6
Erster Durchlauf
13. Juni
Bill betrachtete die geschlossene Labortür und dann den Karton in seinen Armen. Scheiß drauf. Er wummerte zweimal mit dem Fuß kräftig gegen die Tür und trat dann einen Schritt zurück.
Ein paar Sekunden später ging sie einen Spaltbreit auf, und Matt linste heraus. »Sehr subtil. Du hast eben Klasse.«
»Du kannst mich mal. Dieses Ding hier wird immer schwerer.«
Matt trat zur Seite und ließ ihn eintreten. Bill blieb stehen und sah sich im Raum um, der wie ein typisches Labor eingerichtet war. Es gab einen offenen Zentralbereich und dazu einen kleineren, mit Sicherheitsglas abgetrennten Vorraum. In der Mitte des Labors standen zwei Tische mit einer verblüffenden Anordnung von Steckbrettern und Kabeln. Auf einem dritten Tisch lagen lediglich lose Kabel. Richard saß an einer Konsole, die größtenteils aus gesteckten Schalttafeln bestand, von denen in merkwürdigen Winkeln Schalter, Drehknöpfe und Anzeigelichter abstanden. Das Ganze sah eher wie eine Hobbyfunkanlage denn wie die Ausrüstung eines verrückten Wissenschaftlers aus.
Richard wies auf den dritten Tisch, und Bill stellte seinen Karton darauf ab. Dann klappte er ihn auf und wickelte vorsichtig den darin enthaltenen Gegenstand aus. Zuletzt nahm er die Kabel und verband sie mit den entsprechenden Anschlüssen an seinem Gerät.
Richard kam herüber, um Bills Apparat in Augenschein zu nehmen. Er bestand aus einem Maschendrahtkubus mit rund dreißig Zentimetern Kantenlänge. In einer Seite war eine Öffnung, die von einem Metallring mit einem Durchmesser von ungefähr zwanzig Zentimetern umgeben war. Auf dem Rand des Rings prangten in regelmäßigen Abständen neun seltsam aussehende, hieroglyphische Symbole.
Richard beugte sich dicht an den Ring heran, riss überrascht die Augen auf und bedachte Bill mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ja«, sage Matt und lachte. »Die Stargate- Dekoration. Hast du das etwa nicht kommen sehen?«
Richard kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken und schien einen Moment lang um Fassung zu ringen. »Na schön. Solange das Gerät funktioniert.«
Matt sah den Apparat fragend an. »Was genau macht das Ding eigentlich?«
Kevin näherte sich mit einem kleinen Gerät in der Hand. »Dieser Käfig wird einen verschobenen Wahrscheinlichkeitsraum enthalten. Durch das Tor … äh, ich meine den Ring da können wir diesen Raum während des Experiments beobachten. So erhalten wir eine visuelle Bestätigung der Verschiebung.«
»Ich verstehe nur Bahnhof«, murmelte Matt.
Kevin streckte die Hand durch den Ring und platzierte das Bauteil im Käfig. »Das hier ist nur ein Gerät, das Interferenzmuster generiert. Es erzeugt einen Laserstrahl, der verschiedene Gitter passiert und so ein zufälliges Interferenzmuster auf den Bildschirm projiziert.« Er deutete auf einen kleinen Bildschirm an der Vorderseite des Geräts. »Wir hoffen, dass wir das Interferenzmuster mit unserem Versuchsaufbau modulieren können. Beim heutigen Durchlauf wollen wir erst mal alles kalibrieren. Wir möchten sichergehen, dass wir trotz neuer Hardware und Steuerungssoftware immer noch dieselben Resultate erhalten.«
Bill sah Matt schräg von der Seite an. »Du hast deine Software bereits installiert?«
»Natürlich. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten war ich pünktlich hier.«
»Der Streber-Look steht dir nicht.«
Matt grinste seinen Freund an und zeigte dann auf den Käfig mit dem Ring. »Also was macht dieses Teil da?«
Bevor Bill antworten konnte, ergriff Richard das Wort. »Bills Stargate -Kopie erzeugt mit präzis getimten Lasern und Strahlenteilern das, was Kevin als autonome Quantenverschränkung bezeichnet. Es erlaubt uns, in ein und demselben physischen Raum verschiedene Orte im Wahrscheinlichkeitsraum anzuwählen. Da er ein Faraday’scher Käfig ist, bleibt dieser Effekt auf sein Inneres beschränkt. Andernfalls würde er sich augenblicklich ausbreiten.«
Matt schüttelte den Kopf. »Ich komme da nicht mit.«
»Ich ehrlich gesagt auch nicht«, gestand Richard. »Ich glaube, abgesehen von Kevin kann das niemand auf diesem Planeten begreifen. Ich hänge mich einfach an ihn dran, verstehst du?«
Bill grinste über dieses für Richard ungewöhnliche Eingeständnis, sagte jedoch nichts dazu.
