Kapitel

Gregor

CAMPUSTRÄNEN

nIcHt MäNnLicH

Liebe Lucy, mein Exfreund und ich sind seit einem halben Jahr getrennt. Es tut immer noch weh. Was soll ich tun?

Wenn mich jemand nach Tipps gegen Liebeskummer fragt, denke ich immer an Tariq. Tariq und ich arbeiteten einen Sommer lang in einem Eiscafé. Tariq hatte eine Schwäche für versehentliche Sein-Schoß-streift-meinen-Hintern-Berührungen, wann immer wir gemeinsam an der Theke standen. Er war schmierig und aufdringlich, aber er brachte mir in den Pausen heimlich bei, wie man die schönsten Obstbecher kreierte. Einmal höhlten wir eine Honigmelone murmelförmig aus, während ich ihn mit meinem Liebeskummer zutextete. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens: Ich wollte ihm klarmachen, dass ich kein weiteres Interesse an Dein-Schwanz-berührt-meinen-Po-Berührungen hatte. Zweitens: Ich nutzte jede Gelegenheit, die sich mir bot, um über Will zu sprechen. Schließlich sagte er: Stopp, Lucy. Du musst aufhören, dir einzureden, der Typ würde an dich denken. Wenn es zwischen euch wirklich so magisch gewesen wäre, würde er dir schreiben. Tut er aber nicht. Er denkt nicht an dich. Punkt. In diesem Moment fand ich den Kommentar ziemlich gemein, doch tief in mir drin wusste ich sofort, dass er recht hatte.

Er denkt nicht an dich. Punkt.

Tariq hatte mir das gesagt, was ich nicht hören wollte. Das, was keine meiner Freundinnen sich traute auszusprechen, weil man nicht auf Verletzte zielte, die blutend vor einem lagen. Und das hatte ich den gesamten Sommer lang getan. Weinend auf meinem Teppich, schluchzend auf Lenis Schlafsofa und tränenverschmiert in unserer Hängematte. Immer auf dem Rücken, mit dem Schmerzherz zur Decke.

Davon wusste Tariq natürlich nichts. Er drückte mir bloß lächelnd den Fruchtlöffel in die Hand, als hätte er mir gerade nicht herzlos ins Herz geschnitten. Mittlerweile ist das zweieinhalb Jahre her. Ich denke nur noch selten an meinen Stracciatella-Sommer mit extra Sahne. Wenn mich jemand allerdings nach meinem besten Ratschlag gegen Liebeskummer fragt, erinnere ich mich daran.

Er denkt nicht an dich. Punkt.

»O-ha.«

Beim Klang dieser bestimmten Stimme verflüssigte mein Herz sich zu einer jämmerlichen Pfütze. Doch ich sah nicht von meinem Handy auf. Immerhin war die Stimme nicht echt. Ihre Besitzerin konnte nicht hier in diesem Café sein, also scrollte ich weiter, als …

»Äh, Erde an Gregor?«

Jemand berührte mich an der Schulter und ich erstarrte, weil es keine Einbildung war. Mit zuckendem Kiefer sah ich von meinem Handy auf. Und tatsächlich: In einer schimmernden Lederleggins ließ sich Isa gegenüber von mir nieder. Ungefragt. Unangebracht. Und unglaublich breit lächelnd. Schlürfend nippte sie an ihrem Heißgetränk, wobei sie den Blick über mein Handydisplay fliegen ließ. Ringsum plätscherte nervige Chartmusik aus den Lautsprechern, während drei Tische weiter Zimtschnecken mit dem neuesten iPhone abgefilmt wurden. Zugegeben: Das Leyla’s war nicht die beste Lösung. Es beinhaltete das Hipster-Klientel mit ihrem duftenden Hipster-Chai-was-weiß-ich-Drinks umgeben von grün sprießenden Hipster-Pflanzen. Doch von meiner Wohnung war es bloß fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt und das war ein großes Plus. Ich durfte nicht wählerisch sein. Ich hatte eine Deadline und musste schreiben. Doch daraus würde nun nichts mehr werden. Denn vor mir saß Isa. Ich meine, ISA mit ihrem schwarzen kinnlangen Haar und den dunklen Brauen. Ihre Gesichtszüge waren symmetrisch und perfekt, die chronisch gerümpfte Nase verlieh ihr einen Touch scheinbarer Arroganz. Ihre Nägel glitzerten gefährlich wie eine Discokugel, während die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen sie besonders machte wie unverkennbare Modeikonen. Sie war eine moderne Coco Chanel mit Yogamatten von Mala.

