Kapitel

Lucy

ALLESGEFÜHLE

etwas, das dich verschluckt (wie Gregor)

Keine Ahnung, wieso er so heftig zusammenzuckte, als hätte ich ihn geschlagen. Statt mir zu antworten, fasste er sich in den Nacken. Dort rieb er sich die Haut, als hätten meine Worte blaue Flecke hinterlassen.

»Du kannst dich echt an nichts erinnern?«, flüsterte er fragend.

Am liebsten hätte ich die Arme verschränkt und neunmalklug von mir gegeben, dass sich nicht zu erinnern wohl der Bestandteil eines Filmrisses war. Doch ich atmete bloß tief aus.

»Alles nach dem Taylor-Swift-Video ist weg.«

»Oh.« Das war nicht einmal ein Wort, sondern bloß ein Laut. Bei dir zerfallen mir die Worte literally einfach im Mund, Lucy. Natürlich brachte er so nicht mehr als Oh heraus.

Ich hatte beschlossen, dass das, was im ICE zwischen uns pulsiert hatte, nichts weiter als Restanziehung gewesen war. Restanziehung war ein mieser Trick unseres Körpers. Sie erinnerte ihn an Liebe, als wäre es eine Muskelbewegung. Einatmen, lieben, ausatmen, lieben. Schließlich war das Herz sogar unser stärkster Muskel. Schade, dass ich trotzdem das Gefühl hatte, es wäre mein wundester Punkt.

»Wir haben das Video geschaut«, begann Gregor zögerlich. »Danach sind wir rausgegangen und haben Shots getrunken. Ziemlich viele.« Er räusperte sich. »Als die Bar irgendwann geschlossen hat, hab ich dir gesagt, wieso ich überhaupt an dem Abend da war.«

»Und wieso warst du da?«

Er schluckte. Deutlich stach sein Kehlkopf hervor. Ich beobachtete, wie er auf und ab sprang. Als würde ich auf ihn stehen. Auf einen Kehlkopf. Auf Gregor. Besonders dann, wenn er nervös war – und das meinetwegen.

Liebe Lucy, ist das nicht krank?

Lol , ich bin krank , hätte ich am liebsten geantwortet, aber meine Sonntagsfragen waren eine Rubrik mit seitenlanger Antwort und diese bestand nur aus einem einzigen Satz. Ich konnte nicht gegen meine eigenen Regeln verstoßen.

»Wegen dir.«

»Wegen mir?«, wiederholte ich mit zu dünner Stimme.

»Wollte dir was geben.«

»Und was?«

Gregor schwieg.

»Das ist also echt dein Ding geworden, oder?«, flüsterte ich frustriert.

»Was meinst du?«

»Na, dass man dir neuerdings alles aus der Nase ziehen muss.«

»Musste man früher auch.«

»Den Eindruck hatte ich eher nicht so.«

»Na ja, mit dir war eben alles anders.« Gregor blies die Wangen auf. »Wir sind zu dir gegangen, weil du das wolltest, okay? Weil ich dem Aufruf in deinem letzten Fake-Articles- Video gefolgt bin und dir jede problematische Aussage in Frauenmagazinen unterstrichen habe, die ich bei Kaufland finden konnte.«

»Du hast was?«

»Problematische Aussagen in Frauenmagazinen unterstrichen. Und das, obwohl du gedacht hast, ich würde dich küssen, wenn du hackedicht bist.« Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. Gregors Miene wirkte verletzt und wütend zugleich.

Schuldbewusst verknotete ich die Finger ineinander. Weil ich geglaubt hatte, er hätte mich geküsst. Weil ich insgeheim doch gewusst hatte, dass Gregor so etwas nicht machen würde. Immerhin sprachen wir hier von Gregor, in dem trotz all der Veränderung noch immer ein bisschen Berlin steckte.

»Wir haben die Magazine bei dir auf dem Fußboden ausgebreitet und uns gemeinsam über die Aussagen aufgeregt. Bis acht Uhr morgens oder so. Hast du die Zeitschriften denn nicht gefunden?«, fuhr er fort.

Meine Augen rissen auf. Daher also war der Stapel, den ich beim Aufräumen weggepackt hatte, so groß gewesen. »Aber …« Ich schüttelte den Kopf, wollte entschlossen wirken, doch scheiterte. »Wieso hast du das getan?«

»Du weißt, wieso«, behauptete er rau.

Und das war unfair. Ein Filmsatz. So etwas sagten Leute nur in konstruierten Skriptszenen, um Anziehung und Spannung aufzubauen. Doch das funktionierte bei mir nicht. Nope, keine Chance. Mir egal, dass sich Gänsehaut auf meinem Hals und über meinen Nacken ausbreitete. Gregor berührte mich nicht. Gregor war Regen, aber ich war mit allen Wassern gewaschen.

»Lass den Scheiß«, zischte ich.

