Kapitel

Gregor

ISA-ABGANG

immer ein bisschen seltsam, immer ein bisschen wie ich

Ihre Haare waren triefend nass.

Ich musterte zuerst die nassen Strähnen, dann ihr Gesicht. Trotzig wie ein Kind saß Isa vor meiner Haustür und streckte das Kinn vor.

»Was?«, blaffte sie. »Erst lässt du mich zwei Ewigkeiten lang hier warten und dann schaust du mich nur an?«

»Träume ich?«, fragte ich verwirrt, während ich den Schlüssel zwischen den Fingern drehte. »Oder sitzt du gerade wirklich klitschnass vom Regen in meinem Flur, nachdem du mir in Isa-Sprache gesagt hast, dass du mich nie wieder sehen willst?«

Doch sie ignorierte meine Frage und schloss die Augen, als müsste sie sich beruhigen. Als sie die Lider wieder aufschlug, schienen ihre Pupillen schwarz und entschlossen. Nichts war gut und Isa wollte alles verändern. So wie immer.

»Wir müssen reden.« Sie rappelte sich auf. »Das habe ich dir aber auch schon auf WhatsApp geschrieben.«

»Hab ich nicht gesehen.« War die Wahrheit.

Sie kniff die Augen zusammen. »Kannst du die Tür nicht einfach aufschließen?«

Meine Finger pressten sich so fest gegen die Schlüsselzacken, dass es fast blutete.

»Bitte«, fügte sie hinzu. Dabei bettelte meine Schwester nie.

Ich blies die Wangen auf, bevor ich tat, was sie verlangte. In meiner Wohnung schälte ich mich aus der nassen Jacke.

»Können wir am Tisch reden?«

Meine Schwester ließ mich nicht aus den Augen, die Hände fest ineinander verknotet. Sie hatte die Nägel violett angepinselt. Eindringlich konzentrierte ich mich auf unnötige Details, um die Fassung nicht zu verlieren. Hinterher würde mir mein Filter noch abhandenkommen und ich würde ausrasten, hässlich und trashig wie auf RTL2.

Was zur Hölle machst du schon wieder hier? Ich muss schreiben, checkst du das nicht? Haben wir uns für heute nicht schon genug gestritten? Wird das jetzt unsere Routine? Wenn ja, können wir sie ändern? Wenn nein, kannst du dich einfach aus meinem Leben verpissen, wie wär’s? Bitte, Isa. Bitte geh einfach.

»Sicher doch«, antwortete ich und nickte in Richtung Küche. Dort faltete sie die Hände wieder ineinander, bevor sie ihr Geständnis ablegte.

»Ich bin hier, um mich zu verabschieden. Ich werde gehen. Deshalb war ich vorhin auch im Café. Auf Find Friends sind wir immer noch verbunden.«

»Jetzt stalkst du mich also schon?«

»Ich habe seit Ewigkeiten nichts von dir gehört, Mann. Du bist mein Bruder. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.« Isa schluckte, während ich die Lippen fest aufeinanderpresste. Erst dann fuhr sie fort. »Ich hab ein Angebot für ein Aufenthaltsstipendium in Dublin bekommen.«

»Das Wellington-Stipendium?« Meine Lider sprangen auf. »Isa, das ist ja richtig krass.«

»Ja, oder? Die Mail kam heute Morgen an, seitdem hab ich es schwarz auf weiß. Aber ich kann es nicht glauben. Ich , Gregor. Ich habe das Stipendium, von dem alle träumen. Das ist so …« Ungläubig schüttelte sie den Kopf und redete weiter. Immer wieder rutschte sie auf ihrem Stuhl herum, gestikulierte wild mit den Fingern und verhaspelte sich, weil sie sich so freute.

Ich wollte mich nicht freuen.

Ich wollte mich wirklich nicht freuen.

Aber es war egal, wie angepisst und wütend ich seit Monaten war. Ich konnte nicht anders, als ein paar fuchsteufelswilde Schichten abzulegen, ihr wenigstens zuzuhören und sie nicht sofort rauszuschmeißen. Schließlich ging es um ihre Kunst.

Das veränderte immer alles in unserer Familie.

So einfach war das, während sie von dem Bewerbungsprozess und ihren Zweifeln erzählte. Dass sie tatsächlich geglaubt hatte, sie würde es niemals schaffen.

»Und das meine ich nicht, um meine Mitleidsnummer abzuziehen. Es war einfach so unwahrscheinlich.«

»Und trotzdem hast du es geschafft.«

Wärme durchflutete meinen Körper, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Dabei war der Himmel gespenstisch dunkel. Vor dem Fenster zitterten die Äste. Wenn der Wind so stark war wie jetzt, klatschten sie sogar dumpf gegen die Scheiben. Wie ein Klopfen.

»Schätze, ich bin wohl eine in einer Million.« Schluckend hielt sie inne. Dabei wanderte ihr Blick durch die Küche, vorbei an meiner Fensterbank mit dem Vorrat an Proteinpulvern, bis er schließlich auf meinem zugeklappten Laptop verharrte. »Es ist auch ein guter Zeitpunkt, oder nicht? Du kannst dein Buch schreiben, ohne dass ich dich nerve. Und ich habe genügend Zeit, um mich dort in Ruhe umzuschauen.«

»Isa …«

»Was? Es stimmt doch. Wir müssen die Wahrheit nicht verdrehen, nur weil sich kurz alles okay angefühlt hat. Du bist hier, um zu schreiben. Also machst du das und ich gehe.«

»Genau«, wiederholte ich sarkastisch. »Ich bin hier, um zu schreiben.«

»Und du klingst so ironisch, weil?«

»Hast du dir mal mein Word-Dokument angesehen?«, platzte ich heraus.

»Du bist zu viel in deinem Kopf.« Sie gähnte, als würde ich sie langweilen. »Das ist dein Problem. Du musst mal raus. Frische Luft atmen, ein paar Gefühle fühlen und nicht so tun, als würde dir das wirkliche Leben am Arsch vorbeigehen. Diese Einsiedlerkrebsmasche ist nicht gut hierfür.«

Sie klopfte sich gegen den Schädel, während sie sich nach vorn lehnte. Zwei, drei Sekunden starrte sie mich regungslos an. Unser Blickkontakt war so intensiv, dass ich mich selbst in ihren Pupillen erkannte.

»Mach es für Mama«, sagte sie.

»W…was?«

»Für Mama«, wiederholte sie glücklich. »Wir machen es beide für Mama.«