Isabel war schön und sie wusste es und eigentlich wussten es alle.

Statt zu antworten, musterte ich erneut ihr glänzendes Haar, dann ihr strahlendes Gesicht. Sogar der Schein der Glühbirnen reflektierte auf ihren Nägeln, als sie mir unverfroren das Handy aus der Hand schnappte.

»Oh mein Gott, niemals!« Verwundert sah sie auf. »Der Anti-alles-Gregor kennt @thegirlnextdoor? Ich …«

»Isa.« Meine Stimme war eisig. »Was. Zur. Hölle. Machst. Du. Hier?« Ich spuckte jedes Wort einzeln aus, wobei mir egal war, dass die Besucherschaft mir irritierte Blicke zuwarf.

Doch davon ließ sich Isa nicht beeindrucken. Sie sank bloß tiefer in die cognacfarbene Sesselbank und blickte mir mit funkelnden Augen entgegen. Verflucht noch mal alles an Isa harmonierte mit den goldfarbenen Blumentöpfen und den Tischen in Marmoroptik. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, einfach zu passen. Denn Isa war edgy , aber auf die ästhetische Art. Auf diese romantisierte Weise, in der man Schlafstörungen Insomnia nannte wie ein melodisch klingender Mädchenname mit a.

Es war nicht meine Art von Abgefucktheit.

Kurz flackerte die Erinnerung daran auf, wie Brenner mich beim Schreiben erwischt hatte. Er wäre mir in jedem Szenario lieber gewesen.

»Noch mal«, flüsterte ich zischend. »Was tust du hier?«

»Na, was wohl? Ich habe dich gesucht.« Sie drehte mein Handy zwischen den Fingern. »Und endlich gefunden. Bevor wir zur eigentlichen Sache kommen, eine Frage.«

»Die wäre?«, presste ich hervor.

»Machen wir einen Deal?«

»Deal?«, murmelte ich fassungslos.

»Ist das ein Ja?«

»Das ist ein ganz fettes Nein. Weil – schade Schokolade – die mach ich nicht mehr mit dir.«

»Schade Schokolade?«, wiederholte sie belustigt. »Sagt man das bei euch so in Berlin?«

Ich presste die Lippen so fest aufeinander, dass es schmerzte. Instinktiv wurde mir warm. Vor Wut.

Es gab keinen Menschen, der mich so zur Weißglut trieb wie Isa. Manchmal musste sie nur atmen und ich hasste sie. Manchmal war heute. Und gestern. Und letzte Woche. Dieses manchmal war genau genommen jeder Tag im letzten Jahr gewesen.

Sie streckte die Hand aus. »Okay, okay, ich erkläre ihn dir zuerst. Du gibst mir deinen Schlüssel und ich dir dein Handy, Deal?«

»Haha, guter Witz.«

»Haha, gute Fake-Lache.«

Tickticktick.

In meiner Vorstellung hörte ich die Zeiger der Wanduhr, während ich schwieg. Schließlich schob sie das Handy doch über den Tisch hinweg zu mir. Langsam wie eine fucking Friedensfahne.

