Kapitel

Lucy

MEERTRÄNEN

weint man am besten an der Nordsee

Lichterchaos. Schwindelgefühl. Dieses bekannte Piepen in den Ohren. Mein Orgasmus ebbte ab, während ich blinzelnd an die Decke starrte und die Situation rekapitulierte.

Gregor hatte es mir in einem Arbeitsraum mit dem Mund gemacht. Er hatte mich nicht einmal ausgezogen. Ich war einfach so gekommen. GREGOR HATTE ES MIR MIT DEM MUND GEMACHT. Und ich hatte es gewollt. Ich hatte es gesagt. Immer wieder.

Ich will es. Ich will es. Ich will es.

Mein Herz rannte in einer Tour vor sich hin, während ich mich auf wackeligen Beinen umständlich erhob. Der Tisch war kein Tisch, sondern eine verwunschene Insel. Wenn ich noch länger auf ihr blieb, würde ich mich vor Reue verflüssigen. Es wäre nicht schön. Es wäre feucht und nass und klebrig und salzig. Ich wäre eine Pfütze, hätte dieselbe Konsistenz wie die Feuchtigkeit in meinem Slip. Wirklich fan-tas-tisch.

»Lucy.«

Ich schreckte heftig zurück, als sich Gregors Griff um meinen Arm legte.

Sofort hob er die Hände, als müsste er seine Unschuld beweisen. »Hey, wow, warte«, sagte er. »Rede mit mir.«

Ich schüttelte den Kopf, spürte, dass meine untere Lippe bebte, aber wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich brauchte ein Skript. Eine Rollenanweisung.

»Ich kann gerade nicht«, presste ich also bloß hervor, schnappte meine Tasche und steuerte den Ausgang an.

Doch ich hatte nicht mit Gregor gerechnet, mit seiner Präsenz, die sich von passiv in aktiv verwandelte.

»Nein«, sagte er. »Du kannst nicht gehen.«

»Was?« Bebend drehte ich mich um. »Ich kann nicht gehen?«

»Scheiße, also, nein, so meinte ich das nicht. Natürlich kannst du gehen. Du siehst allerdings gerade ziemlich aufgewühlt aus und ich will dich so nicht allein lassen.«

Das waren die Momente, in denen mir die Rewe-Romeos unserer Welt diese ganz bestimmte Art von Blicken zuwarfen. Die, die mir unterschwellig vermittelten, was für eine Übertreiberin ich war.

Doch Gregors Augen schimmerten bloß noch immer. »Und das bringt mich ehrlich gesagt ein bisschen um, Lucy.«

Die Gefühle in seinen Augen waren übergeschwappt und in seine Stimme geflossen. Sie machten sie schwer und trüb.

Ich hielt es nicht aus, verlor den Halt, wusste nicht, wie ich überhaupt noch stand, ohne mich an der Wand abzustützen.

»Sorry«, sagte ich kopfschüttelnd. Dann drehte ich mich um und ging. Ich flog förmlich aus dem Raum, rannte die Treppen hoch in mein Stockwerk. Meine Sohlen hämmerten auf die Stufen ein. Ich brauchte den Lärm, um das Nachbeben von Gregors Worten zu übertönen.

Und das bringt mich ehrlich gesagt ein bisschen um, Lucy.

Wie verflucht gequält er geklungen hatte. Und wie verflucht selbstsüchtig ich ihn einfach stehen gelassen hatte.

Ich bog links um die Ecke und zwang meine Gedanken, von ihrer Abzweigung zurückzukommen. Ich hoffte auf Tillie, während ich die Zimmertür öffnete. Sie würde mir zuhören und mich verstehen. Doch als ich das Touri-Parkett mit seinen kitschigen Meermotiven betrat, musste ich feststellen, dass der Raum leer war.

Zitternd kramte ich nach meinem Handy. Ich hätte ihr schreiben können. Drei Worte und sie hätte meine Verzweiflung gespürt.

Ich brauche dich. Wo bist du? Kannst du vorbeikommen?

Doch ich konnte nicht klar denken, weil Gregors Gefühlsstimme sich in mir festgesetzt hatte. In meinem Kopf wurde sie immer lauter und dröhnender.

Und das bringt mich ehrlich gesagt ein bisschen um, Lucy.

Die Luft in diesem Zimmer reichte nicht. Selbst wenn ich die Fenster sperrangelweit aufreißen würde. Hastig schlüpfte ich aus meinem Rock, aus der Strumpfhose und dem Slip. Er hatte einen feuchten Fleck. War er von mir? Von Gregor? War er unser gemeinsames, nasses Kunstwerk? Meine Schläfen pochten, weil das keine guten Fragen waren. Entschlossen stopfte ich die Schmutzwäsche in meine Tasche und zog den Reißverschluss hinter ihr zu. Hektisch schlüpfte ich in eine neue Unterhose, bevor ich in die Leggins sprang. Ich kramte nach meinen AirPods, klickte kopflos zuerst Spotify an und anschließend auf Shuffle. Dabei stach mir die Uhrzeit entgegen. 18:58  Uhr. Ich stellte mir meine Kommilitonen vor, wie sie sich im Speisesaal unterhielten und gemeinsam den Abend planten. Ich sollte dabei sein, neben Tillie sitzen und lachen. Glücklich sein. Doch Gregors Worte schallten weiter in mir nach.

Und das bringt mich ehrlich gesagt ein bisschen um, Lucy.

Frustriert drehte ich die Musik auf Maximallautstärke und verließ das Hotelzimmer. Pinterest wäre stolz auf mich.

Ich wusste nicht, wohin. Also bin ich ans Meer gegangen. Es hat nach mir gerufen.

Als Sandkörner unter meinen Schuhsohlen knirschten, kam ich nicht mehr gegen sie an. Eiskalt liefen die Gefühle nun auch in mir über. Meine Augen tränten und ich ließ sie, denn ich führte schon lange keine Kriege mehr gegen mich selbst.

Und das bringt mich ehrlich gesagt ein bisschen um, Lucy.

Nein , wollte ich schreien. Du hast mich zuerst umgebracht! Doch in diesem Moment vibrierte mein Handy. Es musste Tillie sein, die sich wunderte, wo ich abblieb.

Okay, Wagner. Krieg dich ein. Schieb deine verdammte Melodramatik zur Seite. Öffne die Nachricht deiner Freundin. Geh zurück. Bitte sie um ein Gespräch. Dann sieh weiter.

Ich nickte. Doch als ich mein Handy entsperrte, stach mir keine Nachricht von Tillie entgegen.

Gregor
Du hast gar nicht auf meine Wahrheit bestanden.