Kapitel

Lucy

EPIPHANIE

wenn du plötzlich etwas verstehst, was du lange nicht verstanden hast

alinana0202: Klar muss sie einen Vibrator verwenden, wenn sie allerhöchstens eine 6,5 ist  Smiley
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mrscherrycherry: Jetzt ist die sogenannte Journalismusstudentin also auch noch auf meiner fyp  Smiley Hab letztens einen Artikel von ihr angefangen, aber musste nach einem Absatz abbrechen. Wie selbstmitleidig kann man bitte klingen? Und dann noch diese ganzen englischen Begriffe. Einfach nur schrecklich, niemand redet so. #sorrynotsorry.
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24amal03: »Das ist gut, das lade ich hoch«
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karowalter: Wieso macht sie indirekt Werbung für Satisfyer? Sie sieht aus wie 13.
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jessyloves23: Du machst auch alles für Klicks, oder?  Smiley 123  Likes

colinthegain: @markus283  Die meinte ich. Die würde ich nicht mal ansprechen, wenn ich vier Liter Jäger gekillt hätte
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marcellagermany: Hat jemand ihren letzten Blogeintrag gelesen? Fand ihn so schlimm. Alles war einfach too much  Smiley
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Du hättest es wissen müssen.

Für einen kurzen Moment war dies der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Panisch flog mein Blick zu der Uhrzeitanzeige. Kurz nach eins. Ich atmete tief ein und sog den Geruch der Rushhour in mich auf. Kaffee, Hektik und gebackenes Porridge in Plastikdosen. Ich hörte Gelächter und Gespräche, wie jemand nach einem »Sebi, Bro!« rief. Ich war auf meinem Campus, aber eigentlich war ich nicht hier.

Ich hatte nicht auf die TikTok-App klicken wollen. Völlig entspannt hatte ich zu dem Treffen gehen wollen, das Mila angeordnet hatte. Heute Morgen hatte ich sogar zwanzig statt fünfzehn Minuten meditiert, nur um meinen Seelenfrieden mit drei Klicks zu zerstören.

Mein großer Bruder hatte mir den Link zu einem Video geschickt, in dem ein Schüler die Klausurkommentare seines Deutschlehrers bewertete.

Elias
1:1  Herr Nowak  Smiley

Er fand es lustig und ich hatte nicht nachgedacht, den Link geöffnet und dabei vergessen, dass ich diese Plattformen nicht bedenkenlos betreten konnte. Ich besaß Social-Media-Apps nicht, um Freundinnen unter Videos zu verlinken – Leute verlinkten andere Personen unter meinen. So waren mir also unzählige Benachrichtigungen zu dem neusten Video auf @thegirlnextdoor entgegengesprungen, die ich Idiotin überflogen hatte.

Ich hatte gestern keine Werbung für Satisfyer hochgeladen, sondern bloß die Vorteile von Masturbation aufgezählt und dabei meinen eigenen für ein Schnittbild abgefilmt. Doch es war egal, dass User falsche Behauptungen aufstellten. Die Topkommentare bohrten sich trotzdem in mich hinein.

Allerhöchstens eine 6,5. Einfach nur schrecklich. Die würde ich nicht mal ansprechen, wenn ich vier Liter Jäger gekillt hätte. Alles war einfach too much. #sorrynotsorry

»Hey, wir sehen uns nachher bei Paulsen, oder?«

Beim Klang der vertrauten Stimme zuckte ich zusammen. Blinzelnd hob ich das Kinn und entdeckte Amira, die mir fröhlich winkte.

»Klar!«, rief ich ihr zu, woraufhin sie den rechten Daumen in die Luft reckte.

In Richtung Medien-Fakultätsgebäude verschwand sie, während jeder Zentimeter meiner Haut glühte. Für Außenstehende sah ich aus wie immer: Nur-Lucy mit ihren möchtegerntrendigen Klamotten und den gehobenen Mundwinkeln, nett, süß und freundlich.

