Am letzten Weihnachtstag
D
ie Atmosphäre im Büro war von Misstrauen und Paranoia vergiftet. Jeder dachte an dasselbe, aber niemand sprach es aus. Wieder einmal fühlte sich Kendra, als hätte sie sich ein Geständnis auf ihre Stirn getackert. Es schien ihr schon fast unwahrscheinlich, dass die Leute nicht
Bescheid wussten.
Sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren, aber sie war in ein paar Situationen schon so nervös gewesen, dass sie fürchtete, auf die Toilette laufen und sich übergeben zu müssen, was an sich schon verräterisch genug wäre.
Sie hatte gewusst, dass es ungemütlich würde, wenn die Geschichte erst raus war: dass sie sie nicht mehr unter Kontrolle haben würde, weil sie ein Eigenleben entwickelte; und dass dann mit jedem Tag auch ihre Ängste wachsen würden, dass Mead oder speziell Stafford sie als die undichte Stelle verdächtigen würde. Aber das hier war so viel schlimmer! So viel größer und damit nicht nur außerhalb ihrer Kontrolle oder Vorstellungskraft, sondern auch viel zu groß für Parlabane. Er war es, der die Bestie freigelassen hat, und das Erste, was sie tut, ist, sie dreht sich um und verschluckt ihn. Kendra fürchtete, dass sie die Nächste sein würde.
Hinter den Kulissen hatte sich so viel mehr abgespielt, als sie beide geahnt hatten. Sie wusste, wie so was lief: Sie hatte nicht die Einzige sein können, die von Meads Affäre wusste, aber hier ging es um mehr als die Affäre. Es ging darum, dass OSE das Ministerium unterwanderte, und jemand mit sehr viel Macht und Einfluss arbeitete subtil daran, das auffliegen zu lassen.
Wenn andere Leute Mead im Blick hatten, dann hatten sie vielleicht auch ihre eigenen heimlichen Manöver bemerkt. Nichtsdestotrotz war der Einzige, der wirklich wusste, dass sie etwas Illegales getan hatte – der Einzige, der von den Schlüsseln wusste –, Parlabane.
Sie musste ihn treffen, ihn beschwören, sie nicht ans Messer zu liefern. Als sie sah, wie man ihn fallenließ, war ihre größte Sorge, er könnte denken, sie habe ein falsches Spiel mit ihm gespielt. Sie musste ihn davon überzeugen, dass das nicht stimmte. Sie musste ihn noch einmal treffen und sichergehen, dass er sie nicht verraten würde.
Sie schickte eine Textnachricht bestehend aus vier Worten – «selbe Zeit, selber Ort» – und wartete dann ängstlich darauf, dass ihr Handy zum Zeichen einer Antwort vibrieren möge.
Doch es kam nichts.
Eine Stunde verstrich, und er hatte sich noch immer nicht gemeldet. Also hatte er ihr die Schuld zugeschoben. Sie fühlte sich krank: Aber es war anders als diese plötzliche Übelkeit, die sie am Morgen überfallen hatte, etwas, das tiefer ging, verzehrender war und sich nicht so schnell fortspülen ließ.
Dann jedoch vibrierte ihr Telefon plötzlich summend auf dem Holztisch und brachte in Gestalt von zwei Buchstaben doch noch eine Art Erleichterung: «Ok.»
Noch nie hatte sie sich auf dem Weg in den Park, der sonst stets ihr privater Rückzugsort gewesen war, so panisch gefühlt. Jeder, der sie kurz anschaute – jeder der sie nicht
kurz anschaute –, schien eine potenzielle Bedrohung.
Sie versuchte, Blickkontakt zu vermeiden, und war dankbar dafür, dass es bereits dunkel war, als sie am Victoria Embankment entlanglief. Weniger als fünfzig Meter vom Park entfernt hörte sie, wie sich hinter ihr Schritte näherten, traute sich aber nicht, sich umzusehen.
Dann erkannte sie seine Stimme, die genau das sagte: «Drehen Sie sich nicht um, Sie kennen mich nicht. Gehen Sie einfach weiter.»
Er streifte sie kurz, überholte sie dann eilig wie jemand, der schon spät dran war, aber nicht rennen wollte. Wo wollte er denn hin? Und was sollte sie tun?
Sie fühlte ein Vibrieren in ihrer Manteltasche. Sie steckte ihr Handy niemals dort rein, das war ihr zu offen, zu verletzlich. Aber da war ein Handy: Er muss es ihr zugesteckt haben, als er sie angerempelt hatte. Prepaid und, zumindest im Moment, nicht ortbar.
«Hallo?», sagte sie.
«Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden», kam die Antwort. «Ich werde ganz sicher beobachtet. Die werden sehr aufmerksam notieren, mit wem ich spreche. Sie müssen weggehen und sich von mir fernhalten. Warum haben Sie überhaupt um dieses Treffen gebeten?»
Sie wusste, dass es töricht war, dass sie mit ihrem Kommen die Bloßstellung riskierte, aber sie hatte ihm in die Augen schauen müssen und ihn anflehen, sie nicht zu verraten. Das würde sie jetzt nicht können, aber es war auch nicht nötig. Er hatte Schritte unternommen, um sie zu schützen: Wahrscheinlich hatte er mit seiner Antwort gewartet, bis er die neuen Telefone hatte.
Sie fühlte sich mit einem Mal sehr feige und beschämt.
«Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich keine Ahnung von dem Ganzen hatte», sagte sie. «Ich habe Ihnen keine Falle gestellt.»
«Das weiß ich. Ich bin derjenige, der es versaut hat. Ich habe die Warnsignale überhört.»
«Ich wollte Sie treffen, um Sie zu bitten, mich nicht zu verraten.»
«Das würde ich nie tun», sagte er kategorisch.
«Ja, das habe ich in der Sekunde begriffen, als Sie mir dieses Telefon zuspielten. Deswegen möchte ich Ihnen auch sagen, dass ich es mir anders überlegt habe. Ich kann das nicht alles Ihnen allein aufbürden. Ich übernehme für mein Handeln selbst die Verantwortung. Wenn Sie meinen Namen nennen, wird es für Sie einfacher.»
«Nein», entgegnete er. «Sie rühren sich nicht und warten ab, sagen gar nichts.»
«Aber am Ende wandern Sie ins Gefängnis», warf sie ein.
«Erinnern Sie sich noch, wie Sie sagten, ich würde nichts riskieren? Nun, jetzt schon. Denn ich schütze meine Quellen. Immer.»
Kendra blickte hoch und sah etwas entfernt noch seine Silhouette, bevor er in der Dunkelheit des Parks verschwand.
«Danke», sagte sie und schluckte die Tränen hinunter.
«Gern geschehen. Das ist das einzige Geschenk, das ich dieses Jahr Weihnachten jemandem machen kann.»