Nach einem kurzen betretenen Schweigen wandte Richard sich zu seinem Kontrollstand um. »Na gut, Kinder, dann wollen wir mal mit der Show beginnen. Erst schalten wir den Interferenz-Generator an, danach unser Equipment, und dann starten wir mit verschiedenen Dingen.«
Kevin überprüfte die beiden in den Ecken des Raums angebrachten Kameras. Anschließend stellte er eine weitere direkt vor den Ring und startete bei allen dreien die Aufnahme. Dann griff er durch das Tor und legte einen kleinen Schalter um.
Auf dem großen Monitor im hinteren Bereich des Labors erschien die Nahaufnahme des kleinen Geräts aus der Perspektive der dritten Kamera. Sie zeigte ein auf den Bildschirm des Geräts projiziertes Interferenzmuster, das an einander überschneidende Wellen erinnerte, die entstanden, wenn man zwei Steine in einen ruhigen Teich warf. »Nun werde ich die Phasenregelschleife verändern«, kündigte Richard an.
Während sie den Blick auf den Bildschirm gerichtet hielten, begann das Interferenzmuster zu wackeln. Im Verlauf der nächsten Sekunden wurde es erst deutlich komplexer, dann einfacher, bis es sich schließlich zu einem einzigen Kreis zusammenzog. Anschließend ging das Ganze wieder von vorne los.
»Noch mal zur Erinnerung«, sagte Kevin, an niemand Bestimmten gerichtet. »Es ist wichtig zu verstehen, dass wir an dem Gerät, das ich in den Käfig gestellt habe, keine Veränderungen vornehmen. Es ist nichts anderes als ein Laser, der durch ein paar Öffnungen scheint und dabei Interferenzmuster erzeugt. Eigentlich sollte es immer das Gleiche generieren, bis irgendwann die Batterie leer ist. Die Veränderungen, die ihr seht, entstehen, weil wir uns bei unserem Experiment in verschiedene Versionen der Realität ›einwählen‹. Wir bewegen uns gewissermaßen durch das Multiversum.«
Sie beobachteten das Muster noch ein paar Sekunden lang. Schließlich hörte Richard auf, an den Kontrollen herumzuspielen, und die Interferenz wurde wieder stabil.
