Kapitel

Gregor

ZU SPÄT

eigentlich nur eine Illusion

»Bist du dir sicher, dass du mich nicht hasst?«

»Ach, Gregor.« Olga lächelte mir während unseres Video-Calls freundlich zu. »Insgeheim habe ich es doch sogar geahnt. Aber wenn wir schon bei Sicher-Fragen sind: Du willst das Manuskript also tatsächlich zurückziehen?«

Ich antwortete nicht sofort, weil ich wusste, dass sie noch mehr hinzufügen würde. Etwas in die Richtung von Das könnte deinen Ruf bei den Verlagen beschädigen, vielleicht lesen sie sich dein nächstes Konzept gar nicht mehr durch. Wenn du es zurückziehst, könnte es vorbei sein, bevor es angefangen hat. Also, bist du dir wirklich sicher? Doch seltsamerweise kam nichts mehr. Es war nur eine Frage, keine pessimistische Prophezeiung.

»Ja«, erwiderte ich also ohne jegliches Zögern. »Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.«

Es war gelogen. Von vorne bis hinten. Für dieses Manuskript würde es nie einen richtigen Zeitpunkt geben, weil ich es schlicht nicht wollte. An Heiligabend, in meinem Kinderbett, hatte ich erkannt, dass ich nicht nur diesem entwachsen war. Also hatte ich Olga nach den Weihnachtstagen geschrieben und sie um dieses Gespräch gebeten. Ich hatte dieses Buch beendet und mich anschließend leer gefühlt. Dann hatte ich es ruhen lassen und mir vorgestellt, wie es wäre, mein Privatleben in der Öffentlichkeit auszuschlachten. Ich, ein Niemand, der das (Un-)Glück hatte, mit einer verstorbenen, sehr talentierten Fotografin als Mutter gesegnet zu sein. Natürlich wäre es interessant, vor allem mit mir als Autor. Als Schreibstudent von Literaturinstituten und mit schon zig abgesahnten Stipendien. Ich wäre gut zu vermarkten, intellektuell und introvertiert. Die alte, deutsche, weiße Männerbuchbranche hätte mich gefeiert.

Aber ich wollte nicht feiern, ich wollte trauern und verstehen. Mich und meine Mutter. Was es mit mir machte, wenn Erwin mir sagte: Krass. In drei Jahren bist du so alt, wie Emmie es nie war. Wenn ich Fotos von ihr sah, die ich noch nie gesehen hatte, so wie heute.

Ich hatte das Buch nicht geschrieben, um berühmt und erfolgreich zu werden. Das wusste ich jetzt. Ich hatte es geschrieben, um mich zu verstehen. Dieses Buch war nur für mich. Und das war hart. Ein Jahr Arbeit für nichts, könnte man sagen. Doch wenn ich jetzt ausatmete, fühlte ich mich nicht leer, sondern befreit. Und kam es am Ende nicht genau darauf an?

»Gott.« Olga fasste sich an die Brust. Sie trug eine weiße Businessbluse. Ich fragte mich, ob sie untenrum eine Jogginghose anhatte wie wir alle. »Ich bin so erleichtert, dass du das sagst. Ich hatte nämlich auch das Gefühl, dass die Zeit noch nicht ganz reif ist.«

Ich lächelte, weil ich wusste, dass ich lächeln sollte. Das war genau das, was ich gewollt hatte. Ich war sogar auf Verständnis gestoßen. Trotzdem zwickte etwas links in meiner Brust. Natürlich ist die Zeit noch nicht reif. Du bist nicht gut genug. Du wirst nie gut genug sein.

»Was hältst du davon?«, flötete Olga fröhlich. »Du studierst erst mal weiter und wenn du zwischendurch eine Idee hast, schreibst du mir, abgemacht?«

»Ja?«, sagte ich, doch es war eher eine Frage.

»Ach, und schickst du mir endlich dein Autorenfoto, damit wir dein Profil bei uns auf der Website hochladen können?«

Ich blinzelte verwirrt.

»Was ist? Dachtest du, unsere Zusammenarbeit wäre vorbei, nur weil dieses Projekt nicht das richtige für dein Debüt war? Gregor.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dich bei uns unter Vertrag genommen, weil ich an dich glaube. Außerdem hätte mir bewusst sein sollen, dass das zu viel für dich neben einem Vollzeit-Master ist. Wir machen jetzt erst mal eine Sache nach der anderen, hm? Wie klingt das für dich?«

»Gut«, sagte ich und diesmal war es keine Frage.

Nachdem wir aufgelegt hatten, wollte ich gerade in mein Zimmer gehen, meine Tasche packen und dann zum Schwimmen, weil manche Dinge sich einfach nie änderten. Da klingelte es an meiner Tür. Verwirrt betätigte ich den Summer im Flur. Ein Teil in mir rechnete mit Isa, weil sie im letzten Jahr viel zu oft unangekündigt hier gestanden hatte. Doch ich lag falsch.

Es war Lucy, die plötzlich in meinem Treppenhaus erschien. Die Hände in den Jackentaschen, die Beanie tief in der Stirn. Ihre Nase war leicht gerötet, während sie vor meiner Türmatte zum Stehen kam. Zitternd atmete sie durch.

»Insgesamt habe ich vier Männer in meinem Leben geliebt. Meinen Vater, meinen Bruder, dich damals und dich jetzt. In Berlin habe ich mich sofort in dich verliebt. Ich hatte gar keine andere Chance. Und dann habe ich dich weiter geliebt, weil du dasselbe gefühlt hast, was ich gefühlt habe. Doch das war nicht der einzige Grund. Wenn ich dich angesehen habe, habe ich mich gesehen gefühlt. So sehr. Bis du mich verletzt hast. Ich wollte dich vergessen, aber geklappt hat es nie. Du warst immer in mir drin. Ich habe dich einfach nicht rausbekommen. Ich weiß, es ist kitschig, aber in meiner Vorstellung ist mein Herz ein bisschen deins, weil dein Name dort überall steht. Und … dann habe ich mich noch mal in dich verliebt.«

Mein Herz sackte bis zu meinen Kniekehlen. Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch fand keine Worte. Kein. Einziges. Wort.

Dabei hätte Lucy mich sowieso nicht gelassen, denn schon hob sie die Hand. »Ich habe dein Buch gelesen«, erklärte sie. »Wenn … Wenn das stimmt, was du geschrieben hast, liebst du mich auch. Und hast unsere Zusammenarbeit nicht als Recherche benutzt.«

»Lucy«, murmelte ich.

»Tust du es?« Ihre Augen wirkten riesig. »Liebst du mich?«

Mein gesamter Körper prickelte. Ich wusste nicht, was mit mir passierte. Bloß, dass sie mir so nah war, dass ihr Atem mich wärmte, ich sie roch und mein Herz randalierte, so wie es das immer bei ihr tat.

»Natürlich«, hauchte ich. »Ich meine, mein verdammtes Manuskript endet damit, dass ich liebeskummerkrank versuche zu verarbeiten, dass es manchmal einfach zu spät ist. Und man das akzeptieren muss.«

»Zu spät.« Sie schnaubte, ihre Augen wurden glasig und tränten. »Wenn das alles wirklich so ist, interessiert es mich nicht, ob es zu spät ist. Dann würde ich einfach gerne wissen, wieso zur Hölle du nichts gesagt hast.« Ihre Unterlippe bebte. »Schon wieder.«