Niemand ahnte, dass alles in mir tobte.

Ich verabscheute das Internet nicht. Ich verabscheute nur, wie die Menschen sich darin verhielten. Alles war voller Hass und sarkastisch gemeinten Emojis. Jeder wusste es besser und jeder wusste alles. Wir legten Filter über unsere Selfies, nur um in der Kommentarspalte filterlos übereinander herzuziehen. Leute sprachen unter meinem eigenen Video über mich, als würde ich nicht existieren. Sie beleidigten mich, mein Aussehen, meine Art, die Anglizismen in meinen Texten, bloß um sie in ihren Hasskommentaren selbst zu verwenden.

Mittlerweile hatte mein Bildschirm sich ausgeschaltet, doch meine Finger zuckten, weil ich mich rechtfertigen wollte. Aber das konnte ich nicht, schließlich bekämpfte man Feuer nicht mit Feuer. Wenn ich geschrieben hätte, was ich dachte, wäre ich bloß kritikunfähig und hochnäsig gewesen. Bekanntlich musste man im Internet mit der Meinung anderer rechnen. Ich konnte nicht tippen: Ich habe keine Werbung für Satisfyer gemacht, sondern für WEIBLICHE Selbstbefriedigung. Die, die wir alle verschweigen, weil wir bloß männliche tolerieren. Überhaupt: Wie viele Ausdrücke kennt ihr für weibliche Selbstbefriedigung, garantiert nicht so viele wie für männliche, was? Aber bitte googelt auf keinen Fall nach Synonymen, denn dann findet ihr unter Verwendungsbeispiele für Runterholen das hier: Wer sich auf Lucy einen runterholen kann, kann sich auf alles einen runterholen. Nett, oder?

Ich konnte diesen Kommentarentwurf nur in einer meiner vielen Gedankenschubladen verstauen, meinen Weg weiter beschreiten und so tun, als hätten Fremde mich nicht auseinandergenommen. Dabei durfte ich auf keinen Fall einen Blick auf mein eigenes Spiegelbild riskieren, weil ich sonst analysieren würde, welche Körperteile genau für die 6,5 verantwortlich waren.

Acht Minuten später klopfte ich an Milas Redaktionsbüro. Meine Beine waren nicht weich, sondern flüssig. Ich fühlte mich wie eine Pfütze voller Minderwertigkeitskomplexe, aber wen interessierte das schon?

Komm damit klar. Lass dir ein dickeres Fell wachsen. Nimm es nicht persönlich. Kritik gehört dazu. Lösch Instagram. Mach eine Pause von TikTok. Das ist sowieso alles nur fake.

Bessere Ratschläge hätte ich von meinen Mitmenschen nicht bekommen. Spoiler: Keiner davon half.

»Oh, hi, Lucy!« Ich erschrak, als Mila mir energisch die Tür öffnete. »Wie schön, dass du spontan vorbeischauen kannst.« Das helle Haar trug sie heute in einem Dutt, dazu große Ohrringe und einen engen Rollkragenpullover. Sie roch nach La vie est belle , während sie mich lächelnd hineinbat. »Nimm doch Platz.«

Langsam trat ich ein. Dabei flog mein Blick über den Tisch, von einer geöffneten Packung M&Ms zu dem roséfarbenen MacBook, an dem sie sich niederließ.

»Ich muss das hier eben noch schnell abschicken«, erklärte sie. »Dann können wir …«

Ich zuckte zusammen, als das plötzliche Klopfen auch Mila verstummen ließ.

»Komm rein, Gregor«, flötete sie, betätigte die linke Maustaste und klappte das Gehäuse zu.

Ich gefror auf der Stelle. Hinter mir erklangen Schritte. Zögerlich, vorsichtig und beinahe sanft. Als wären das jemals Adjektive gewesen, die ihn hätten beschreiben können.