»Komm schon.« Sich ergebend hob sie die Hände. »Wie wäre es, wenn du mir jetzt deinen Schlüssel gibst, damit ich zu Hause auf dich warten kann? Ich bin extra für dich hergefahren.«

»Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?« Ich ballte Fäuste. »Und dass ich hier bin?«

»Na, na, na, na ich beantworte die Fragen erst, wenn du zustimmst, dich wie eine erwachsene und reife Person mit mir zu unterhalten.«

Ihre Stimme klang hell und gleichzeitig bestimmend. Vielleicht dachte sie, sie wirke wie eine Mutter, die ihren Sohn gerade beim Pornoschauen erwischt hatte. Und das war einfach nur krank. Immerhin war es bloß ein Post von @thegirlnextdoor gewesen. Ein Beitrag von Lucy. Natürlich hasste ich diesen ganzen Social-Media-Kram, aber was sollte ich sagen? Ich hatte nie geplant, mir nach ihrem gestrigen Abgang einen Account auf Instagram und TikTok zu erstellen – und hatte es dennoch getan. Vielleicht lag es an ihren Augen, wie sie ausgesehen hatten, bevor sie aus dem Raum gestürmt war. Riesig und grau und glasig, ohne dass ihr eine Träne die Wange hinabgelaufen war. Doch Lucy hatte nicht weinen müssen, damit ich mich wie das größte Arschloch überhaupt fühlte.

Ich weiß auch nicht, wieso ich mich damals so verhalten habe.

Es war wahr und gelogen zugleich. Mal wieder. Ich fragte mich, ob Ambivalenz mein heimlicher zweiter Vorname war.

»Anderer Vorschlag«, presste ich hervor. »Du haust ab und kommst nie wieder.«

»Aber ich habe gerade kein Zuhause.«

Meine Brust vibrierte. Lachte oder schnaubte ich? »Weißt du, was?« Ich griff mir den Laptop von der Tischplatte. »Das ist mir ehrlich gesagt zu dumm. Bleib ruhig an meinem Platz sitzen, an dem ich eigentlich wegen meiner Deadline arbeiten wollte. Kein Problem, Isa. Schnei einfach weiter in mein Leben und verschweig mir die wichtigen Sachen, als wäre nichts dabei. Ist ja nicht so, als hätte ich einen Haufen Dinge zu tun. Nein, alles dreht sich immer nur um dich.« Ich sprach weder laut noch leise. Das Zittern in meiner Stimme hörte man nicht heraus, weil ich jahrelange Erfahrung darin hatte, es zu unterdrücken.

Die Leute starrten uns trotzdem entgegen, aber es interessierte mich nicht. Ich nahm die Jacke vom Stuhl, schulterte den Rucksack und ging. Sollte Isa doch heute Abend vor meiner Tür stehen, wenn sie anscheinend wusste, wo ich wohnte. Ich würde sie ignorieren so wie sie mich. Sie hatte angefangen mit dem Spiel, also musste sie es jetzt auch zu Ende führen.

Das Problem mit Isa war allerdings, dass sie sich nie an die Regeln hielt. Sie hatte eine Abneigung gegenüber Gesetzen wie andere gegenüber schwarzen Oliven mit Kernen. Regeln? Hm, nein, sorry, leider nicht mein Geschmack.

Ich hatte nicht einmal die Kreuzung zweihundert Meter weiter erreicht, als sie mich einholte. Fest krallte sie die Hand um meine Schulter, damit ich mich umdrehte.

Ihre Augen schlitzten sich.

Mein Herz schwoll auf Kometengröße an.

»Was soll das eigentlich?« Trotzig verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper. Sie musste aus dem Café gehechtet sein. Ihre Jacke war geöffnet und der schwarz-weiß karierte Schal saß auf Halbmast. »Hör endlich auf wegzulaufen. Das bringt uns nicht weiter. Es erinnert mich nur ständig daran, dass ich öfter ins Gym müsste, und lässt dich dafür wie sechs wirken. Scheint mir nicht besonders erstrebenswert.«

»Ich laufe nicht weg.« Ich rollte mit den Augen. »Du läufst mir einfach nur hinterher.«

Sofort trat sie einen Schritt zurück und bewies mir damit, wie sehr ich sie mit allem getroffen hatte. Da wusste ich, dass es hässlich werden würde.

