Kapitel

Lucy

UNNAHBARKEITSLEBEN

#GenZ

»Das sagt ihr doch heute genauso, oder?« Erwartungsvoll blickte Niels uns an.

Seit einer halben Stunde zeichneten wir auf. Wir hatten ihn mit seinen Erfolgen angepriesen und dabei nicht mit Lob gespart. Niels Zimmermann war das Aushängeschild unserer Hochschule. Er trug einen edlen Rollkragenpullover und abgenutzte Chucks – die Uniform des Künstlers Ende vierzig. Der teure Pullover vermittelte, dass er Geld und Erfolg hatte, die Schuhe, dass er cool und nicht abgehoben war. Unsere Präsidentin Gerda Tulius nannte ihn in jedem Interview mit glasigem Blick eine Sensation.

Und jetzt saß ich dieser Sensation mit Dreitagebart gegenüber und konnte es wegen der Anwesenheit meines Co-Moderators nicht ausschöpfen. Ich beäugte Gregor kein einziges Mal, was gut funktionierte, weil er neben mir hockte. Trotzdem spürte ich ihn. Überall.

Aus dem Augenwinkel sah ich die Unterseite seines Arms, weil der Pullover hochgerutscht war. Haut, Sehnen, Knochen.

Ein Arm, Wagner.

EIN ARM.

Aber es war Gregors Arm.

»Kommt schon, Leute, lasst mich nicht hängen.« Niels lachte. »Wollt ihr mir ernsthaft erzählen, dass ihr mehr in den Seminaren als außerhalb davon lernt?«

Seine bedeutungsschwangere Pause rief mich auf den Plan. Hastig schaltete ich mich ein. Schließlich konnte Gregor dazu nichts sagen. Er war erst seit drei Wochen in Köln. Was hatte er in der Zeit schon gelernt? Wie er mir das gebrochene Herz noch einmal brechen konnte? Mit einem einzigen Satz, der Ich weiß auch nicht, Lucy lautete? Besprach man das im Mentorat, belegte man dazu Seminare oder bekam man eine Einführung in Minimaler literarischer Aufwand, maximaler Effekt ?

»Natürlich«, antwortete ich Niels lächelnd. »Die Veranstaltungen außerhalb der Unterrichtszeit sind äußerst wertvoll. Ich liebe zum Beispiel die Ausstellungen in der Berliner Straße total.«

»Ja, absolut! Ich dachte allerdings eher so an die Abende in heruntergekommenen WG-Küchen. Wenn man ehrlich zu sich selbst ist, ist das lediglich eine Kunsthochschule irgendwo in Nordrhein-Westfalen. Ein Bundesland weiter interessiert die niemanden. Aber wenn man hier ist, kommt einem alles so wichtig vor. Mann, es gibt so viele Momente, die ich gern ein zweites Mal erleben wollen würde.«

»Hast du einen bestimmten, den du gerne teilen würdest?« Gregors Frage kam wie aus der Pistole geschossen.

»Klar, deshalb bin ich hier, oder? Ihr wollt nur die geheimen Geschichten aus mir herausquetschen.« Niels wackelte mit den Brauen. »Superseltsam, aber ich musste sofort an diesen einen Abend denken. Meine Freundin und ich hatten Schluss gemacht. Wenn ich sagen würde, es sind Tausende Tränen meinerseits gefallen, wäre das die Untertreibung des Jahres. Vielleicht hatte ich sogar kurz überlegt, ein Fotoprojekt namens Shattered Hearts zu starten, was ich dem Himmel sei Dank wieder verworfen habe.« Er lachte. »Jedenfalls haben wir bei mir gebrainstormt. Quirin, Basti, Emma und ich. Genau da hat sie angerufen. Ich war superhibbelig, weil ich dachte: Was ist, wenn sie mich zurückwill? Wollte sie natürlich nicht. Sie wollte nur ihren Kaschmir-was-weiß-ich-Pullover wiederhaben, der noch bei mir lag. Per DHL-Express. Möööglicherweise bin ich mitten im Gespräch ausgerastet, weil ständig Worte wie Pullover , dringend und Mach das bitte gefallen sind. Vielleicht habe ich danach geweint, bevor meine Kommilitonen ihr letztes Geld für die Paketzustellung zusammengeschmissen, den Pullover meiner Ex verpackt und sich dabei meine Liebeskummermusik gegeben haben. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich nur, wie gut diese Zeit war. Ich hatte hier immer das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, versteht ihr?«