»Die Szene ist im Kasten«, sagte er und fuhr die Geräte runter. Bill starrte den Monitor an, dann wandte er sich zu Richard und Kevin um, die beide von den Resultaten nicht überrascht zu sein schienen. »Ist es das, womit ihr gerechnet habt?«
»Ja«, sagte Kevin. »Und wenn ihr euch das jetzige Muster auf dem Bildschirm anseht, erkennt ihr, dass es nicht mehr das anfängliche ist.«
Bill inspizierte den Bildschirm. Nach einem Moment zuckte er die Achseln. »Da ich mir das Original nicht eingeprägt habe, muss ich dir das einfach glauben. Aber was heißt das für euer Experiment?«
»Das bedeutet, dass wir die Realität modifiziert haben.« Kevin wies ungeduldig auf den Testaufbau. »Wir haben ein stabiles Wellenmuster dazu gebracht, sich durch seinen Wahrscheinlichkeitsraum zu bewegen, und dann ein anderes Resultat ausgewählt.«
»›Ein anderes Resultat ausgewählt‹ … ›die Realität modifiziert‹. Ihr habt ein feststehendes Endergebnis verändert. Das ist …« Bill drehte sich zu Matt um und dachte, dass seine eigenen Augen vermutlich genauso weit aus dem Kopf traten wie die seines Freundes. »… um ehrlich zu sein, ziemlich unfassbar.«
Richard sagte nichts, aber er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Bill zog die Augenbrauen zusammen. »Aber wenn sich der Lauf der Geschichte verändert, verändern sich normalerweise auch die Erinnerungen der beteiligten Personen – zumindest in allen Filmen, die ich kenne. Wieso wissen wir dann noch, dass auf dem Bildschirm ursprünglich etwas anderes zu sehen war?«
»Wir haben die Geschichte nicht verändert, Bill, sondern nur eine andere aktuelle Realität ausgewählt. Im Grunde genommen biegen wir auf eine andere Weltenlinie ein. Wir bewegen die Realität im Inneren des Käfigs seitwärts und sehen ein anderes Ergebnis von einem eingangs zufällig gewählten Ereignis.«
»Da das Muster jetzt anders ist, muss die Veränderung dauerhaft sein.«
»Ja«, erwiderte Richard. »Wir haben mit alldem nicht gerechnet, als wir dieses Experiment zum ersten Mal durchgeführt haben. Seither haben wir es Dutzende Male wiederholt, und es hat immer funktioniert. Das Problem ist, dass wir nicht wirklich begreifen, wieso es passiert. Deine Hilfe bei der Hardware und Matts Software-Unterstützung werden uns hoffentlich dabei helfen, die Zusammenhänge besser zu verstehen.«
»Welches Ausmaß kann es annehmen?«, fragte Matt. »Ich meine, wie viel Realität könntet ihr verändern?«
»Das wissen wir nicht«, erwiderte Kevin. »Aus den Modellen lassen sich keine Vorhersagen über die Masse oder die Dimensionen ableiten. Ich glaube, es hängt alles davon ab, wie gut man sich in den Wahrscheinlichkeitsraum einwählen kann.«
Bill, der immer noch den Käfig und seinen Inhalt betrachtete, schnaubte gedankenverloren. »Und was jetzt? Was ist der nächste Schritt?«
Richard deutete auf Kevin. »Dann zeigen wir euch jetzt mal den Flipper.«
»Hey, das ist mal ein toller Fachbegriff«, sagte Bill.
»Ich weiß nicht, wie ich das Teil sonst nennen soll«, gab Richard zurück. »Wir haben die durchsichtige Würfelhaube von einem alten Trouble -Spiel abgeschnitten und in die Wende-Vorrichtung einen Verzögerungsmechanismus eingebaut. Eine echte High-Tech-Lösung also.«
Kevin kehrte mit einer transparenten Kuppel zurück, unter der ein einzelner Würfel lag, und stellte sie in den Käfig. Wie zuvor platzierte er eine Videokamera mit Stativ vor dem Tor, um die Vorgänge im Käfig aufzunehmen, und überprüfte anschließend die beiden Kameras in den Zimmerecken.
»Okay«, sagte Richard. »Dann können wir loslegen. Aktiviere den Flipper.«
Kevin langte in den Käfig, drückte die Kuppel nach unten und reckte den Daumen in die Höhe. »Dreißig Sekunden bis zum Ereignis.«
Richard nahm ein paar kleine Anpassungen an seinem Bedienpult vor und legte den Zeigefinger auf eine Schaltwippe. »Ich bin bereit.«
Während sie die Kuppel beobachteten, schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen. »Vielleicht verkürzen wir beim nächsten Mal das Intervall«, murmelte Kevin.