»Ganz ehrlich?«, begann sie. »Wir sind beide zweiundzwanzig. Erwachsene. Ich werde nicht behaupten, dass ich mich perfekt verhalten habe, weil das offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht.« Ihre Nasenflügel blähten sich auf. »Das gibt dir allerdings trotzdem nicht das Recht, mich so zu behandeln. Ich habe mich entschuldigt. Ein, zwei, drei Millionen Mal, aber du willst mir nicht verzeihen. Du willst dein beschissen trauriges Leben mit deiner beschissenen gebrochenen Künstleraura leben. Garantiert redest du dir sogar ein, dass du den Schmerz und die ganze Melancholie für deine Texte brauchst. Und weißt du, was? Mach doch. Leb dein kleines Leben, in dem du dich nur groß fühlst, wenn du unwichtige Buchverträge unterschreibst. Hol dir auf dein erstes Hardcover einen runter. Sei ruhig allein und leide. Ist mir egal. Ist mir SCHEISSEGAL. Eigentlich ist es sogar allen scheißegal. Denn wieso sollten wir uns weiterhin um dich sorgen, wenn du uns nicht mal zurückrufen kannst?«

Isas Stimme brach und das war gegen ihre Regeln. Genauso wie die Träne, die an ihrem Gesicht hinabsegelte. Sie war nicht klar, sondern schwarz und schmierig wegen all der Schminke. Isa wischte sie allerdings nicht weg. Nein, Isa stand zu allem, was sie tat, vor allem zu ihren Gefühlen. Wenn sie traurig war, konnte es die ganze Welt ruhig wissen. Die glitzernd schwarzen Striemen trug sie wie einen Make-up-Trend im Gesicht.

Mein Herz pochte heftig. Vor meinem Sichtfeld verschwammen Passanten mit verblassten Straßenschildern zu einer grauen Masse. Nur Isa blieb gestochen scharf.

»Allein, dass du mir jetzt nicht mal antworten kannst.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist so lächerlich. Und erbärmlich. Und egoistisch. Und feige. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Du stehst hier wie bestellt und nicht abgeholt, als hättest du keine Ahnung, was überhaupt abgeht. Du bist so passiv, Alter.«

Mein Mund öffnete sich. Ich wollte etwas sagen. Aber ich schaffte es einfach nicht, während die vorbeischlendernden Menschen uns zweite Blicke zuwarfen. Wir stritten uns schweigend. Das konnte niemand wissen. Trotzdem starrten sie, als wären wir eine Sensation in Großbuchstaben.

Ich kannte den Grund. Ehrlich gesagt hatte ich ihn noch nie nicht gekannt. Mit springendem Kehlkopf sah ich Isa in die Miene. Ihr Gesicht war ebenso blass wie meins, bei ihr hingegen wirkte es gewollt. Das Haar war in Wahrheit gelockt wie mein eigenes, aber sie ließ es sich für Hunderte von Euros permanent glätten. Selbst ihre Lippen waren einen Tick zu groß, doch sie wurde darum von allen beneidet.

Isas Gesicht war eigentlich mein Gesicht.

Mich hatte es noch nie ohne sie gegeben, sie nicht ohne mich. Ihre Gedanken hatte ich nie lesen können und wusste dennoch jederzeit, was sie dachte. Immer. Ich kannte sie besser als mich selbst, aber für sie galt das nicht.

Niemand wusste, wer ich war. Nicht einmal sie.

»Ganz ehrlich?« Meine Zwillingsschwester lachte schrill. »Fick dich einfach, Gregor.«

Absatztrenner

Donnerstag, 14:25  Uhr

Von: olga.sokolow@schulze-agentur.de

An: gregorbeck@gmail.com

Betreff: Kurzes Update

Lieber Gregor,

bevor ich dich wieder überfalle: Hättest du kurz Zeit für ein Telefonat?

