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Damit konnte niemand rechnen
Bill sah sich im Labor um. »Wisst ihr, der Raum stellte ein besseres Geheimversteck dar, als er noch ein Rattennest aus Ausrüstungsgegenständen und Kabeln war.«
Richard funkelte Bill an, ließ sich aber nicht von ihm provozieren.
Mist,
dachte Bill. Ich habe es wohl nicht mehr drauf.
Richard deutete auf die Geräte. »Wir haben die Hardware, die den Portaleffekt steuert, stark verbessert. Wie Häuptling Große Klappe hier richtig angemerkt hat, ist es uns gelungen, ein paar Redundanzen zu entfernen. Mein Computer-Set-up und Matts Steuerkarten passen mittlerweile in zwei Server-Gehäuse, die durch ein paar Kabel mit Bills Tor-Hardware verbunden sind. Da die Steuerungssoftware jetzt auf einem iPad läuft, brauche ich auch kein Steckbrett mehr. Außerdem haben wir den Suchlauf stabilisiert. Sobald wir einen deutlichen Treffer landen, sollte das Gerät ihn sofort erfassen und die Verbindung halten können. Damit dürfte es keine plötzlichen Verschiebungen mehr geben, die zu einem lauten Knall wie dem neulich führen.«
Bill fächelte sich mit seinem aufgeknöpften Hemd ein wenig Luft zu. Es war ein heißer Tag, selbst für einen Sommer in Nebraska, und alle Fenster standen sperrangelweit offen. Es half zwar ein wenig, dass ihre Seite des Gebäudes
bereits seit einer Weile im Schatten lag, aber es war immer noch sehr stickig. Kevin wedelte mit einer Ausgabe von Sky & Telescope
vor seinem Gesicht herum.
Richard wischte sich die Stirn. »Ja, ich weiß, nicht der ideale Tag, um drinnen zu sein. Lasst uns schnell machen, damit wir bald hier rauskommen.«
Sie machten alles genauso wie beim letzten Mal. Kevin streckte die Hand durch das Tor und platzierte das Würfelgerät im Käfig. Dann stellte er die Videokameras auf ihre gewohnten Positionen. Sobald alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, aktivierte er den Flipper und rief: »Zehn Sekunden«, bevor er sich mit den anderen vor den Monitor stellte.
Richard justierte mit dem Tablet das Portal. »Los geht’s«, sagte er und drückte auf »OK«.
Ein lautes Brüllen ertönte, und das Tor spie einen gelblichen Gasstrahl aus, der die gegenüberliegende Wand versengte. Gleichzeitig wurde es im Raum unerträglich heiß, als hätte jemand die Klappe eines Hochofens geöffnet. Der Tisch mit der Kontroll-Hardware drehte sich um hundertachtzig Grad, während der andere mit der Testapparatur auf zwei Beinen kippelte und beinahe umfiel. Schließlich schlug ein Kurzschluss einen grellen Funken und deaktivierte schlagartig die gesamte Ausrüstung, worauf sich das Tor schloss und den Gasstrahl abschnitt.
Da sich nun das Gas im Raum ausbreitete, rannten sie hustend und würgend hinaus.
Bill schlug die Labortür hinter sich zu. Er drehte sich um und sah die anderen an. Der Schock stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Ungefähr eine halbe Minute lang sprach niemand ein Wort. Bill lehnte sich an die Tür und wartete darauf, dass jemand etwas sagte oder tat. Als er schließlich einsah, dass
sich keiner der anderen freiwillig melden würde, öffnete er vorsichtig wieder die Tür. Der Gestank und die Hitze verzogen sich durch die Fenster, und man konnte es im Labor allmählich wieder aushalten. Nach kurzem Zögern trat Bill ein.
Matt folgte ihm und ging zu dem Brandfleck an der Wand. »Noch warm.«
»Was für ein Spaß. Das müssen wir unbedingt bald mal wiederholen.« Bill grinste, aber er war zutiefst aufgewühlt und warf Matt einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was hast du dir doch gleich gewünscht? Mehr Aufregung? Bist du jetzt zufrieden?«
Matt zuckte die Achseln und schaffte es, gleichzeitig selbstgefällig und verlegen auszusehen.
Bill rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann sah er sich rasch im Raum um. »Ich glaube, damit hat keiner von uns gerechnet, oder?«
Richard schnaubte bloß. Er untersuchte die Geräte und fand schon bald das verschmorte Kabel.
»Was genau war das?«, fragte Matt. »Hat irgendwer eine Theorie?«
»Nein, aber aus diesem Grund zeichnen wir alles auf«, sagte Kevin, der gerade mit den drei Kameras zurückkehrte. Eine von ihnen hatte stark gelitten. Kevin verband sie mit dem Monitor und drückte auf »Play«. Das Video zeigte, wie der Flipper einen Sekundenbruchteil lang unscharf wurde. Dann folgten ein paar chaotische Augenblicke, die mit einer verschwommenen Aufnahme des Bodens und von Tischbeinen endete.
»Ich glaube, diese Kamera müssen wir in den Ruhestand schicken«, bemerkte Richard. »Anscheinend ist die Optik beschädigt.«
Bill kicherte. »Du meinst wohl getoastet
.
«
»Ich glaube, dampfgekocht trifft es besser«, erwiderte Matt.
Richard sah die beiden durchdringend an. »Müsst ihr euch eigentlich immer über alles lustig machen?«
Kevin ignorierte das Geplänkel und schloss eine der beiden anderen Kameras an. Diesmal war zu sehen, wie das blasse gelbliche Gas aus dem Tor herausschoss. Zwei Sekunden später wurde der Strahl abgeschnitten. Sie spielten das Video erneut ab, diesmal Frame für Frame.
