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26

Der Ballsaal der Ellingham Academy hatte Platz für einhundertundein Tanzpaare. So hatte Iris Ellingham ihn entworfen. Einhundert Paare, das war eine Anzahl, die etwas hermachte, ohne dabei die Exklusivität einer eleganten Party zu verlieren. Und das zusätzliche Paar, so betonte sie stets, war das wichtigste, denn Teil davon war man selbst.

Iris Ellingham war eine außergewöhnliche, kreative Frau gewesen. Darum hatte sie so viele Kontakte zu Künstlern gepflegt, so viele treue Freunde gehabt. Darum hatte Albert Ellingham sie und niemand anderen auf der Welt zur Ehefrau gewollt. Stevie dachte darüber nach, ob Iris Ellingham dem Paar, das nun Seite an Seite mitten auf der Tanzfläche ihres Ballsaals lag, wohl freundlich gesinnt gewesen wäre. Aber dem Mädchen, das ihre Alice gefunden hatte, wäre sie doch sicher mit einem Lächeln begegnet.

Charles’ Büro war nach Stevies Entdeckung versiegelt worden. Der Schulleiter selbst war mit Larry und den anderen Lehrern irgendwo oben. Die sechs Schüler und Hunter dagegen blieben sich im Erdgeschoss selbst überlassen; schließlich waren nun nicht mehr sie diejenigen, die man unter Beobachtung halten musste. Vi und Janelle hatten sich in irgendeine verschwiegene Ecke verzogen. Stevie und David hatten den Ballsaal genommen – warum auch nicht, wenn er schon da war?

David hatte ihre Decken aus dem Morgensalon geholt – insgesamt vier – und ihnen daraus ein Nest gebaut. Und so lagen sie nun inmitten dieses fantastischen Spektakels aus Spiegeln und Masken und blickten hoch an die hellblau gestrichene Decke mit den goldenen Sternbildern. David strich ihr behutsam das Haar aus der Stirn. Stevie stellte fest, wie erschöpft sie war, vielleicht erschöpfter als je zuvor in ihrem Leben. Es war, als schwebte sie zwischen mehreren Bewusstseinszuständen, mehreren Welten. Die Kristallleuchter bündelten das schwache Licht und ließen es über alle Oberflächen tanzen.

»Ich hab’s geschafft«, stieß sie hervor.

»Jepp.«

»Am Anfang hast du dich über mich lustig gemacht«, sagte sie. »Aber ich hab’s geschafft.«

»Ich wollte nur nett sein.«

»Du warst total scheiße zu mir.«

»Wie gesagt, ich wollte nett sein.«

»Wie kommt es eigentlich, dass wir beide uns mögen?«, fragte Stevie.

»Ist das denn wichtig?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht, wie solche Sachen funktionieren.«

»Ich auch nicht. Keiner weiß das.«

»Manche Leute anscheinend schon. Janelle zum Beispiel. Glaube ich.«

»Janelle«, sagte er, »mag ’ne ganze Menge wissen, aber das nicht. Und ich mag dich, weil …«

Er rollte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah hinunter in Stevies Gesicht. Mit dem Zeigefinger fuhr er ihr Kinn entlang und sie unterdrückte einen Schauder.

»… weil du hierhergekommen bist, um das Unmögliche möglich zu machen, und es dir tatsächlich gelungen ist. Weil du klug bist. Und außerdem ziemlich attraktiv.«

Sie küssten sich, dort auf dem Boden, zwischen den Spuren Tausender Tanzschuhe und unter den Blicken der Wandmasken, die so viele Jahrzehnte hatten vorüberziehen sehen, küssten sie sich wieder und wieder, jeder Kuss eine Vervollständigung des vorigen.

Draußen vor den Fenstern begann der Schnee sich zurückzuziehen, als wollte er sich für seine Aufdringlichkeit entschuldigen, und schlich auf leisen Sohlen dorthin, wo er hergekommen war.

Alice …

Stevie konnte sie hören. Ihr fröhliches Kichern und das Schlittern ihrer winzigen Lackschuhe über das Parkett, während sie ihrem Ball hinterherrannte.