Liebe Grüße

Olga

Ich warf einen nervösen Blick über die Schulter. Ein Typ mit kurz geschorenen Haaren schlurfte mit einem Bücherstapel durch die Gänge. Ich wägte ab, sitzen zu bleiben und Olga von meinem Arbeitsplatz aus anzurufen, entschied mich jedoch dagegen. Hinterher würde ich für mein Telefonat zig Killerblicke ernten. Also schloss ich den Laptop, schnappte mir den Proteinshake und steuerte den Ausgang der Bib an. Etwas abseits vom Gebäude positionierte ich mich und wählte Olgas Nummer. Das war aktiv und nicht passiv, oder? Außerdem … wie schlimm konnte es schon werden? Garantiert wollte Olga nur nachhaken, wie weit ich war. Vielleicht hatte sich auch einer der Verlage zum wiederholten Mal nach meiner Idee erkundigt, was krass war.

Alle wollten mein Buch.

Neunundneunzig Prozent der Schriftsteller kamen nicht einmal so weit wie ich. Ich hörte, wie es tutete, und schwor mir, mich nach dem Telefonat endlich zusammenzureißen.

Ich war undankbar und hielt alles für selbstverständlich, was einfach nur ekelhaft war.

»Literaturagentur Schulze, Olga Sokolow, mit wem spreche ich?«

»Hey, Olga.« Meine Stimme klang kratzig, doch sie kannte es nicht anders. »Ich bin’s.«

»Oh! Hallo, Gregor! Wie schön, dass es so schnell geklappt hat. Hab ich dich beim Schreiben erwischt?«

»Ja, äh, so ähnlich.«

»Ach, ich liebe deinen Humor«, flötete sie, während es im Hintergrund raschelte. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich habe leider nicht so gute Neuigkeiten, deshalb musst du mir versprechen, stark zu bleiben, okay? Hartmann … Hartmann und Krüger hat leider abgesagt, Gregor.«

Krampfhaft blinzelte ich vor mich hin.

Hartmann und Krüger hat abgesagt. Hartmann und Krüger hat abgesagt. HARTMANN UND KRÜGER HAT ABGESAGT.

Es war zu abstrakt. Zu absurd. Es konnte nicht wahr sein. Aber Olga sprach weiter und na ja, das klang schon ziemlich real.

»Es tut mir so leid. Ich weiß, es war dein Wunschverlag, allerdings hat Anja Röther letzte Woche ein ähnliches Projekt reinbekommen und konnte nicht mehr auf das ganze Manuskript warten. Sie hat beteuert, wie sehr sie es bedauert, uns ablehnen zu müssen. Sie ist weiterhin von deinem Talent begeistert und ist sich sicher, dass man viel von dir hören wird. Sie hat betont, dass dir ihre Tür weiterhin offen steht und man zukünftig noch mal über andere Projekte reden könnte, was ich prinzipiell befürworten würde, aber …«

Olga hielt inne, damit ich etwas erwidern konnte, in meiner Kehle wuchs allerdings gerade ein kontinentgroßer Kloß an. Links lachten drei Freundinnen, bevor sie die Tür zur Bib aufzogen. Doch das sah ich bloß. Ich hörte es nicht. Da waren nur mein Herzschlag und Olgas Atmen.

»Aber«, fuhr sie fort, als ich nicht reagierte, »ich finde, dass wir uns weiterhin nur auf das jetzige Manuskript konzentrieren sollten. Wir haben einen Haufen von interessierten Verlagen. Sobald wir den finalen Text abschicken, werden Angebote eintrudeln. Da bin ich mir sicher.«

»D…das … das klingt doch eigentlich ganz gut?«

»Ja«, sagte Olga sofort. »Natürlich klingt das gut! Das wird super. Dein Manuskript wird das beste Verlagszuhause bekommen, dafür sorge ich. Und bitte zerbrich dir über Hartmann und Krüger nicht den Kopf. Es war schlicht nicht der richtige Zeitpunkt.«

Mit glühenden Fingerspitzen umklammerte ich das Handygehäuse fester, während es mir in den Schläfen pochte.

BOOMBOOMBOOM, BOOMBOOMBOOM, BOOMBOOMBOOM.

Ich war gefährlich wie eine unberechenbare Explosion. Tja, damit war die Sache wohl klar: Die größte Gefahr für mich war immer ich selbst. Vielleicht gab es dafür ja ein Gegenmittel auf einem Selbstliebe-Instagram-Kanal.

