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Der Frühling kam an die Ellingham und er kam mit voller Wucht, wirbelte durch die Bäume in seiner Robe aus frischer Luft und sprenkelte die Berge mit üppigem Grün wie ein Waldgeist außer Rand und Band. Vögel und Knospen brachten das Leben zurück. Noch war die Kälte nicht vollends gewichen, aber ihr Griff war nicht mehr ganz so unerbittlich. Stevie saß in ihrem roten Lackmantel im Pavillon. Sie zitterte ein bisschen, aber es tat gut, im Freien zu sein. Die kühle Brise – oder möglicherweise eher der Becher Kaffee, den sie vor ein paar Minuten aus dem Speisesaal geschmuggelt hatte – machte sie wach und schärfte ihre Sinne. Auf ihrem Schoß lag ihr neues Tablet mit dem geöffneten Artikel über den Gentest an der Ellingham-Leiche. Doch bei dem wunderschönen Ausblick, der sich ihr bot, konnte sie sich nicht darauf konzentrieren.

So viel war in den letzten fünf Monaten passiert. Anfangs hatte es ein regelrechtes Medienspektakel gegeben, um den Fall und sogar um sie selbst. Stevie wurde bekannt als die »Teenie-Detektivin, Sherlock Ellingham«. Sie wurde interviewt und porträtiert – sogar Netflix bekundete Interesse daran, den Stoff zu verfilmen. Wochen vergingen, bis die Ellingham wieder öffnen konnte, und als es schließlich so weit war, kehrten längst nicht alle zurück. Auch Stevie hatte Bedenken gehabt, dass ihre Eltern sie nicht wieder an die Schule lassen würden. Doch in letzter Zeit hatte sich bei ihnen zu Hause einiges geändert. Ihre Eltern machten keine Witze oder abfälligen Kommentare mehr über Stevies Interesse an Kriminalistik. Sie hatte den Fall aufgeklärt und obendrein hatte die viele Publicity ihr genug Geld für das erste Collegejahr eingebracht. Außerdem war der Schuldige tot, was Anlass zur Hoffnung gab, dass an der Ellingham Academy endlich Ruhe einkehren würde.

Alles hatte sich bestens gefügt – was gab es also noch zu tun, als einfach mal still zu sitzen und die Aussicht zu bewundern?

»Was machst du da?«, fragte jemand hinter ihr.

Es war Nate, der sich zögerlich näherte, die Hände tief in den Taschen seiner abgetragenen Khakihose vergraben. Stevie hatte schon damit gerechnet, dass er sie hier finden würde, denn das hier war der Platz, an den sie sich oft zum Nachdenken zurückzog.

»Lernen«, sagte sie. »Ich schreibe gleich einen Test über das limbische System.«

Nates Blick fiel auf den Artikel auf dem Tablet.

»Das ist ja mal richtig scheiße, oder?«

»I wo.«

»I wo? Wo hast du das denn jetzt her?«, fragte er, während er sich zu ihr setzte. »Der Gentest zeigt keine Übereinstimmung und das juckt dich nicht?«

Stevie zog die Knie an und musterte ihren Freund.

»Ich wusste, dass es so kommen würde«, sagte sie.

»Was? Soll das heißen … du wusstest, dass die Leiche nicht Alice ist?«

»Doch, doch«, erwiderte Stevie. »Es ist Alice.«

»Laut dem Gentest ja eben nicht.«

»Es gab schon immer Gerüchte darüber, dass Alice adoptiert war«, erklärte Stevie. »Keiner hatte Beweise, aber es wurde viel spekuliert.«

»Spekulationen bringen dir aber nicht Millionen von Dollar ein.«

»Nö.« Sie lächelte vor sich hin.

»Wieso grinst du denn jetzt so? Willst du mir Angst machen?«

»Weißt du, was mir von Anfang an Kopfzerbrechen bereitet hat?«, entgegnete Stevie. »Seit klar wurde, dass Alice wieder auf dem Gelände war, hab ich mich gefragt, warum wohl. Sie ist ja nicht hier gestorben, sondern irgendwo anders. Und dafür verantwortlich war George Marsh. So viel wusste ich ja schon. Aber wenn sie tot war, warum hätte er dann so was Verrücktes machen sollen? Ihre Leiche wieder nach Hause bringen, direkt unter die Nase ihres Vaters. Irgendwas musste ich übersehen haben. Also bin ich in die Bibliothek gegangen. Die Ellinghams hatten ein sogenanntes Pressebeobachtungsbüro engagiert – das ist so was wie der Vorläufer von Google Alerts. Immer wenn die Familie in irgendeiner Zeitung erwähnt wurde, hat jemand den Artikel ausgeschnitten und ihnen zugeschickt. In der Bibliothek stehen kistenweise davon. Der Kram wurde nie digitalisiert, weil niemand ihn für interessant oder wichtig genug gehalten hat. Ich musste mich durch massenhaft schnarchlangweilige Gesellschaftsberichte und Artikel über Segeltörns und Tanztees und Fragen, wer dabei welches Kleid an- und welchen Hut aufhatte, wühlen. Wusstest du, dass früher in der Zeitung stand, wer alles auf irgendwelchen großen Ozeandampfern unterwegs war? Komplette Seiten, auf denen nichts anderes aufgelistet war als das. Na ja, jedenfalls hat es ein paar Wochen gedauert, aber am Ende hab ich das hier gefunden.«