»Setz dich hin, setz dich hin, es gibt großartige Neuigkeiten!«

Milas Stimmton war hell, der Himmel düster. Räuspernd zog Gregor den Stuhl zurück. Ich hingegen blickte stur geradeaus – vergebens. Jedes meiner Teilchen war sich jedes von Gregors Teilchen bewusst. In meinen Augenwinkeln blitzte seine Silhouette auf. Diesmal roch ich ihn sogar, eine Spur Duschgel und Deo.

Gott, wie ich das alles hasste. Wenn ich mich nicht gerade mit Arschlochmenschen im Internet beschäftigte, existierten seit Tagen nur noch zwei Silben in meinem Kopf. Gre-gor, Gre-gor, Gre-gor. Hör auf , hätte ich ihm am liebsten zugeschrien. Hör auf, dich immerzu in meine Gedanken und in mein Leben zu drängen. Verschwinde. Verpiss dich. Komm nie wieder. Und das sage ich nicht, damit du kämpfst, sondern weil du mich schon vor sehr langer Zeit verlassen hast.

Aber das wäre genauso hasserfüllt wie ein Kommentar von mrscherrycherry gewesen. Schweigend krallte ich also die Nägel in meine schwarze Stoffhose, während er sich neben mir niederließ. Er war zu groß für diesen Stuhl und zu viel für diesen Moment.

»Hi«, flüsterte er.

Zwei Buchstaben und ich schluckte. Entschlossen zwang ich mich zu einem knappen Nicken.

»Ich spanne euch nicht weiter auf die Folter.« Mila schnappte sich einen Stift mit goldschimmernder Kappe, den sie zwischen den Fingern drehte. »Und fragt mich bitte nicht, wie genau es funktioniert hat, aber nachdem ich erklärt habe, dass ihr beide schon zusammengearbeitet habt, sah die Sache ganz anders aus und … IHR HABT DEN JOB!« Wieder klang sie unendlich euphorisch, nach Konfettibomben und Sektgläsern.

Ich sollte mich freuen.

Das wusste ich.

Doch ich fühlte absolut nichts.

Moment mal, was?

Instinktiv rappelte ich mich auf, denn das war unmöglich. Ich hatte das hier so gewollt. Erneut zwang ich meine Mundwinkel nach oben, trotzdem … nichts.

Nichts. Und nichts. Und nichts.

Ich fühlte mich leer, bevor Gregors Stimme zum zweiten Mal erklang.

»Cool«, brachte er hervor.

Absatztrenner

Cool .

Das hatte er gesagt, tief und leise, vor fünf Stunden. Und jetzt hallte es immer noch in mir nach, als ich von einem Bein aufs andere trat. Unser Treffpunkt war erneut das Erdgeschoss meiner Fakultät, wo ich auf Gregor wartete und weiterhin auf die Begeisterung, die einsetzen sollte.

Mein Handy hatte ich seit dem Zwischenfall heute Mittag nicht mehr angefasst. Dabei hatte ich es vibrieren gespürt. Bestimmt waren es Nachrichten in der @thegirlnextdoor-Gruppe gewesen, vielleicht Mama oder noch mal Elias. Aber ich wollte nicht auf ein Display starren und mich fragen, was Fremde über mich diskutierten.

Um Punkt siebzehn Uhr zwei stieß Gregor die Tür auf. Den abgewetzten Rucksack trug er lässig über einer Schulter, während einzelne Tropfen von seinem Windbreaker perlten.

Ich kippte den Kopf. Nieselte es? Wenn ja, liebte er es bestimmt. Er mochte Wasser, die Nässe und all die Unannehmlichkeiten, die Regen mit sich brachte. Na ja, zumindest war das früher der Fall gewesen. Auf was er heute so stand, konnte ich nicht sagen.