»Sollten wir sie wirklich hier mit dem Ball spielen lassen?«, fragte Iris. »Bei all den Spiegeln?«

»Aber ja«, antwortete Albert. »Es wird schon nichts passieren. Na komm, Alice, lass ihn ordentlich hüpfen. Hier drinnen hast du hundert Hüpfbälle auf einmal!«

Alice hob ihre pummeligen Ärmchen über den Kopf und warf den Ball mit aller Kraft – nicht weit, aber es reichte, um ihr Freude zu machen. Wieder hallte ihr Lachen durch den Saal.

»Wie schön es ist, zu Hause zu sein«, seufzte Iris und legte den Kopf auf Alberts Schulter. »Wir waren so lange fort.«

»Jetzt sind wir alle wieder hier«, sagte Albert. »Und so soll es bleiben.«

Als der Tag anbrach, drang sanftes Licht durch die Fenstertüren und schob sich in lang gestreckten Strahlen über die Tanzfläche, bis es Stevies Augen erreichte. Sie sah sich um, wie um sich zu vergewissern, dass die Realität, an die sie sich vom Abend zuvor erinnerte, mit der jetzigen übereinstimmte. Ja, sie hatte in einem Ballsaal übernachtet. Ja, David war bei ihr. Arm in Arm lagen sie in einen Haufen aus Decken gekuschelt. Sie ließ den Blick über das Parkett um sich herum schweifen, musterte aus nächster Nähe jeden Kratzer, jede Fuge. Die Luft im Raum war kalt, aber unter den Decken war es wunderbar warm. Am liebsten wäre sie für immer so liegen geblieben.

Doch in diesem Haus wartete ein überführter Mörder.

Vorsichtig befreite Stevie sich aus Davids beschützender Umarmung, krabbelte aus ihrem Schlaflager und sammelte ihre Kleider vom Boden auf. Während sie sich anzog, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild, das sie dutzendfach umspielte wie ein immer wiederkehrendes Echo. Es gab nichts auszusetzen an dem, was sie sah. Sie war das Mädchen mit dem wie abgehackt aussehenden blonden Haar und den verwaschenen schwarzen Klamotten. Sie war genau die, die sie sein wollte.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zur Eingangshalle. Die Villa wirkte ruhig und friedlich. Im Kopf-ab-Kamin brannte ein verhaltenes Feuer und davor saß Larry mit verschränkten Armen und einer Tasse Kaffee in der Hand. Stevie schloss die Tür hinter sich und ging zu ihm.

»Hey«, raunte sie und deutete die Treppe hoch. »Wie sieht’s aus?«

»Mark, Dr. Pixwell und Dr. Quinn sind mit Dr. Scott im Pfauenzimmer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwelche krummen Dinger versucht, aber falls doch, kommen sie locker mit ihm zurecht.«

»Hat er irgendwas gestanden?«, wollte Stevie wissen, die sich Larry gegenübersetzte und sich die Hände am Feuer wärmte.

»Nein. Er war ziemlich still. Meine Kollegen werden bald hier sein. Ich hab ihnen gesagt, bis heute Morgen kämen wir allein klar. Wahrscheinlich schicken sie einen Hubschrauber und noch mehr Verstärkung mit dem Schneepflug, auch um die Hauptstraße zu räumen, damit wir überhaupt hier wegkommen. Wir können die Pistenraupe nehmen und dann sehen wir mal, wie wir euch alle ins Tal kriegen. Ich persönlich wäre ja für Schlittenfahren. Das hier ist der beste Rodelberg im ganzen Bundesstaat, solange man aufpasst, dass man nicht im Fluss oder vor einem Baum landet.«

»Und wie geht es dann weiter?«, fragte sie. »Hab ich es wirklich geschafft? Glauben Sie, es reicht, um ihn ins Gefängnis zu bringen?«

»Darüber brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen«, antwortete Larry. »Auf jeden Fall wird es Ermittlungen geben. Alles, was du tun musst, ist, deine Erkenntnisse möglichst detailliert zu schildern. Ab da übernimmt die Staatsanwaltschaft.«

Larry redete mit Stevie, als wäre sie eine echte Detektivin. Wieder einmal musste sie ein Lächeln verbergen und wandte sich dem Morgensalon zu, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand. Drinnen sah sie Germaine, die sich über ihren Laptop beugte und fieberhaft darauf eintippte. Hunter lag auf dem Sofa und schlief noch. Ein Stück weiter hockte Nate auf einem Sessel. Sie hatten alle gemeinsam den Sturm überstanden.

