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Eau de SO2
16. Juni
Erin ließ ihren Kapuzenpulli auf den Boden fallen und lümmelte sich auf Matts Couch. »Das war … interessant. Wahrscheinlich sollte ich mich mehr darüber aufregen, dass der Trip frühzeitig abgebrochen wurde, aber ehrlich gesagt bin ich vor allem froh, dass ich in einem Stück aus der Sache rausgekommen bin.«
»Also, ich bin froh, dass du zurück bist, noch dazu mit allen Armen und Beinen«, erwiderte Matt. »Sicherheitshalber werde ich später noch eine Bestandsaufnahme machen.«
Er schien ehrlich erleichtert zu sein, dass sie wieder da war. Die E-Mail, die sie ihm aus dem Yellowstone-Park geschickt hatte, war sehr detailliert gewesen und hatte ihm möglicherweise den Eindruck vermittelt, sie hätte sich in größerer Gefahr befunden, als sie zugeben wollte. Insgeheim dachte Erin, dass er mit diesem Verdacht wahrscheinlich sogar recht hatte. Je mehr sie über die Ereignisse während der Exkursion nachdachte, desto schwerer fiel es ihr, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Matt nahm neben ihr Platz und legte die Arme um sie. Erin kuschelte sich an ihn.
Gleich darauf rümpfte sie die Nase und setzte sich aufrecht hin. »Anscheinend ist mir der Gestank des Yellowstone ganz schön unter die Haut gegangen. Es kommt mir so vor, als würde ich das Schwefeldioxid immer noch riechen.« Erin schnupperte kurz an ihrem Arm und sah sich dann mit gerunzelter Stirn um. »Nein, das kommt nicht von mir. Und ich bilde es mir auch nicht ein.« Sie stand auf und lief ein paar Sekunden lang durch den Raum, bis sie schließlich eines von Matts T-Shirts von einer Stuhllehne nahm. »Wieso riecht dieses Shirt wie eine Fumarole, Matt?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Dein T-Shirt stinkt nach Schwefeldioxid.« Sie stupste ihn scherzhaft mit dem Zeigefinger an. »Triffst du dich hinter meinem Rücken etwa noch mit anderen Vulkanologinnen?«
»Ach, das … Das kommt von einem Experiment, das wir gestern durchgeführt haben.«
»Du sprichst von eurem Bro-jekt, oder? Aber wieso riechst du nach einem Physikexperiment über Zufallsereignisse wie ein Vulkan?«
»Äh …« Matt erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Okay … das ist interessant, dachte Erin. Offenbar ging es um mehr als nur eine wissenschaftliche Spielerei.
»Äh«, wiederholte er, »Richard ist ein bisschen verrückt, was Geheimhaltung anbelangt, und er versteht bei diesem Thema keinen Spaß. Eigentlich bei überhaupt keinem Thema.«
»Ja, ja, schon gut. Jetzt lenk nicht ab und sag, was los ist.«
Matt seufzte und erzählte ihr, was im Labor passiert war.
»Also hat euer Projekt eine Gaswolke ausgestoßen, von der dieser Geruch stammt?«
»Das ist eigentlich alles streng vertraulich. Dass ich meiner Freundin davon erzähle, wird mich meine Bro-Lizenz kosten. Ganz zu schweigen davon, dass Bill irgendeinen Film erwähnen wird, in dem genau das passiert und anschließend jemand stirbt.«
»Zu eurem nächsten Treffen komme ich mit«, sagte Erin in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Ich muss mit euch allen darüber sprechen. Ich bin nicht sicher, ob ihr das wirklich gut durchdacht habt. Ehrlich gesagt kann ich mir das kaum vorstellen.«
Ein paar Stunden später hielt Matt ihr die Tür zum Dempsey’s auf. Sie wartete, während er nach den anderen Ausschau hielt. Der Pub war nicht mal halb voll und das Stimmengewirr gedämpft. Da Mittagszeit war, hing der Duft von karamellisierten Zwiebeln, gegartem Rindfleisch und Essig in der Luft. Erin lächelte, als sie hörte, wie Matt der Magen knurrte. Ich hätte auch nichts gegen einen Burger einzuwenden.
Er berührte sie sanft am Ellbogen, und sie folgte ihm. Sie gingen auf einen Tisch zu, an dem drei Männer saßen. Bill kannte sie bereits, und ihr war sofort klar, wer von den anderen beiden Richard und wer Kevin war.
Als sie am Tisch ankamen, musterte sie ihre Gesichter. Kevins Miene war mehr oder weniger reglos – er schien sie kaum wahrzunehmen. Das Mathegenie, hatte Matt ihn genannt. Also hielt er sich vermutlich nur selten in der gleichen Realität auf wie der Rest der Welt.
Richard, ein großer Mann, der sie eher an einen Fullback als einen Physiker erinnerte, hatte zuerst überrascht ausgesehen, doch nun wurde er wütend. Matt würde ihr das Problem mit dem Projektberater noch mal genauer erklären müssen, aber es schien zu stimmen, was er ihr erzählt hatte – Richard war wie eine Glucke, was dieses Projekt anbelangte, und er wirkte alles andere als erfreut über ihre Anwesenheit .
Bill grinste natürlich. Wahrscheinlich freute er sich darauf, dass gleich die Fetzen fliegen würden. Typisch Bill – er liebte es, Unruhe zu stiften.
Matt hielt ihr den Stuhl. Während sie sich hinsetzte, fasste Richard sie fest ins Auge. Sie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, damit er gleich wusste, mit wem er es zu tun bekam.
