Kapitel

Lucy

SCHON OKAY

kein Lied, ein Mantra

Ich hörte nichts mehr.

In meinen Ohren knackte es, bevor die Welt ringsum rauschte. In den letzten fünf, sechs, sieben, keine Ahnung wie vielen Minuten war ich nicht Lucy gewesen. Ich war die Idee von einer Lucy gewesen, die souverän und selbstsicher war. Eine Lucy, der es nichts ausmachte, ihrem Double-Trouble-Ex zu sagen, dass es endgültig aus war.

Während ich meinen Arbeitsplatz ansteuerte, zwang ich mich zu langsamen Schritten. Ich wollte nicht rennen, übertreiben, dramatisieren. Als wäre alles in bester Ordnung, packte ich mein Zeug zusammen und warf mir die Jacke über. Doch als ich nach draußen linste, so als befürchtete ich, Gregor würde dort immer noch stehen, konnte ich mir selbst nicht mehr länger etwas vorspielen.

Nichts war in Ordnung.

Wenigstens war Gregor wirklich schon verschwunden, sodass ich unbeobachtet in das Gebäude meiner Fakultät huschen konnte. Instinktiv marschierte ich drei Stockwerke nach oben, weil auf den Toiletten dort immer am wenigsten los war. Auf wackligen Beinen schloss ich mich in eine Kabine ein und ließ mich auf den Klodeckel sinken. Meine Augen brannten, ich wollte mir die Lider reiben, bis sie rot und geschwollen waren. Genauso wie mein Herz, dieses Miststück, sich anfühlte. Ich weinte lautlos zu lautestem Schmerz.

»Scheiße«, fluchte ich. »Scheiße, scheiße, scheiße.«

Heiß segelten Tränen über mein Gesicht. Sie schmeckten nach Salz und Wut. Wieder mal. Ich griff nach meinen AirPods und dem Handy, weil ich Musik brauchte. Doch als ich mein Display entsperrte, sprangen mir sofort die Benachrichtigungen in unserer Gruppe entgegen.

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoor  Smiley
Seid ihr auf dem Campus?

Manda @thegirlnextdoor  Smiley
Ja du?

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoor  Smiley
Yes

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoor  Smiley
@lucy und wo bist du, Luuuu?

Ich hätte nicht zurückschreiben müssen. Ich hätte ihre Nachrichten ignorieren und mich weiter in meiner tragischen Toiletteneinsamkeit suhlen können. Doch ich konnte etwas dagegen tun. Ich war nicht machtlos, selbst wenn ich mich so fühlte. Ich hatte mein Leben in der Hand. Ich konnte es steuern. Selbst durch meinen schwärzesten Liebeskummer konnte ich die Richtung bestimmen. So hätte ich es in meiner Sonntagsrubrik gesagt. Ich musste wohl immer noch lernen, mich selbst an meine Ratschläge zu halten – oder es zumindest versuchen.

Ich sah die Worte nicht einmal, die ich auf das Display tippte. Der Tränenschleier war zu dick. Doch das machte nichts, denn das Universum hatte mir vor Jahren nicht Will, sondern Tillie und Manda geschickt. Tillie hatte mich damals gefunden und zu Manda gebracht, jetzt fanden sie mich wieder.

Es fühlte sich an, als wäre nur ein Wimpernschlag vergangen, bevor es an der Kabinentür klopfte. Einmal, zweimal, dreimal, laut, lauter und noch lauter.

Es war Tillies Klopfen.

»Mach auf«, verlangte sie, wobei ihre Stimme den Ton angenommen hatte, der so häufig hervortrat, wenn sie mit ihrer jüngeren Schwester sprach.

»Wir sind hier«, sagte Manda, viel sanfter, so leise, dass ich aufhören musste zu schluchzen, weil ich sie sonst nicht verstanden hätte. »Und Tillie hat sogar auf dem Hinweg klargestellt, dass du ihren Chai haben kannst.«

Weil ich es mir nicht zutraute aufzustehen, lehnte ich mich bloß vor und drehte das Schloss. Keine Sekunde später zog Tillie die Tür auf.

»Hier.« Sofort streckte sie mir ihren Pappbecher mit großen Augen entgegen. »Für dich.«

»Danke.« Keine Ahnung, ob ich das Wort tatsächlich herausgebracht hatte oder bloß tonlos mit den Lippen formte. Dafür wusste ich andere Dinge. Dass Tillies Lippenstiftabdruck auf dem Becher haftete zum Beispiel. Dass ich trotzdem an dem Chai nippte, während meine Freundinnen sich zu mir hockten. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich mich selbst in ihren Augen gespiegelt sehen. Klein, mickrig und ziemlich beschädigt. Das war ich, cute und gut und nett in der traurigen Version.

»Bevor du anfängst zu erzählen«, mahnend hob Tillie den Zeigefinger, »was du wirst, weil wir ganz genau wissen wollen, was Gregor Samsa getan hat, haben wir noch etwas anderes zu erledigen.« Unter Klirren kramte sie ihr Handy aus der Tasche hervor und reichte es mir.

»Thank you for the tragedy, I need it for my art?«  [4] Ich hob die Brauen. »Ich habe ein Déjà-vu. Außerdem, wo ist das anger abgeblieben?«

»Zwei Gründe: Deinem Zustand nach zu urteilen, hat Gregor Samsa es richtig übertrieben. Dafür verdient er keinen innovativen Playlistnamen. Außerdem ist er eindeutig tragödienwürdig. Also.« Sie deutete auf ihr Handy. »Was ist? Du kennst das Spiel. Du musst den Ton setzen und den ersten Song auswählen.«

Meine Finger verharrten über der schwarzgrünen App. Es gab tausend Lieder, die ich mit Gregor verband. Ich wusste, welche Bands er mochte. Hätte ich es darauf angelegt, hätte ich seine neuesten Lieblingslieder vorausahnen können wie sein Mix der Woche. Doch ich wollte kein Lied dieser Art.

Ich wollte einen Neuanfang.

»schon okay von JEREMIAS«, verkündete ich und tippte die Buchstaben ein.

Manda runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«

»Ja«, sagte ich und schmeckte meine Tränen weiterhin auf der Zunge. »Weil es ganz klischeehaft noch nicht okay ist, aber okay werden wird, und ich das manifestieren muss.«

Meine Freundinnen widersprachen nicht. Natürlich nicht. Tillie war Feuer und Flamme, während Manda sich ein Augenrollen über unseren starken Hang zu Esoterik verkniff.

Nach und nach fügten wir der Liste mehr Songs hinzu. Es war wie im Oktober, aber irgendwie auch nicht. Damals war mein Herz nicht gebrochen, nicht einmal angeknackst gewesen. Rewe-Romeo war kein Punkt auf meiner Herzlandschaft. Eine mickrige Pfütze war er gewesen, nicht einmal eingezeichnet. Nur mein Ego hatte er mit seinem Ghosting angekratzt.

Bei Gregor war es anders.

Gregor war alles und ich weinte und ich packte doch Taylor Swift in die Playlist, bis Manda diejenige war, die mich daran erinnerte.

»Es ist noch nicht okay. Aber es wird okay, hörst du?«