»Welchen Scheiß?«

»Du weißt, wieso«, imitierte ich zehn Stimmlagen zu tief. »Hör auf, so was zu sagen. Ich will mir nicht die ganze Nacht lang den Kopf darüber zerbrechen, was du vielleicht damit gemeint haben könntest. Du hast gesagt, es könnte nie wieder wie früher sein. Und jetzt kommst du mir damit. Verrat mir doch einfach mal, was du wirklich denkst, und lass den Interpretationsmüll stecken, wie wär’s?«

Statt einer Antwort kippte Gregor den Kopf, dabei hielt sein dunkler Blick mich fest. Meine Kehle schnürte sich zu. Der Pullover über seinen drahtigen Schultern spannte leicht, während er sich unvermittelt in den Sessel zurückfallen ließ. Gregor hätte dominant und Furcht einflößend wirken können. Doch er fasste sich zitternd an das Wunscharmband, während sein Kehlkopf hervorstach. Alles an ihm wirkte aufgewühlt und verletzlich.

»Was ich wirklich denke, ja?«, wiederholte er so gespenstisch leise, dass es unter meiner Haut vibrierte.

»Ja.«

Ich bereute meine Antwort sofort, weil er sich erhob. Mit zwei geschmeidigen Schritten umrundete er den Tisch und ließ sich auf dem Sessel neben mir nieder. Selbst im Sitzen war er viel größer als ich. Doch als sein Geruch mir nun noch intensiver in die Nase kroch, fühlte ich mich nicht klein. Ich sah ihn an und wollte ihn für immer ansehen. Ich wollte ihn so anschauen, wie man jemanden anschauen wollte, wenn man sechzehn und verliebt war. Ich wollte, dass er mich auf keinen Fall zurück anschaute, weil ich so unbedingt wollte, dass er es tat.

Unruhig rutschte ich auf meinem Sessel umher, was mir garantiert eine Laufmasche einbringen würde. Dennoch konnte ich nicht aufhören. Ich musste mich bewegen, weil ich sonst noch mehr nachdenken würde und …

Eine Hand.

Fünf Finger.

Warm, rau, groß und unendlich elektrisierend.

Blinzelnd starrte ich auf meinen Oberschenkel. Gregors Hand lag auf meinem Rock.

Gregors. Hand. Lag. Auf. Meinem. Rock.

»Fuck«, murmelte er. »Ich will dich nicht nervös machen, Lucy.« Er klang zu kratzig und zu gequält. Ich konnte nicht anders, als ihm zu glauben.

»Vielleicht solltest du dann diese Art von Situation vermeiden«, erwiderte ich heiser.

»Kann nicht.«

»Wieso?«

»Aus demselben Grund, aus dem ich die Jolie wie eine Klausur mit Leuchtstift ausgearbeitet habe.« Gregor schien ein schnelles Lächeln hinterherzuschieben, sicher konnte ich mir allerdings nicht sein. Schließlich war mir sein Gesicht so nah, dass es verschwommen wirkte. Grenzen zerliefen und ich verlief mich in diesem Gefühl. In dieser plötzlichen Hitze, die mit einem Mal von ihm ausging. »Ich hab dich noch nie nicht gemocht«, sagte er. »Und das weißt du. Lass mich das nicht ausführlicher erklären. Nicht in meinem Zustand.«

»Nicht in meinem Zustand.« Ich versuchte mich an einem Schnauben, doch verschluckte mich an der Ernsthaftigkeit unseres Gesprächs. »Was soll das überhaupt heißen?«

Mit einem Räuspern rückte er der Sitzkante näher. Unsere Schienbeine berührten sich jetzt. Seine Jeans, meine Strumpfhose. Es war Reibung. Schon wieder. Das Blut in meinen Adern prickelte, weil alles in mir kribbelte.

»Hm, was ist?« Draufgängerisch nickte ich ihm zu. »Sind dir da etwa wieder die Worte auf der Zunge zerfallen?«

»Gott.« Er lachte auf. »Ich war schon echt dramatisch mit zwanzig, oder?«

»Der Dramatischste.« Und dann konnte ich nicht anders. Sein Lachen klang so rau und ehrlich, dass es mir Angst machte. Ich musste einfach weitersprechen. »Aber was soll ich sagen? Ich habe es offensichtlich gemocht.« So sehr, Gregor. Die Worte lagen mir auf der eigenen Zunge, ohne dass ich sie aussprach. Weil es nun seine Pupillen waren, die sich weiteten. Warum musste Gregor es mir auch so verflucht schwer machen?

»Was?«, murmelte ich. »Wieso schaust du so überrascht? Keine Ahnung, ob ich da etwas verwechsle. Unser letztes Gespräch hat doch ziemlich deutlich gemacht, dass ich dich auch noch nie nicht gemocht habe, oder?«

»Aber …« Kopfschüttelnd brach er ab, während meine Haut unter seiner Hand brannte. Einen kurzen Moment sammelte er sich. »Wieso hast du mich überhaupt gemocht?«, platzte er heraus und da lag so viel Schmerz in seinen Worten. »Ich war unsicher und launisch und viel zu schüchtern. Was hast du an mir gefunden?«

Ich wünschte, ich hätte lachen können. Ihn eines klassischen Fishing for Compliments beschuldigen und anschließend aufstehen können. Doch der Schmerz in seinen Worten und in seinen Augen schnürte mir die Kehle zu. Es war wie ein tragischer Unfall: Ich konnte nicht wegsehen.