»Aber was ist Ihre Einschätzung?«, hakte Stevie nach.

»Ich finde, du hast ziemlich stichhaltige Beweise geliefert«, antwortete Larry. »Du hast eine Leiche gefunden. Und wenn nötig, sorge ich persönlich dafür, dass allem, was du sagst, gründlich nachgegangen wird. Dafür komme ich sogar extra noch mal aus der Rente zurück.«

»Im Ernst?«

»Man kriegt schließlich nicht alle Tage die Aufklärung für drei Morde serviert und findet noch dazu die Leiche aus dem Kriminalfall des Jahrhunderts«, erklärte er. »Jetzt, wo feststeht, dass Alice tot ist, muss auch ihr Fall wieder aufgerollt werden. Mord verjährt nicht.«

»Dazu hab ich mir auch so meine Gedanken gemacht«, merkte sie an. »Und –«

In dem Moment hörten sie es beide. Ein Hubschrauber näherte sich.

»Komm«, sagte Larry. »Wir nehmen sie zusammen in Empfang.«

Die Wintersonne schien Stevie angenehm warm ins Gesicht, als sie unter dem Vordach stand. Sie musste ihre Augen abschirmen, so grell reflektierte der Schnee das Licht. Der Hubschrauber konnte bei diesen Verhältnissen nicht landen und schwebte nur knapp über dem Rasen. Vier Leute in Uniform sprangen heraus – zwei davon schienen Polizisten zu sein, die anderen Sanitäter mit großen roten Erste-Hilfe-Taschen. Der Lärm musste inzwischen alle geweckt haben. Vi und Janelle tauchten Hand in Hand auf und kurz darauf kamen auch Nate, Hunter und Germaine aus dem Morgensalon. Als Letzter trat David aus einer der Fenstertüren zum Ballsaal und zog sich hastig seinen Pullover über den Kopf. Sie versammelten sich an der Tür, während Larry in der Auffahrt mit den Polizisten und Sanitätern redete.

Die Eingangstür blieb hinter den Neuankömmlingen offen stehen und ein eiskalter Wind wehte in die große Halle. Es war so weit, die Welt hatte sie zurück und setzte sich wieder in Bewegung. David stellte sich neben Stevie und legte wie beiläufig den Arm um sie. Sie lehnte sich an ihn und schmiegte den Kopf an seine Schulter.

»Das war’s dann wohl für uns«, sagte Nate.

»Aber dieses Wochenende werden wir für immer und ewig in unseren Herzen tragen«, witzelte David und streckte seinen freien Arm nach Nate aus. Nate duckte sich weg.

Stevies Aufmerksamkeit wanderte zu der Empore über ihnen, wo irgendetwas im Gange war. Mark kam aus dem Pfauenzimmer und eilte die Treppe hinunter. Jemand hämmerte gegen eine Tür und forderte Einlass.

»Charles!«, rief Dr. Quinn. »Charles, mach sofort auf!«

»Was ist da los?«, fragte Janelle, die zu ihnen getreten war.

Larry und die Polizisten stürmten die Treppe hoch. Ein Krachen wie von zerberstendem Holz ertönte, gefolgt von einem Geräusch, als würde ein schwerer Sack in einen Schacht geworfen. Was immer es gewesen war, es musste von irgendwo hinter dem Kopf-ab-Kamin herrühren. Larry rannte ins Pfauenzimmer und erschien kurz darauf wieder am Geländer.

»In den Keller!«, schrie er den Sanitätern im Erdgeschoss zu, schon wieder auf dem Weg zur Treppe. »In den Keller, mir nach! Schnell!«

Die Schüler sahen schweigend zu.

»Ich glaube nicht, dass Charles ins Gefängnis geht«, sagte Stevie leise.