Doch als er näher trat, realisierte ich, dass er nicht alles an sich verändert hatte. Mein Blick verharrte auf seinen Nägeln, die nach wie vor kurz und krumm wirkten. Als würde er manchmal noch aus Nervosität daran knabbern. Interessant.

»Das Archiv ist im Keller, oder?«, fragte er.

Ich nickte.

»Wollen wir dann los?«

»Klar«, murmelte ich, bevor wir schweigend nach unten schlurften.

Wir passierten Plakate, die für Partys, Lesungen und Ausstellungen warben. Wenn man hier studierte, konnte man Kommilitonen wöchentlich bei ihren Projekten unterstützen. Jeder hatte ständig diese Sache, an der er arbeitete. Ständig wurde gemalt, geschrieben und gespielt. Ständig wurde sich getrennt, gelitten und geliebt.

Thank you for the tragedy, I need it for my art.  [3]

Es war das wahrste Klischee, das ich kannte. Aber das durfte ich Tillie nicht verraten, weil ihre Rede ihr so wichtig gewesen war, selbst wenn sie tragedy durch anger ersetzt hatte.

»Die Redaktion hat dir wegen der Köpcke-Fahrt Bescheid gegeben, oder?«, fragte ich in die drückende Stille hinein.

»Wie meinst du?«

»Unsere Fachbereiche verbringen jedes Wintersemester ein gemeinsames Schreibwochenende an der Nordsee. Immer im selben Bed & Breakfast, das …«

»Ihr fahrt im Winter an die Nordsee?«, unterbrach Gregor. »Wäre das im Sommersemester nicht schlauer?«

Ich biss mir auf die Zunge, bevor ich zuckersüß erwiderte: »Nicht ihr, sondern wir, Gregor. Das Bed & Breakfast gehört einem Alumni, wir könnten ihn für den Podcast interviewen. Kannst du dir das übernächste Wochenende einfach frei halten? Du weißt schon, so als Co-Moderator von Campuskitsch ?« Der letzte Satz war unter der Gürtellinie, doch meine Geduld neigte sich dem Ende zu.

»Klar«, sagte er leise und beendete damit unser Gespräch.

Im Untergeschoss kramte ich den Schlüssel für das Archiv hervor. Die Luft war kühl und abgestanden. Es roch alt, nach Geschichten und Geheimnissen. Die Luft zwischen Gregor und mir war noch immer viel zu schwer. Worte waren Macht und Schweigen war Vernichtung. Wir versuchten, uns gegenseitig wortlos kaltzumachen.

Nachdem ich das Licht im Archiv angeknipst hatte, starrten uns mehrere Dutzend Regalfächer entgegen. Ich wusste, dass die Ordner darin alphabetisch angeordnet waren. Trotzdem erschienen sie mir wie das reinste Chaos. Ich legte meine Tasche ab und umarmte mich selbst. In meinem Hals steckte ein Kloß. Er schmeckte nach all den Gefühlen, die ich jemals hinuntergeschluckt hatte.

»Tada«, murmelte ich ironisch. »Das Fotoarchiv.«

Mit einem dumpfen Geräusch stellte auch Gregor seinen Rucksack ab. »Dann sehen wir uns am besten zuerst die Fotos von Niels Zimmermann an, bevor wir zu Themen brainstormen, oder?«

Bei jeder anderen Person hätte ich gelächelt, übermotiviert geklatscht und Legen wir los! verkündet. Doch jede andere Person war nicht Gregor. Ich holte tief Luft und versuchte, mir vorzustellen, was ich von Gregor halten würde, wenn ich ihn nicht schon gekannt hätte. Lange Glieder, große Statur, ein zusammengewürfeltes Outfit. Er war schlank und gleichzeitig muskulös, gerade ein Level über Joggen-Klettern-Wandern-Muskeln. Definiert, aber nicht aufgepumpt.

Heiß.

Oh Gott.