Sie zog die Kopie eines Ausschnitts aus einer Burlingtoner Zeitung vom 18. Dezember 1932 aus der Hosentasche.

»Lies mal vor«, forderte sie Nate auf.

Nate nahm den Zettel argwöhnisch entgegen und fing an zu lesen.

»›Ellingham-Ehefrau‹ – schon klar, nicht dass noch einer denkt, sie wäre ’ne eigenständige Person gewesen oder so – ›bringt Kind in der Schweiz zur Welt. Der bekannte Industriemagnat und Philanthrop Albert Ellingham und seine Frau, Mrs Iris Ellingham, sind am Donnerstag, dem 15. Dezember, Eltern eines Mädchens geworden. Laut Ellinghams Sekretär, Robert Mackenzie, sind Mutter und Tochter wohlauf. Das Kind wurde auf den Namen Alice getauft.‹ Äh, warum soll ich das jetzt lesen?«

»Mach weiter.«

»›Im Raum Burlington ist Mr Ellingham vor allem wegen seines Grundstücks auf dem Mount Morgan bekannt, wo er eine Schule zu eröffnen plant. Wie Mr Mackenzie erklärte, hat sich das Paar zur Geburt des Kindes in eine Privatklinik bei Zermatt in den Schweizer Alpen begeben, um der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entgehen. Begleitet wurden sie auf ihrer Reise von Miss Flora Robinson, einer Freundin von –‹«

»Da«, unterbrach Stevie ihn.

»Was?«

»Dass Alice in der Schweiz geboren wurde, wusste ich schon«, sagte sie mit funkelnden Augen. »Aber nicht, dass eine Freundin mit dabei war. Eine einzige. Flora Robinson. Iris’ beste Freundin.«

»Na ja, aber ist doch irgendwie nachvollziehbar? Dass man seine beste Freundin mitnimmt, wenn man um die halbe Welt reist, um sein Kind zur Welt zu bringen?«

»Oder«, hielt Stevie dagegen, »sie sind in diese extrem abgelegene Privatklinik in den Alpen gefahren, damit Flora das Kind zur Welt bringen und die beiden es adoptieren konnten. So eine Adoption ist was sehr Persönliches. Wenn sie es hier gemacht hätten, wäre bestimmt was davon an die Presse gelangt. Vielleicht wollten sie nicht, dass Alice es erfuhr, oder sie wollten es ihr zumindest irgendwann selbst sagen. Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre, erst recht, wenn Kinder im Spiel sind.«

»Aber nur weil Flora mit in der Schweiz war, heißt das doch noch lange nicht, dass sie Alice’ Mutter ist«, wandte Nate ein.

Stevie schloss den Gentestartikel auf ihrem Tablet und öffnete stattdessen ein Dokument aus eingescannten Seiten, die von oben bis unten mit einer sehr ordentlichen, verschnörkelten Handschrift gefüllt waren.

»Charles war so nett, mir die Haushaltsbücher der Ellinghams zu geben, vermutlich, um mich von seiner Fährte abzulenken. Und weil ich halt so eine wilde Partymaus bin, hab ich den ganzen Kram eingescannt und sorgfältig durchgeackert. Im Hause Ellingham wurde wirklich alles dokumentiert: wer zu Besuch kam, wann es was zu essen gab und so weiter. Gucken wir uns doch mal die Aufzeichnungen von März 1932 an. Wer war hier? Flora Robinson. Und was hat sie so gemacht?«

Stevie scrollte weiter zu einer Abfolge von Einträgen weiter unten: Menülisten und alles, was den Gästen außerhalb der Hauptmahlzeiten aufgetischt wurde.

»Das hier war im März ihr Standardfrühstück.«

Triumphierend hielt sie das Tablet hoch.

