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Preppen
12. Juni
Professor Collins sah sich im Saal um, ob es noch Wortbeiträge gab. Als Erin die Hand hob, deutete er auf sie.
»Professor, eine kurze Frage. Werden wir nahe genug herankommen, um etwas von den erhöhten Aktivitäten des Yellowstone beobachten zu können?«
»Kommt darauf an, was Sie unter ›nahe‹ verstehen, Erin. Nahe genug, um etwas zu sehen? Klar. Nahe genug, um Lavaproben entnehmen zu können? Keine Chance.« Professor Collins lächelte. »Die Universität würde mich
in einen Lavastrom werfen, wenn ich die Studenten in eine solche Gefahr brächte. Vielleicht packen Sie einfach ein Fernglas ein.«
Erin drehte sich um und grinste Ayanda an, die mit einem Augenrollen reagierte.
Auf der Bühne fuhr der Professor indes fort. »Nur noch einmal zur Erinnerung – als ob Sie eine bräuchten: Wir brechen übermorgen auf. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich die Uni nicht dazu überreden konnte, für uns alle einen All-Inclusive-Trip zum Toba in Sumatra springen zu lassen.« Er hob die Hände zu einer hilflosen Geste. »Daher werden wir stattdessen in einen klapprigen Schulbus steigen und eine Vergnügungsreise zum Yellowstone-Park unternehmen.
«
Aus dem Auditorium erklangen mehrere Lacher. Nur einer der Studenten rief ein wenig panisch: »Ich dachte, wir hätten ein Flugzeug gechartert.«
»Ich wollte nur sehen, ob Sie aufpassen, Ted.« Der Professor legte ein Dokument auf den Projektor. »Ich möchte Ihnen allen dafür danken, dass Sie den Papierkram frühzeitig ausgefüllt haben. Ich bin froh, dass ich nicht zu Ihnen kommen und Sie mit einem Stock pieken muss. Die Universität wird es freuen, dass Sie uns keine Schuld an allem geben, was Ihnen zustößt. Und damit meine ich wirklich alles
. Irgendein Anwalt hat sich mit der Ausformulierung dieses Schriftstücks sein Boot finanziert. In Lake Village werden wir im Personalgebäude wohnen. Erwarten Sie sich keine Luxusbleibe. Und da wir schon mal dabei sind – rechnen Sie nicht mit Betten. Sie werden aufblasbare Matratzen bekommen und sie toll finden. Wir werden uns jeden Tag in Gruppen aufteilen. Dort wird es Leute von der USGS geben, die Sie herumführen und mit der wunderbaren Welt der Geologie in einem immer noch aktiven Vulkan vertraut machen.« Professor Collins legte ein neues Dokument auf, diesmal eine Liste mit Terminen und Veranstaltungen. »Sie haben Ihre Reisepläne bekommen. Wir sehen uns in ein paar Tagen am Flughafen. Und danach werden wir fünf Tage lang spaßige Wanderungen durch Sümpfe, Moore und Wälder unternehmen, wo wir bei lebendigem Leib von Moskitos gefressen werden, die so groß sind wie Pterodaktylen.«
Erin griff das Weinglas, das Matt ihr hinhielt, und rutschte dicht an ihn heran, als er Platz nahm. Aus alter Gewohnheit krümmte sie leicht den Rücken, damit er bequem den Arm um sie legen konnte – einer der Nachteile, wenn man fast jeden in seiner Umgebung überragte.
Sie trank genüsslich einen Schluck. Matt kannte sich gut
mit Wein aus. Wahrscheinlich gehörte dieses Wissen genauso zu seinem Erbrecht wie der Treuhandfonds und alles andere. Matt sprach nicht viel darüber, und Erin wollte nicht zu neugierig sein. Sie waren in ihrer Beziehung noch nicht so weit, dass sie sich über alles unterhielten, und sie spürte eine derart starke Reserviertheit bei Matt, dass sie sich fragte, worüber genau er eigentlich nicht reden wollte.
Doch sie konnte sich kaum darüber beschweren, dass ihr Freund pflegeleicht war. Erin seufzte zufrieden, während Matt mit der Fernbedienung Netflix zu aktivieren versuchte. Als er innehielt und sie fragend ansah, erwiderte sie seinen Blick mit einem Lächeln. »Du kannst froh sein, dass du deine eigene Wohnung hast. Im Wohnheim geht es, na ja, nicht immer sehr entspannt zu.«
»Ja, meine Eltern zahlen gerne alle Rechnungen, aber sie sagen mir auch immer ganz deutlich, dass sie
es sich leisten können, von wir
ist keine Rede. Sobald ich den Abschluss habe, bin ich auf mich allein gestellt. In dieser Hinsicht ist mein Vater sehr konservativ.« Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann schloss er – beinahe vehement – wieder den Mund.
»Wenigstens kann man als Computerwissenschaftler einen hochbezahlten Job ergattern«, erwiderte Erin. »Ich werde wahrscheinlich als Lehrerin oder Rangerin enden.«
Aus früheren Gesprächen wusste sie, dass Matt sich Sorgen um seine Zukunft machte und sein Vater offensichtlich ein ziemlicher Trottel war. Mit Geldproblemen kannte Erin sich aus. Schließlich war es ihr von Anfang an sehr schwergefallen, sich das Geld für die Studiengebühren und die Lehrbücher vom Mund abzusparen.
»Dann wirst du also fünf Tage lang weg sein?«, fragte Matt, offensichtlich bemüht, das Gespräch auf weniger verfängliche Themen zu lenken
.
»Ja, und das ist eine unglaubliche Chance. Wir bekommen für diese fünftägige Exkursion einen ganzen Leistungspunkt, das entspricht drei Kursen und einem Buchreferat. Außerdem wird es sicher interessant, so, wie es momentan im Yellowstone-Park zugeht.«
»Aber hoffentlich nicht zu
interessant.«
»Die Medien haben die Geschichte wie immer unverhältnismäßig aufgebauscht, um Klicks zu generieren. Der Yellowstone macht auch nichts anderes als das, was er schon vor dem Auftauchen der ersten Menschen getan hat.«
»Ja, aber zum ersten Mal passiert alles gleichzeitig.«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Vielen Dank, Mr. Statistik. Okay, ja, der Yellowstone ist im Moment aktiv. Und es gab auch Zeiten, in denen er komplett inaktiv war. Solche Ruhepausen sind genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie die jetzige Phase. Wie auch immer, wir fliegen auf jeden Fall
hin. Ungefähr zwanzig von uns. Professor Collins kommt natürlich auch mit. Und sein Assistent, an dessen Namen ich mich nie erinnern kann. Du weißt schon, der Gruselige. Aber solange er mir nicht auf die Pelle rückt, ist er mir egal.«
»Ich könnte ihm in den Hintern treten …«
»Vielen Dank, aber das würde ich auch allein schaffen.«
»Du schreibst mir SMS, während du weg bist, oder?«
»Ja, natürlich!« Erin schwenkte ihr inzwischen leeres Glas vor seinem Gesicht. »Sag mal, du hast doch versprochen, mich betrunken zu machen, oder? Ich fühle mich kein bisschen betrunken.«
Matt ging schnell in die Küche und holte die Flasche. Als er damit zurückkehrte, war auf dem Fernseher der Netflix-Startbildschirm zu sehen. Erin hielt die Fernbedienung in die Höhe. »Du bist mir ein schöner Computer-Fachmann. Pfft.«