Gregor war heiß, doch nicht auf die aufdringliche und chronisch-zweideutige Weise. Sein Gesicht war nicht symmetrisch, der Mund immer noch zu groß und die Nase zu schief, aber es machte ihn interessant. Sein Haar: nachtschwarz und lockig, wuschelig und anziehend. Was mich allerdings am meisten beeindruckt hätte, wäre niemals sein Aussehen gewesen. Es war die Art, wie er sich bewegte, so aufrecht und fließend. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben sollte. Allein, wie er durch die Gänge schritt, war unendlich selbstbewusst. Und trotzdem wie auf der Hut. Als pumpte weiterhin diese Unsicherheit in ihm, die nicht mit seinen Fitnessstudiomuskeln harmonierte.

Gregor steuerte die Regale an. In Gedanken krempelte ich die Ärmel hoch und versuchte, alles beiseitezuschieben. Wir wollten die fotografischen Arbeiten von Niels Zimmermann sichten. Am besten sollten wir gleich danach versuchen, das Interview zu gliedern. Es war Arbeit. Recherche. Allerdings spielte es keine Rolle, wie oft ich mir das in den nächsten Minuten einredete. Gregor blieb Gregor.

Ich sah nur ihn aus dem Augenwinkel.

Ich hatte nur sein Waschmittel in der Nase.

»Das ist doch diese Emma, oder?«, wollte er nach einer Weile wissen.

Mittlerweile hockten wir an dem Tisch, er an einem und ich an dem anderen Ende. Beide unsere Notebooks waren aufgeklappt. Wenn ich tippte, echote jede Tastenberührung im Raum nach. Er hingegen verursachte keinen einzigen Laut. Als schrieb er gar nicht, als atmete er nicht einmal. Er war still und attraktiv hinter seinem Laptop, ganz in seinem Element. Rein objektiv betrachtet natürlich.

Zwischen uns waren etliche Schwarz-Weiß-Fotografien ausgebreitet, die verschiedene Personen mit derselben Pastaverpackung zeigten. Unvermittelt nickte Gregor auf das Foto links oben, das ich nun begutachtete. Eine Frau mit riesigen Augen und Grübchengrinsen lächelte mir entgegen, während sie eine Schachtel Penne umarmte. Ich mochte ihre zerrissene Strumpfhose und die übergroße Bomberjacke. Zweifelsfrei sah Emma Visser aus wie die künstlerische Fotografiestudentin, die sie gewesen war. Diese Aufnahme hätte sie problemlos auf Instagram hochladen und es mit einer Beschreibung à la I love carbs #fearnofood versehen können.

»Diese Alumni, über die du das Porträt schreibst, meine ich. Hab letztes Wochenende in Niels’ Autobiografie geblättert, sie kam auch darin vor. Sie war wohl sehr …« Gregor erzählte weiter, von Alumni, als wären wir wirklich nur Co-Moderatoren.

Und ich wollte so sehr, dass wir das waren, aber mein Herz war blau und traurig, sobald ich ihn nur ansah.

»… deshalb denke ich auch, dass es die richtige Entscheidung war, die neue Staffel mit Niels zu eröffnen, er ist so …«

Ich hielt es nicht mehr aus. Ihn. Mich. Alles.

»Ich glaube, es gibt da noch eine andere Kiste mit Fotos«, unterbrach ich ihn unvermittelt.

Gregor musterte mich überrascht, während ich mich aufrappelte und in Richtung Regale tappte. Dabei spürte ich seinen Blick auf meinem Rücken, doch es dauerte keine fünf Sekunden, bevor er sich wieder abgewandt haben musste. Garantiert schrieb er weiter. Ich hasste ihn dafür. Er konnte einfach so weitertippen. Wieso war ich nicht so gleichgültig? Warum war ich so dermaßen empfindlich und musste immer überdramatisieren? Und von welchen verdammten Fotos hatte ich bitte geredet?