Gast, Miss Flora Robinson, Frühstück aufs Zimmer serviert: Kaffee mit Milch und Zucker, Tomatensaft, Marmeladentoast, Rührei, Schinken, Orangenschnitze.

»Das hat sie so gut wie jeden Tag gegessen, immer dasselbe. Tomatensaft, Rührei, Orangenschnitze. Aber dann, Mitte Mai, wird plötzlich alles anders.«

Gast, Miss Flora Robinson, Frühstück aufs Zimmer serviert: Kamillentee, Salzcracker, trockener Toast.

»Das bestellt sie jetzt, wenn überhaupt irgendwas, zum Frühstück«, sagte Stevie. »Von Mai bis Ende Juni. Na, was kommt dir dabei in den Sinn?«

»Morgenübelkeit«, staunte Nate mit weit aufgerissenen Augen.

»Morgenübelkeit«, wiederholte Stevie lächelnd.

»Du machst mir echt Angst«, murmelte Nate.

»Die restlichen Aufzeichnungen hab ich mir auch noch angesehen. Flora war den größten Teil von 1932 hier. Fast das ganze Jahr. Und dann, im September, packen auf einmal alle ihre Sachen und verschwinden in die Schweiz. Nehmen wir also mal an, Flora war Alice’ leibliche Mutter. Es muss natürlich auch einen leiblichen Vater geben, aber wen? Und da ergibt George Marshs Verhalten endlich einen Sinn …«

Stevie geriet schon wieder in fieberhafte Aufregung, was Nate sichtlich nervös machte.

»George Marsh wird nirgends als Gast aufgeführt – er war ja auch keiner, sondern hat hier gearbeitet –, trotzdem taucht er in den Haushaltsbüchern auf, weil sie natürlich sein Zimmer in Ordnung halten und ihm was zu futtern geben mussten. Da, er war den ganzen März und April über hier. Und zumindest ein Aprilwochenende lang niemand außer ihm, den Ellinghams und Flora Robinson. Wenn man zurückrechnet, war das ziemlich genau neun Monate vor Alice’ Geburt. Und nur, falls dir das noch nicht reicht, das hier ist Flora …«

Sie öffnete ein Foto von Flora Robinson.

»Das ist George Marsh …«

Noch ein Foto.

»Und das ist Alice.«

Nate betrachtete die drei Fotos nebeneinander.

»Oh«, stieß er hervor.

»Darum hat er sie zurückgebracht«, sagte Stevie. »Weil er ihr leiblicher Vater war. Er wollte sie anständig begraben, zu Hause.«

»Okay, und das willst du denen jetzt alles erklären, damit du das Geld kriegst? Ist bestimmt nicht einfach zu beweisen, aber vielleicht klappt’s ja, wenn sie die Geburtsdaten überprüfen und irgendwo DNA-Proben herbekommen …«

»I wo«, sagte Stevie erneut.

»Kannst du bitte damit aufhören? Also heißt das, du hast gar nicht vor, es zu beweisen?«

»Es ging mir nie um das Geld«, entgegnete sie. »Stell dir doch mal vor, was los wäre, wenn ich auch nur versuchen würde, da ranzukommen – mit wie vielen Anwälten und gierigen Typen ich mich dann herumschlagen müsste. Das wäre die Hölle.«

»Im Ernst jetzt?«, fragte er. »Du lässt dir einfach so siebzig Millionen Dollar durch die Lappen gehen?«

»Was könnte ich mir denn für siebzig Millionen schon kaufen?«

»Alles. So ziemlich alles, was es gibt.«

»Aber so bleibt das Geld hier«, wandte sie ein. »In Alice’ Zuhause. Ihr Vater wollte einen Ort schaffen, an dem das Unmögliche möglich wird. Das bin ich Albert Ellingham schuldig. Nur seinetwegen gibt es diese Schule, an der ich mich endlich mal zugehörig fühle, und jetzt sorge ich dafür, dass es sie weiterhin gibt. Ich mache das für Alice und Iris und Albert, für Hayes und Ellie und Fenton.«

Sie hob ihren Kaffeebecher.