»Ich mochte genau das an dir«, erwiderte ich. »Dass du unsicher und launisch und schüchtern warst. Weil du dabei immer du warst. Du warst so ehrlich. Das habe ich geliebt.« Ja. Ja, ich hatte das größte Wort von allen gesagt. »Außerdem …«

»Außerdem was?« Oh Scheiße. Seine Stimme klang mit einem Mal so tief und dunkel, verfehlte keinen Zentimeter meiner Haut.

Bebend holte ich Luft. »Ich hab dich einfach gefühlt.«

Manchmal war es simpel. Es ergab keinen Sinn. Niemand verstand es. Wir konnten nicht einmal selbst darüber bestimmen. Plötzlich war da diese Person – und dein Herz pochte und pochte und pochte und pochte. Es war willkürlich. Zum Verzweifeln. Nicht einmal poetisch konnte man es ausdrücken. Es passierte schlichtweg.

»Vom ersten Moment an, ehrlich gesagt«, fügte ich hinzu. »Ich …«

»Jetzt immer noch?« Gregor unterbrach mich scharf, mit einer Dringlichkeit, die ich nicht von ihm kannte. Als er seine Hand von meinem Oberschenkel löste, fiel mein Magen.

Es überraschte mich nicht. Gregor ging und ich fiel. Dort, wo er mich berührt hatte, herrschte nun Winter. Kein schneeweißer Puderzuckerdezemberwinter, sondern Februarwinter, mit Minusgraden und schonungslosem Regenwind. Instinktiv schloss ich die Augen, als ich mit einem Mal seine Hand in meinem Nacken wahrnahm. Schlagartig wurde mir wieder heiß. Ich spürte mein Herz überall, weil ich Gregor so fühlte.

»Schau mich an, Lucy«, verlangte er.

Doch meine Augen blieben fest geschlossen. »Wir sind also jetzt dominant?«, witzelte ich spöttisch.

»Du bist echt unglaublich«, schnaubte er. »Nein, ich will nicht, dass du mich ansiehst, weil ich dominant oder was weiß ich bin. Ich will lediglich, dass du mir in die Augen schaust und mir dabei auf meine Frage antwortest.«

»Klingt für mich nach einer Forderung.«

»Ist fordernd nicht der Dauerbrenner in diesen New-Adult-Romanen mit Spice?«

»Du weißt auch, was das ist?«

»Klar. Ich hab doch erzählt, dass ich auf Booktok unterwegs bin. Eigentlich bekomme ich nur Sally Rooney vorgeschlagen, aber manchmal lande ich auch auf der spicy Seite. Hab letztens sogar einen Roman davon angefangen. Es war …«

»Wenn du Porno sagst, bist du durch.«

»Nein, ich fand es gut. Sehr erotisch, sprachlich nicht ganz mein Ding, aber cool, dass solche Szenen aus dem weiblichen Blickwinkel erzählt werden. Findest du nicht? Ich bin letztens auch auf diese Website gestoßen. The Clit Test. Da sind Bücher und Filme aufgelistet, in denen Frauen nicht durch Penetration kommen, was ja eigentlich die Normalität darstellt. Deshalb ist es wiederum absoluter Bullshit, dass in Filmen oft nur Szenen gezeigt werden, in denen …«

»Gregor«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du musst aufhören, darüber zu reden.«

»Wieso? Macht … Macht dich das an, Lucy?«

Mein Gesicht fühlte sich wie eine Feuerkugel an, während ich die Lider wieder aufschlug. Gregor grinste schüchtern, allerdings konnte er mich nicht täuschen. Sein Hals hatte sich rot gefleckt. Lose, unzählige Formen hatten sich über seine Haut hinweg verteilt.

»Es ist offensichtlich meine Schwäche, wenn du über gut ausgearbeitete Sexszenen redest, die von Frauen geschrieben wurden«, murmelte ich.

»Sexszenen von Männern sind also nicht gut?«

»Bist du dir sicher, dass du diesen Satz so stehen lassen willst?«

»Nah, okay.« Sofort ruderte er zurück. »Du hast recht.«

Ich erwiderte nichts, während Gregor mit den Fingerkuppen meine Wirbel entlangfuhr, rau und sanft zugleich. Jemand musste das hier abbrechen, Halt, stopp, jetzt rede ich und wir reden nicht mehr sagen. Doch stattdessen hörte ich nur seine Stimme.

»Lucy?«, fragte er.

»J…ja?«, murmelte ich.

»Ich …« Gregor leckte sich über die vollen Lippen. »Fühlst du mich immer noch? So wie früher?«