren in Ordnung, befand Leo, doch alles andere musste weg.
Er schleifte die Staffelei samt Leinwand nach draußen auf die Steinterrasse und stellte sie so auf, dass er beim Malen Blick auf den trockenen See mit dem Observatorium hatte. Auf Alice’ Grab. Mit ein paar raschen, ausladenden Pinselstrichen überdeckte er das Haus und ersetzte es im Laufe des Tages durch die Kuppel und einen aufgehenden Mond. Er schlitzte den Himmel auf, ließ die Farben daraus hervorquellen und zusammen mit ihnen seine Wut und Trauer und das Geheimnis, das sich tief in seine Eingeweide gefressen hatte. Iris’ Hand ließ er genau auf die Stelle deuten, an der Alice begraben lag. Dem Mondstrahl, der darauf herabschien, verlieh er vage die Form eines Grabsteins. Zumindest das konnte er für sie tun, auch wenn es kaum mehr als eine leere Geste war. Er arbeitete die ganze Nacht durch, machte nicht einmal zum Essen Pause, bloß um die Staffelei wieder ins Haus zu bringen, ans Feuer.
Im Morgengrauen war es vollbracht und die Familie Ellingham blickte ihn aus dieser wie eine Halluzination wirkenden Szenerie an – in Rätsel gehüllt, aber vereint.