»Meine Güte«, seufzte er. »Was bist du eigentlich, eine Heilige oder so was?«

»Erstens hab ich gerade diesen Becher aus dem Speisesaal mitgehen lassen«, sagte sie. »Also nein. Und zweitens, wenn’s die Schule nicht mehr gäbe, hättest du zu Hause bleiben und dein Buch fertig schreiben müssen. Ich hab’s also auch dir zuliebe keinem erzählt. Und ich werd’s auch nicht. Abgesehen von meinen Freunden. Wie dir.«

»Versuchst du etwa gerade, irgendwelche Gefühle in mir zu wecken?«, schimpfte Nate, dessen Augen mit einem Mal leicht gerötet wirkten. »Na toll. Da perfektioniere ich mein Leben lang die hohe Kunst des Verdrängens und Unterdrückens und jetzt kommst du und machst alles kaputt.«

»Dann hab ich noch mehr schlechte Nachrichten für dich. Dreh dich mal um. Die glücklichen Paare sind im Anmarsch …«

Janelle und Vi kamen Arm in Arm auf sie zu und winkten. Hunter und Germaine dahinter waren zwar noch nicht offiziell ein Paar, aber sie benahmen sich wie eins. Die Ereignisse im letzten Jahr hatten Janelle und Vi noch fester zusammengeschweißt und die beiden planten bereits, einander in den Sommerferien zu besuchen, soweit es ihre vollen Terminkalender zuließen. Hunter und Germaine dagegen waren sich über ihr gemeinsames Interesse an Umweltschutz und Science-Fiction-Filmen nähergekommen. Die letzten Monate waren für alle hart gewesen, aber im Großen und Ganzen lief es gut an der Schule. Und wie sich herausgestellt hatte, lernte es sich wesentlich entspannter, wenn man nicht ständig den nächsten Mord befürchten musste.

Kurz bevor die anderen bei ihnen ankamen, klingelte Stevies Handy. Sie hob die Hand und ging ein paar Schritte weit weg, bevor sie den Videoanruf annahm.

»Wo bist du denn?«, fragte sie.

David stand auf einer Straße und trug ein lila T-Shirt mit einem politischen Slogan darauf.

»Äh …« Er sah sich um. »In Iowa. Wir klappern heute drei Städte ab. Ich bin für die Vorbereitungen zuständig, organisiere Veranstaltungen in ein paar Cafés und so. Wollte nur kurz anrufen, weil ich diese Geschichte mit dem Gentest gesehen hab. Alles okay bei dir?«

»Alles super«, antwortete sie. »Wie läuft der Wahlkampf?«

»Ich hab gestern an dreihundertfünfzehn Türen geklopft. Stell dir nur mal diese ganzen Leute vor, die nichts ahnend die Tür aufmachen … und da bin ich.«

»Die Glücklichen.« Stevie schmunzelte.

»Oh ja, genauso sahen die aus. Glücklich. Ich hab sogar ein paar Leute heimgesucht, die noch ein Schild mit der Visage von meinem Dad im Vorgarten stehen hatten. Manche wollen es wohl einfach noch nicht wahrhaben, dass ihr großer Traum zerplatzt ist.«

Nachdem alles vorbei war, hatte David einen Praktikumsplatz bei einem politischen Rivalen seines Dads ergattert. Die Schule wäre zwar bereit gewesen, ihn wieder aufzunehmen, aber sein Vater hatte sich dagegen gesperrt. Also lernte er jetzt auf eigene Faust für seinen Abschluss. Diese beiden Aufgaben hielten ihn Tag und Nacht beschäftigt. Stevie hatte noch nie erlebt, dass David so hart arbeitete, und es schien ihm gutzutun. Er sah gesünder aus und klang auch so, auch wenn sie den Verdacht hatte, dass er nicht sonderlich viel schlief. Sie telefonierten zwei, drei Mal am Tag. Lustigerweise waren ihre selig unwissenden Eltern absolut entzückt, dass sie immer noch mit diesem netten Jungen zusammen war, der sich als Sohn von Senator King entpuppt hatte. Senator Kings Ansichten zu Davids und Stevies Beziehung dagegen waren nicht bekannt und es legte auch niemand Wert darauf, sie in Erfahrung zu bringen.

»Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, was ich mache«, merkte David jetzt an.

»Echt?«

»Ja, ich finde irgendwie, er sollte wissen, dass ich hier draußen bin und mich im Namen der Demokratie abrackere. Du weißt schon, für die andere Seite. Gestern Abend hab ich den Leuten hier geholfen, ihre lokale Datenbank auf Vordermann zu bringen, und heute erkläre ich ihnen ein bisschen was über Social Media. Scheint, als wäre ich ganz gut in so was.«

»Ich hab immer an dich geglaubt«, sagte Stevie.

»Im Ernst?«

»Nö. Aber du hast einen Knackarsch, darum hab ich dich nicht gleich abgeschrieben.«

Sie lächelten einander über tausend Meilen hinweg zu. Stevie hatte sich ihm noch nie so nahe gefühlt.