Zögerlich ließ ich den Blick nach links schweifen. Gregors Brauen waren zusammengezogen, seine vollen Lippen bildeten eine Linie. Die Gregor-Gerade , dachte ich, doch es war nicht der Moment, um mit alten Wortneuschöpfungen zu glänzen.

Ich wusste, er würde nichts sagen.

Ich wusste, er hatte nichts zu sagen.

Gregor war ein Einzelgänger. Er lebte in Word-Dokumenten und seiner eigenen Welt. Er war kein Teil eines Ganzen.

»Ich verstehe total gut, was du meinst.« Schnell rappelte ich mich auf. »Und ich finde auch, dass sich die Freundschaften hier total von denen in der Heimat unterscheiden.«

»Gott, ja«, stimmte Niels aufgekratzt zu. »Ich hab mich wie ein Alien gefühlt, wenn ich an den Feiertagen in die Provinz gefahren bin.« Belustigt ließ er nun auch seinen Blick auf Gregor fallen.

»Äh, ja«, sagte dieser schlicht. »Finde ich auch.«

Äh, ja, finde ich auch?

Das ist ein Podcast , wollte ich schreien. Wenn ich nicht so verbissen um die Co-Moderation gekämpft hätte, säße er gerade ohne mich hier und würde das mieseste Interview überhaupt führen. Keine Ahnung, ob er meine Gedanken hörte. Wahrscheinlich nicht. Unsere Verbindung war schließlich nichts weiter als ein romantisiertes Hirngespinst, das ich schon lange aus meinem Kopf geschmissen hatte.

Und … trotzdem. Trotzdem spürte ich seine Unsicherheit überdeutlich und zwang ein Grinsen auf meine Lippen. Erneut ergriff ich das Wort, bevor ich den Rest des Interviews leitete. Niels nahm meine vorbereiteten Themen dankbar an, während Gregor nur das Nötigste tat. Nicken, gestelzt lächeln, ab und an einen Satz dalassen.

Am Ende verabschiedete Niels sich von uns, ehe er zurück ins Maritim rauschte, um dort etwas mit Bekannten trinken zu gehen. »Ich freu mich immer, wenn ich in Köln bin«, sagte er glücklich und winkte uns ein letztes Mal zu.

Mit einem Kloß im Hals beäugte ich Gregor, der bereits den Rucksackreißverschluss zuzog. Dabei wirkten seine Bewegungen seltsam abgehackt und hektisch, als wäre er auf der Flucht.

»Ähm?«, fragte ich und bemerkte zu spät, dass es ein Fehler war, denn er stand schon mit einem Fuß in der Tür.

Er musste sich umdrehen. »Was?«, fragte er gehetzt.

Ich überlegte, ob er fliehen und vor mir flüchten wollte, aber als ob. Ich übertrieb und überdachte. Wahrscheinlich verplemperte ich bloß seine Zeit. Seine Füße tippelten vor sich hin, während er mich ansah, ohne mich wirklich anzusehen. Gregor hatte es drauf, seinen Blick so zu verschließen, dass man meinen könnte, er hätte überhaupt keine Gefühle. Das war ein Trick. Ein ziemlich hilfreicher und wertvoller, wenn man bedachte, dass er Anfang zwanzig war in einer Welt, in der alle unerreichbar und unnahbar wirken wollten.

Unnahbar, unerreichbar.

Die Worte echoten in meinem Kopf nach, während ich die Schultern zuckte. »Schon gut«, murmelte ich.

»Na dann.«

Sein Satz hallte wider, im Raum und in mir, während er ganz leise verschwand.