Schließlich knallte die Katapultvorrichtung im Boden. Der Würfel prallte von der Kuppel ab und blieb mit der Vier nach oben liegen. Im nächsten Moment betätigte Richard die Schaltwippe und drehte an einem Knopf. »Und wie ist es jetzt?«
»Äääähm.« Matt deutete auf den großen Monitor. Nun lagen zwei Würfel unter der Kuppel, die ursprüngliche Vier und noch eine Zwei. »Ich habe die ganze Zeit hingesehen. Der zweite Würfel wurde sozusagen eingeblendet …«
Bill wandte sich vom Monitor ab und ging zum Käfig hinüber. Als er seitlich durch das Drahtgeflecht schaute, sah er nur den ersten Würfel, aber als er durch das Tor blickte, entdeckte er auch den zweiten.
Wahnsinn!, dachte er und kehrte zum Monitor zurück. Auf das Trittbrett werden sicher einige aufsteigen …
Ohne Vorwarnung ertönte ein weiterer, sehr lauter Knall, begleitet von einem Blitz, der so kurz aufleuchtete, dass er kaum als Licht wahrzunehmen war. Alle zuckten zusammen. Als ein paar Sekunden lang nichts weiter geschah, gingen sie zum Tisch. Der Würfel zeigte jetzt eine Sechs, und der Käfig war mehrere Zentimeter weit über den Tisch gesprungen.
»Ist das ein dritter Würfel, oder ist das Original bei dem Knall weitergerollt?«, fragte Bill.
Richard deutete auf den Monitor. »Gute Frage. Am besten schauen wir uns das Video an.«
Kevin richtete die Fernbedienung auf die Kamera und startete die Wiedergabe auf dem Monitor. Wieder geschah ungefähr dreißig Sekunden lang nichts, bis Kevins Kommentar zu hören war. Plötzlich schien der Würfel zu verschwimmen. Als die Konturen wieder schärfer wurden, waren es zwei Würfel.
Dann ertönte der laute Knall, gefolgt von dem Blitz, und sie sahen, wie sich der gesamte Käfig bewegte.
»Ich kann es nicht erkennen«, sagte Kevin. »Es könnte einer der beiden Würfel sein, aber genauso gut auch ein dritter, der die anderen zwei ersetzt.«
»Ich würde das Ganze ja als nicht aussagekräftig bezeichnen, aber der Knall selbst ist ein signifikantes Ereignis«, sagte Matt. »Was zum Teufel war das?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Richard. »Wenn ich eine Vermutung anstellen müsste, würde ich sagen, dass der Wahrscheinlichkeitsraum innerhalb des Käfigs in unsere Realität zurückgesprungen ist, und zwar mit genügend Energie, um alles durcheinanderzuwirbeln. Leider wissen wir daher nicht, was genau passiert ist. Vermutlich müssen wir unser Test-Design ein bisschen verändern. Und Jungs, kein Wort hierüber, okay? Allmählich kommt es mir wie kalte Kernfusion oder ein Perpetuum Mobile oder etwas ähnlich Verrücktes vor. Wenn das rauskommt, wird Keeting uns ganz sicher den Stecker ziehen. Als Nächstes werden Matt und ich das Steuerungssystem verbessern, damit wir ein Zielobjekt so erfassen können, dass wir es nicht mehr verlieren. Ich schicke dir eine E-Mail mit den technischen Details, Matt. Bill, könntest du uns noch mal einen größeren und robusteren Käfig mitsamt, äh, Tor bauen? Diesmal vielleicht ohne die Dekorationen?«
»Tja, wie könnte ich solch eine Bitte ausschlagen? Die technische Abteilung ist zwar nicht genauso menschenleer wie die Physikfakultät – anscheinend sind wir noch größere Nerds als ihr –, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit ein paar weiteren kleineren Metallarbeiten nach Feierabend davonkommen werde.«
»Reichen dafür ein paar Tage?« Richard sah Matt und Bill an. Keiner der beiden erhob Einwände. »Na gut. Dann machen wir am Freitag den nächsten Test.«
Matt und Bill verließen gemeinsam das Büro und überließen die mühsame Auswertung des Experiments Richard und Kevin.
Während sie den Flur entlanggingen, drehte sich Bill zu Matt um. »Kein Wort hierüber, hat er gesagt. Was hältst du davon?«
»Abtrünnige Physiker. Du lieber Himmel!«