Als die Gaswolke deutlich zu sehen war, beugte Bill sich zum Monitor vor. »Ich will verdammt sein, wenn das nicht genau wie der Strahl aussieht, der aus dem Stargate schießt, wenn es sich aktiviert.« Er grinste Matt an, der jedoch bloß die Augen verdrehte.
Anschließend sahen sie sich die Videoaufnahme der dritten Kamera an, die abgesehen von einer veränderten Perspektive nichts Neues beisteuerte. Das einzig Bemerkenswerte waren sechs Frames, die zeigten, wie Richard panisch zurücksprang. Bill nahm Kevin die Fernbedienung weg und spielte die entsprechende Sequenz ein paarmal hintereinander ab.
»Okay, Witzbold, das reicht«, sagte Richard nach dem dritten Durchlauf. Er nahm Bill die Fernbedienung aus der Hand und legte sie mit Nachdruck auf den Tisch, ehe er einen Moment lang in Gedanken versank. »Ich glaube, das müssen wir noch mal machen«, sagte er schließlich, »aber mit ein bisschen mehr Vorbereitung. Sag mal, Bill, meinst du, du könntest irgendwas bauen, das die Atmosphäre um das Tor herum versiegelt?«
Bill nickte. »Ich glaube, in der technischen Abteilung gibt es ein paar Dinge, die ich entsprechend verändern könnte. Wie viel Druck muss das Siegel denn aushalten?«
»Wahrscheinlich nicht viel. Der Strahl ist nicht wie bei
einem Hochdruckreiniger herausgeschossen. Das können nicht mehr als ein paar Atmosphären gewesen sein.«
»Hmm, okay, lass mich darüber nachdenken.« Bill setzte sich hin. Nachdem er eine Weile in die Ferne geblickt hatte, sagte er: »Ich glaube, wir haben etwas, das funktionieren müsste, sofern ich es unbemerkt ausleihen und wieder zurückbringen kann.«
Matt suchte die Ausrüstung und den Raum nach weiteren Schäden ab. Kevin nahm Platz und ging allem Anschein nach in den »Mathe-Modus«. Nach ungefähr zehn Minuten kamen sie alle wieder zusammen, um sich erneut zu besprechen.
»Ich habe mir die Datenprotokolle angesehen«, sagte Richard. »Die Zielerfassung hat funktioniert. Sie hat bloß nicht angepeilt, was wir wollten. Der Phasenraum wurde chaotisch, und die Ausrüstung hat einen merkwürdigen Attraktor gefunden, der weit außerhalb der von uns gesetzten Limits lag.«
»Wieso hat das Gerät die eingestellten Limits ignoriert?«, fragte Matt.
»Dieser spezielle Attraktor scheint ein so starker Ort gewesen zu sein, dass es war, als würde das Tor bergab darauf zurollen.« Richard kratzte sich nachdenklich am Kopf und rang um die richtigen Worte. »Unsere Ausrüstung musste keine zusätzliche Energie aufwenden, um diesen Ort zu erfassen. Tatsächlich wäre zusätzliche Energie nötig gewesen, um ihn zu vermeiden
.«
»Ich glaube, das bedeutet«, fügte Kevin hinzu, »dass es eine alternative Realität gibt, die ›realer‹ ist als unser Würfel. Das bisschen Realität, das wir uns bislang geholt haben, waren nicht stabile Punkte im Phasenraum. Richard hat recht: Sobald unsere Ausrüstung in die Nähe von etwas Stabilem gelangt, ist es, als würde sie hangabwärts rollen.
«
»Äh …« Matt sah Richard an. »Ich habe den Prozess für Neuronales-Netz-Feedback implementiert, um den du mich gebeten hast. Der könnte so etwas bewirken.«
Richard nickte wortlos.
»Dann gibt es in eurem Wahrscheinlichkeits-Phasenraum also stabile Inseln?«, fragte Bill. »Cool. Eine kleine Frage ist bislang allerdings noch ungeklärt. Mit was zum Teufel
haben wir uns da gerade verbunden?«
»Der Venus vielleicht?«, schlug Matt vor.
»Ich glaube nicht, dass es die Venus war«, antwortete Kevin. »Zum einen beträgt der Druck auf der Oberfläche der Venus ungefähr 90 Atmosphären, und außerdem ist es dort heiß genug, um Blei zu schmelzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir und das Gebäude diesen Kontakt nicht überlebt hätten.«
»Danke, jetzt fühle ich mich gleich viel
besser«, murmelte Bill.
»Aber«, fuhr Kevin fort, »ich habe mir noch einmal die Aufnahmen der ersten Kamera Frame für Frame angesehen. Schaut euch an, was sie gleich zu Beginn des Ereignisses aufgezeichnet hat.«
Sie gingen alle dicht an den Monitor heran. Er zeigte ein Standbild von ein paar kleinen schwarzen Objekten, die durch den Gasstrahl verzerrt wirkten.
»Das ist nicht der Flipper«, sagte Matt. »Hat irgendwer eine Idee, was das für Dinger sind?«
»Nein«, antwortete Bill. »Aber ich wette, dass sie nicht aus dieser Gegend stammen.«
Richard räusperte sich. »Ja, okay. Dann bauen wir dieses Set-up in Bills Druckcontainer noch mal neu auf. In ein paar Tagen starten wir den nächsten Versuch. Vielleicht solltet ihr dazu Schutzkleidung mitbringen.«
Bill grinste. »Und Ersatzunterwäsche.«