»Übrigens, nur so als kleine Randnotiz, die Gold wert sein könnte«, sagte Olga. »Abstand wirkt manchmal wahre Wunder.«

Abstand?

Am liebsten hätte ich gelacht, doch es reichte schon, dass ich der unzuverlässige Autor war, der nicht einmal seine Deadlines einhielt. Also riss ich mich zusammen, bevor Olga zwei Momente später auflegte. Erst als ich mir mit der Hand über das Gesicht fuhr, bemerkte ich, dass meine Finger zitterten. Um mich herum hörte ich unbekanntes Lachen und angeregte Unterhaltungen. Fremde bissen in geviertelte Äpfel, während sie Monster-Dosen mit einem Zischen öffneten.

Und ich es einfach nicht mehr aushielt.

Meine Beine würden nachgeben, wenn ich auch nur eine Sekunde weiter still, ratlos und tatenlos herumstehen würde. Endorphine. Mein Körper und ich, wir brauchten dringendst Endorphine. Schüttete man die nicht automatisch beim Spaziergehen aus? Hatte ich das nicht irgendwo gelesen? Keine Ahnung. Und keine Ahnung. Ich wusste bloß, dass ich etwas tun musste, also setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ziellos umrundete ich den Campus, bei dreizehn Grad in einem verfluchten T-Shirt. Ich war ein Mann, weder hart noch dominant. Ich empfand Schmerz sowie Kälte, doch ich fror nicht.

Ich fror nie.

Ich musste ein Schnauben unterdrücken. Wie bescheuert war das überhaupt? Ich konnte mich jedoch nicht lange damit aufhalten. Denn wie ein Musikexpress auf der Sommerkirmes drehten sich die Gedanken in meinem Kopf schwindelig.

Isa, Anja, Olga.

Du bist so passiv, leider zu spät, Abstand wirkt Wunder.

Ersteres stimmte. Die Verspätung war meine Schuld, der Tipp meiner Agentin hingegen war für den Arsch. Ich rieb mir die Nägel an der Jeans und realisierte, dass ich mein Notebook unbeobachtet in der Bib stehen gelassen hatte.

Wieso zur Hölle war mir das bloß so verdammt gleichgültig?

Du bist so passiv, du bist so passiv, du bist so passiv.

Innerlich fluchend checkte ich mein Handy, weil … ja, was erhoffte ich mir eigentlich? Dachte ich ernsthaft, Isa würde mir eine Entschuldigung schicken?

Sie hasste mich jetzt, was eine Tatsache war. Genauso wie die, dass meine Agentin bloß nett zu mir war, weil sie sich durch mich eine Hammerprovision erhoffte. Das würde sich allerdings ändern, wenn ich ihr kommende Woche nicht die nächsten fünfzig Seiten schicken würde. Weil ich offensichtlich unfähig dazu war.

Was stimmte nicht mit mir? Ich musste keine Knochen während lebenswichtiger Operationen durchsägen, trug keine Verantwortung für Hunderte von Flugpassagieren und forderte meinen Körper nicht zehn Stunden auf einer Baustelle. Ich musste nur ein paar Buchstaben in ein Dokument bringen – und war damit um Längen überfordert.

Hinter meinen Lidern brannte es, heiß und salzig.

Der Wind. Meine Augen tränten, weil der Scheißwind zu brutal vor sich hin wehte. Das war eine absolut natürliche Reaktion. Es musste so sein, denn wenn das Wetter nicht schuld war, verdrückte ich gerade ernsthaft in der Öffentlichkeit Tränen und das war unmöglich. Schließlich war ich ein Mann, stark, emotionslos und alles, worüber Kollegah und seine Kollegen sonst noch so rappten.

Ich. Heulte. Gerade. Garantiert. Nicht.

Meine Beine trugen mich weiter über den Campus. Ich lief wie auf Autopilot. Das Ziel nannte sich Bloß weg , obwohl es das in meinem Autorenhamsterrad gar nicht gab. Eigentlich verarschte ich mich die gesamte Zeit über selbst.