»Ich mache mich dann lieber mal wieder ans Lernen«, sagte sie schließlich. »Wir schreiben heute einen Test in Anatomie. Weißt du zufällig irgendwas über das limbische System?«

»Ha, was weiß ich nicht über das limbische System? Außer natürlich, was es ist.«

»Ungefähr so weit bin ich auch«, sagte Stevie.

»Und du meinst, die drücken nicht vielleicht ein ›Die DNA-Probe hat leider nicht gepasst‹-Auge zu?«

»Nein.«

»Wie jetzt, du klärst den Kriminalfall des Jahrhunderts auf und musst immer noch Hausaufgaben machen? Diese Welt ist doch echt beschissen.«

»Nicht ganz«, merkte Stevie an.

»Nein«, stimmte er zu und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Nicht ganz.«

Nachdem Stevie aufgelegt hatte, schlenderte sie zusammen mit ihren Freunden zum Unterricht. Bevor sie reingingen, atmete sie noch einmal eine Nase voll von der frischen Vermonter Luft ein – der Luft, die Albert Ellingham so sehr geliebt hatte, dass er kurzerhand einen ganzen Berg gekauft und darauf sein Königreich errichtet hatte.

»Darf ich dich mal was fragen?«, wandte Vi sich an sie. »Wie hat David es eigentlich geschafft, an diese Aufnahme von seinem Dad zu kommen? Hat er sein Büro verwanzt?«

»Du meinst, wie hätte er das machen können – rein hypothetisch, stimmt’s?«

»Na klar.«

»Nehmen wir einfach mal an, du würdest dich zusammenschlagen lassen und ein Video davon ins Internet stellen, damit dein Dad glaubt, du wärst abgehauen, um zu kiffen und aus der Gesellschaft auszusteigen, aber in Wahrheit würdest du dich zurück nach Hause schleichen, um an Informationen zu kommen.«

»Völlig normales Verhalten«, befand Vi.

»Und sagen wir, du hättest eine Schwester, die genauso zu deinem Dad steht wie du. Sagen wir, du würdest diese Schwester in dein Vorhaben einweihen, damit sie sich keine Sorgen macht. Und da würde sie anbieten, dir zu helfen. Möglicherweise würde sie extra von Kalifornien nach Pennsylvania fliegen, um dabei zu sein, wenn du deinem Dad eröffnest, dass du sein ganzes Erpressungsmaterial vernichtet hast. Und dann hätte sie auch noch genau im richtigen Moment ihr Handy parat und würde seine Reaktion aufzeichnen.«

»Na, so ein Zufall«, sagte Vi. »Und dann ist diese Aufnahme auch noch versehentlich an die Öffentlichkeit gelangt?«

»Verrückt, oder?«, erwiderte Stevie. »In dieser Familie passieren wirklich die seltsamsten Sachen.«

»Und, haben deine Eltern Edward King mittlerweile aufgegeben?«, erkundigte sich Vi.

»Nein«, seufzte Stevie. »Die denken, das ist alles nur ein fieses Komplott gegen ihn. Tja, man kann eben nicht alles haben. So, ich muss dann los, sonst komme ich noch zu spät. Dieser Test verhaut sich schließlich nicht von selbst. Sollen wir uns zum Mittagessen …«

Eine Bewegung am Waldrand in Richtung des Flusses ließ sie innehalten. Die Bäume begannen bereits auszutreiben, waren jedoch noch kahl genug, dass zwischen ihnen eine Silhouette zu erkennen war.

»Elch«, hauchte sie kaum wahrnehmbar. »Elch. Elch.«

Sie zupfte an Nates Ärmel.

»Elch«, wiederholte sie.

Die Silhouette bewegte sich und verschwand. Stevie blinzelte. Sie hatte ihn genau gesehen. Ein Riesengeweih!

»Mein Elch«, sagte sie. »Endlich! Das Universum hat mich mit einem Elch belohnt.«

Nach einem letzten Blick auf die magische Stelle wandte Stevie Bell sich ab und ging weiter. Schließlich lag immer noch ein Anatomietest vor ihr. So vieles lag noch vor ihr, aber jetzt kam erst mal dieser Test.

»Das war doch kein Elch«, sagte Janelle, sobald Stevie außer Hörweite war. »Da hat sich bloß ein Ast im Wind bewegt, oder?«

»Ein Ast.« Nate nickte.

»Eindeutig«, schloss Vi sich ihnen an. »Meint ihr, wir sollen was sagen? Schien ihr ja echt wichtig zu sein.«

»Auf keinen Fall.« Nate sah Stevie nach, die sich, ihre Ohrhörer wieder eingestöpselt, auf den Weg zum Unterricht machte. »Lassen wir ihr ihren Elch.«