Seufzend kniete ich mich zu Boden, um pseudomäßig eine Kiste vom unteren Regalbrett zu ziehen. Doch ich war nicht bei der Sache. Schließlich wusste ich, dass Gregor jetzt hinter mir hockte und wie er in einem anderen Leben einen Sommer lang an einem See direkt neben mir gehockt hatte.

»Alles okay?«

Ich musste abgedriftet sein. Beim Klang seiner Stimme zuckte ich nämlich so heftig zusammen, dass ich nicht einmal bemerkte, wie mein Griff sich von der Kiste löste. Ich konnte bloß blinzelnd zusehen, wie gefühlt eine Million Fotografien auf den Boden segelten.

»Scheiße«, fluchte Gregor und erhob sich unter Quietschen der Stuhlbeine. »Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Sorry. Schon wieder.

Hastig streckte ich mich nach vorn, um nach den Fotos zu greifen. Keine Ahnung, ob er das Zittern meiner Finger bemerkte. Doch es war mir egal. Egal, egal.

Als ich mich nach vorn lehnte, um nach diesem Schwarz-Weiß-Bild zu greifen, verharrte ich. Ich hörte etwas hinter mir rascheln, bis ich begriff, dass Gregor sich demselben Bild entgegenbeugte. Er musste sich strecken, sodass sein Hoodie dieses entscheidende Stückchen verrutschte. Hätte ich nach unten gelinst, hätte ich einen Streifen nackte Haut über seiner Hüfte erkennen können. Aber mein Blick blieb starr nach vorn gerichtet, während ich ihn neben mir atmen hörte.

Unsere Finger streiften sich über dem Bild.

Es war eine unschuldige Berührung, federleicht und flüchtig – doch sie reichte. Flüssige Stromschläge durchfluteten meinen Körper.

Was. Zum. Teufel?

Zögerlich wandte ich den Kopf nach rechts, wohl wissend, dass ich es bereuen würde. Dennoch kam ich nicht dagegen an. Es war nur eine Berührung, aber sein Blick verdunkelte sich. Er begann zu glühen, die Pupillen weiteten sich. Dann hielt Gregor die Luft an, ich konnte es sehen, seinen Atem auf meiner Haut spüren, weil wir uns so nah waren.

WAS. ZUM. TEUFEL?

Die Worte lagen mir auf der Zunge, aber er war schneller.

»Fuck, Lu«, flüsterte er unendlich rau.

Als hätte ich mich an seinem dunklen Blick geschnitten, sprang ich auf. Mit brennenden Wangen suchte ich nach dem Foto, das Emma mit zwei weiteren Personen zeigte, doch Gregor schloss die Kiste bereits.

Fuck, Lu.

Wie konnte er es wagen, das zu sagen, so verflucht leise und tief? Meine Hände ballten Fäuste, weil ich wütend auf ihn war. Ein viel größerer Teil meiner Wut galt allerdings mir selbst. Wie konnte es sein, dass mein Körper derart heftig auf ihn reagierte, nach all der Zeit?

Das wäre eine perfekte Frage für meine Notizen. Sie jetzt zu öffnen, war jedoch keine Option. In meinem Kopf brannten Synapsen durch, bevor mir stattdessen andere Worte aus dem Mund stolperten.

»Wieso?« Meine Stimme bebte. Ich spürte, wie es hinter meinen Augen brannte. Krampfhaft blinzelte ich die Tränen zurück.

Nun erhob sich auch Gregor. »W…was?«

In einem anderen Szenario wäre der Grund für sein Stottern ein Gewinn gewesen, in diesem fühlte es sich allerdings nicht danach an.

»Wieso hast du dich nicht mehr gemeldet?«

Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Zwei, drei, viel zu viele Sekunden starrte er mich an. »Ich …« Er setzte an, nur um abzubrechen.

Es schmerzte.

Eigentlich schmerzte in diesem Moment alles.

Natürlich hätte ich mich selbst dafür verfluchen können, dass mir diese Frage überhaupt herausgerutscht war. Aber wie hätte sie auch nicht?

