Kapitel

Gregor

MEIN BUCH

die Ausrede für alles

Jetzt

Weiß.

Ich blinzelte. Und alles war weiß, hell und blendend. Erst dann bemerkte ich das Hämmern hinter meiner Stirn.

Scheiße.

Mein Kopf drohte zu explodieren, während mein Herz raste und rannte und noch mal raste. Sofort wollte ich mich aufsetzen, aber etwas hielt mich zurück. Dieses Etwas war allerdings kein Etwas, sondern ein Arm, der wiederum zu einer Person gehörte.

Verfluchte Scheiße.

Panik schoss mir in die Brust, ehe ich mich überhaupt versichern konnte, dass er wirklich zu ihr gehörte. Für einen Moment war es bloß ein nackter Arm. Eine Hand. Fünf Finger, schwarz angepinselte Nägel. Ich konnte nicht anders und schloss die Augen, nur kurz und kindisch wie ein Grundschüler, der sich einbildete, er würde träumen. Doch dann atmete ich aus und sog den Geruch von Lavendel ein.

Ich war nicht in meinem Bett.

Ich hatte nicht zu Hause geschlafen.

Ich hatte mich auf eine Decke mit Sternenmotiv ziehen lassen und mich dabei verloren.

Mosaikartig setzten sich die Bilder der letzten Nacht zusammen. Lucy vor dem Club mit diesem Typ. Ihre Flucht in die Toilettenräume. Mein Anklopfen. Unsere Auseinandersetzung. Das Musikvideo. Lucys darauffolgendes Schweigen. Lucys Blicke. Lucys Lippen. Das eindringliche Klopfen. Ey, was macht ihr da? Das Gefühl, etwas hätte sich verändert, als sie zögerlich in Richtung Bar nickte. Die Shots. Der Bass. Die Schließung des Studio 69. Ihr Atem, der draußen in Rauchwölkchen in die Luft stieg. Das Quietschen der Tramgleise. Ihr betrunkenes, fragendes und so unsicheres Lächeln. Mein verkorkstes Zögern. Dann …

Fuck.

Als der Apple-Klingelton erschallte, zuckte ich heftig zusammen.

Bitte wach nicht auf, bitte wach nicht auf, bitte wach nicht auf.

Ich wusste nicht, wieso ich das dachte. Bloß, dass ich mich so lautlos wie möglich aus Lucys Umarmung löste, um anschließend stolpernd auf das Laminat zu krachen.

Fuckfuckfuck.

Sofort verfluchte ich meine Tollpatschigkeit und fischte meine Hose vom Boden, bevor ich das Handy aus der Tasche pfriemelte. Leuchtend stach mir Olgas Name entgegen. Ich drückte sie wie auf Autopilot weg. Eigentlich hätte ich verschwinden müssen. Mir Schuhe und Hose am besten im Treppenhaus überstülpen sollen, damit ich Lucy auf gar keinen Fall weckte. Doch sie hatte diesen Ganzkörperspiegel, der gegen ihre Wand lehnte. Der, in dem mir plötzlich mein Spiegelbild entgegenstrahlte. Ein zu großer Typ mit zu schlaksigen Gliedern und einem zu seltsamen Gesicht. Nackter Oberkörper, rote Augen. Hinter mir erkannte ich weiße Wände und vereinzelte Bilderrahmen. In der rechten Ecke thronte eine riesige Pflanze in einem geflochtenen Korb. Auf dem Sessel aus Rattan türmten sich beigefarbene Kissen und eine grobe Strickdecke, daneben lehnte eine Yogamatte an der Wand. Lucys Einrichtung war minimalistisch, nicht spärlich. Jedes Möbelstück besaß einen Sinn, jede Dekovase eine Berechtigung. Fotos zeigten nur glückliche Menschen, die Bilderrahmen harmonierten perfekt. Nicht alles war makellos, denn das Laminat hatte Schrammen und an der Kommode links fehlte ein Henkel. Schlicht: Es war ein wirkliches Zuhause, mit Liebe und Bedacht eingerichtet. Ganz anders als meine Wohnung, wo sich voll beladene Umzugskartons weiterhin in der Abstellkammer stapelten.

Unter meinen Füßen spürte ich die flauschigen Fasern eines hellen Teppichs, während ringsum etliche Frauenmagazine aufgeschlagen lagen. Ich schluckte, weil mein Blick anschließend auf dem Bett landete. Lucys Bett, in dem sie lag. Ihre blondbraunen Haarsträhnen fächerten sich über dem Kissen aus. Ihr Pony wirkte zerzaust. Sonnenstrahlen tauchten ihr Gesicht in diffuses Licht, während sie den Nasenring zum Glitzern brachten.

Das ist nur ein schlafender Mensch, nur ein schlafender Mensch, nur ein schlafender Mensch.

Die Stimme versuchte sich an einem neuen Mantra, doch es brachte nichts. Ich sah Lucy an und mein Herz zog. Sie war so verflucht wunderschön. Zu schön für mich, innerlich und äußerlich.

Ich wollte Lucy in Frieden lassen, gehen und dabei nichts mehr zerstören. Allerdings machte sie es mir so schwer. Schließlich war Lucy Lucy. Meine Lucy.

Streich das, Beck.

Aber ich konnte nicht. Das hier war kein Word-Dokument. Es war mein Leben, das ich endlich in den Griff kriegen musste. Wie kompliziert konnte das schon sein? Ich holte tief Luft und hatte keinen Schimmer, was ich tun sollte.

Es war derselbe Moment, in dem mein Handy mit einer Mail vibrierte, und natürlich war die Nachricht ebenfalls von Olga. Keine Ahnung, was sie wollte. So oder so ging es um mein Buch.

Mein Buch.

Diese zwei Wörter gaben mir den nötigen Schubs. Mein Leben drehte sich nicht um mein Leben, sondern um meine Docs. Ich riss mich zusammen und huschte zuerst aus Lucys Zimmer, dann aus ihrer Wohnung. All das passierte auf Zehenspitzen, wie der gefürchtete Eindringling, der ich war. Erst draußen rief ich Olga zurück.

»Deine neuen Seiten sind der Hammer!«, kreischte sie in den Hörer und mir fiel es so unerklärlich schwer, sie zu verstehen.