»Ich will keinen Streit«, begann ich also. »Aber ich krieg es nicht hin, dich anzuschauen und mir einzureden, das alles beiseiteschieben zu können. Nicht, wenn du mich genauso ansiehst. Wenn du mich dann auch noch Lu nennst. Ich will die Wahrheit, damit wir weitermachen können und ich abschließen kann. Vor allem, wenn wir jetzt diesen Podcast zusammen haben, also …«

Sein Adamsapfel sprang unruhig auf und ab, während er die Finger seiner linken Hand in der Jeanstasche vergrub. Als wäre sie an allem schuld. Und womöglich war sie das sogar.

Mit seiner Hand hatte es damals begonnen.

Als wir uns jetzt ansahen, sah ich nicht ihn, sondern seltsamerweise alles. Den See, in dem wir geschwommen waren. Wie ich das geliebt hatte, bis ich mich verliebt hatte. Wir hatten diese Art von Wochen miteinander verbracht, über die Leute Bücher schrieben. Es waren sonderbare Wochen in einer sonderbaren Zeit mit einem sonderbaren Menschen , so etwas sagten sie dann. Und es stimmte. Im Großen und Ganzen sollte ich froh sein, dass ich diese Art von Liebe erlebt hatte. Davon träumten einige Menschen ein Leben lang, ohne sie je zu spüren. Ich hatte Gregor nicht nur auf diese achtzehnjährige Weise geliebt.

Ich hatte ihn gekannt und gefühlt.

Ich hatte nie wieder einen Menschen nach ihm gefühlt.

Im Hier und Jetzt betrachtet, erschienen die Wochen in Berlin jedoch kein bisschen erstrebenswert. Sobald wir unsere Zeitkapsel berührten, war ich entweder wütend, deprimiert oder beides.

Anstatt mir zu antworten, presste Gregor die Lippen aufeinander, bis er mich ein weiteres Mal mit seinen tiefdunklen Augen fixierte.

»Ganz ehrlich?« Angestrengt stieß er die Luft aus. »Ich weiß auch nicht, wieso ich mich damals so verhalten habe, Lucy.«

Ich konnte nicht atmen.

Ein Teil von mir starb. Es war der, der sich Hoffnung nannte und sich über Monate hinweg Oscar-würdige Gründe für Gregors Funkstille zusammengesponnen hatte: Ich habe ihm die falsche Nummer gegeben. Ich habe ihm die richtige gegeben, aber er hat sein Handy verloren und kein Back-up gemacht. Sein iPhone wurde geklaut. Er wurde überfallen. Als er mir gerade eine Nachricht mit Herzsmiley getippt hat, wurde er von einem undokumentierten Tsunami in Berlin erfasst und ist gestorben.

Es war dieser heuchlerische Mist, der so großartig in Filmen funktionierte. In der Realität hatte der Typ sein Handy. Deine Nachricht war angekommen. Es gab keinen technischen Fehler. Wenn Personen dir nicht zurückschrieben, geschah das bloß aus einem Grund: Sie wollten es einfach nicht.

Ich wusste das. Ich wusste das so gut.

Dennoch starrte ich Gregor entgegen, als würde noch etwas kommen. Schließlich konnte das nicht alles sein, wenn unsere Finger vor wenigen Minuten wortwörtlich voneinander elektrisiert waren, oder?

Ich weiß auch nicht, wieso ich mich damals so verhalten habe.

Das war lächerlich. Unbefriedigend. Wohl kaum die Wahrheit.

Zeitlupenartig konnte ich beobachten, wie sich ein glasiger Schimmer über Gregors Augen legte. Dabei stand sein Mund offen, als würde er dort nach Worten suchen, wo es keine Worte mehr gab.

Er hatte schlicht alles gesagt.

So einfach war das mit der Wahrheit.

Ich weinte erst zu Hause.