Matt stellte sie einander vor. Richard wartete, bis er damit fertig war, dann sagte er: »Ich nehme an, es gibt einen guten Grund dafür, dass du deine Freundin mitgebracht hast.«
Bevor Matt antworten konnte, hob Erin einen Finger. »Ich bin nicht als Matts Freundin hier. Ich repräsentiere mich selbst. Und ich bin gekommen, um euch etwas über euer Experiment zu erzählen, das euch bislang offensichtlich völlig entgangen ist.«
Nun ging Matt dazwischen, ehe Richard etwas erwidern konnte. »Hör zu, Richard, Erin hat den Schwefelgeruch von unserem gestrigen Versuch an meiner Kleidung gerochen, und ich glaube, dass sie besser als wir versteht, was passiert ist.« Er breitete die Hände aus. »Erin studiert Geologie im Hauptfach. Sie hat die chemische Zusammensetzung der Gaswolke am Geruch erkannt, und es macht mich ein bisschen nervös, dass sie gedacht hat, ich hätte neben einem Vulkan gestanden. Ich weiß, dass du dieses Projekt geheim halten willst, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir keine Ahnung haben, was wir da tun. Wir haben ein Portal, durch das Dinge kommen können. Was ist, wenn beim nächsten Versuch etwas noch Schlimmeres passiert? Wenn wir das Portal im Inneren eines Vulkans öffnen? Oder in einem Stern?«
Die anderen sahen allesamt Richard an, der Matt unverwandt anstarrte. »Wie viel hast du ihr erzählt? «
»Was nötig war. Sie versteht das Problem und begreift, warum die Sache geheim bleiben muss.«
Richard drehte sich mit finsterer Miene zu Erin um. »Verstehst du das wirklich? Du könntest großen Schaden anrichten …«
»Ja, das ist mir klar, Richard. Können wir weitermachen?«
Richard versuchte noch einen Moment lang, Erin niederzustarren, dann nickte er seufzend. »Okay, vielleicht tut uns eine frische Perspektive gut.« Er holte sein Handy aus der Tasche, tippte ein paarmal auf das Display und reichte es Erin. »Das ist das Video von dem Ereignis.«
Sie drückte auf »Play« und betrachtete die Aufnahme. Richard, Bill und Kevin kommentierten, was sie sah.
Als das Video zu Ende war, saß Erin einen Moment lang in Gedanken versunken da, bevor sie Richard das Handy zurückgab. »Ich nehme an, das hattet ihr nicht erwartet. Matt hat mir erzählt, dass ihr mit Würfeln experimentiert habt.«
Richard sah auf seine Hände hinab, und Erin erkannte, dass er ein Grinsen unterdrückte. Interessant. Nicht so humorlos, wie Matt glaubt. Ist es ihm wichtig, sich zu kontrollieren?
Richard sah mit todernster Miene auf. »Ja, wir gehen davon aus, dass die von deinem Freund veränderte Software dafür verantwortlich ist. Er hat einen KI-basierten Feedback-Prozess implementiert, der lernfähig ist. Anscheinend hat der ein interessanteres Ziel als unseren Flipper entdeckt.«
Erin sah Matt an, der bloß lächelnd die Achseln zuckte.
Sie sah sich am Tisch um. »Hört mal, die Hitze und dieses spezielle Gas kann nicht viele Ursachen haben. Entweder habt ihr euch mit einem Vulkan oder etwas Vulkanartigem verbunden, oder es war die Venus.« Erin sah Kevin an. » Du hast recht: Wahrscheinlich war es nicht die Venus – zumindest nicht auf der Oberfläche –, weil ihr dann alle ziemlich tot wärt. Eine Temperatur von rund fünfhundert Grad Celsius hätte die Wand nicht nur angekokelt. Aber ihr habt mit etwas Kontakt gehabt, das nicht von hier stammt – zumindest nicht aus unserer Version von hier. Und sobald ihr das akzeptiert, ist alles denkbar.«
Richard beugte sich auf die Ellbogen gestützt vor. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Matt hat mir gesagt, dass ihr es bald noch einmal versuchen werdet, und zwar in einer luftdichten Hülle. Das klingt nach einem guten Plan. Werdet ihr eine Art Totmannschalter einbauen, der ausgelöst wird, wenn das Siegel nicht hält?«
»Äh, jetzt werde ich es tun«, antwortete Richard überrascht.
Erin sah Bill knapp außerhalb von Richards Sichtfeld grinsen und musste sich anstrengen, um es ihm nicht gleichzutun. Daher tat sie, als würde sie sich die Lippen reiben, während sie langsam nickte. »Okay. Ich möchte gern dabei sein. Könntet ihr Kameras auf das Portal richten, oder was immer es ist?«
»Ja.« Richard schnaubte abschätzig. »Wir müssen nur noch herausfinden, wie wir dafür sorgen können, dass sie diese Erfahrung überleben.«
Erin klopfte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch. »Könnt ihr mir erklären, um was es dabei geht? Ich weiß, dass es irgendwas mit Schroeders Katze und Zufallsereignissen zu tun hat, aber das war’s dann auch schon.«
Kevin hob einen Finger. »Zuerst einmal war es Schrödingers Katze, nicht Schroeders. Schrödinger war ein Wissenschaftler; Schroeder spielt Klavier.«
Erin fiel auf, dass er beim Reden niemanden ansah, selbst jetzt, als er auf ihre Frage antwortete. Als hielte er eine Vorlesung. Sie hob eine Augenbraue und wartete darauf, dass er fortfuhr.
»Äh, gut. Wie auch immer. Laut meinen Modellen ist die gängige Vorstellung, dass sich bei jedem zufälligen Ereignis ein neues Universum abspaltet, nicht korrekt. Wenn du eine Münze wirfst, werden gemäß meiner Theorie nur die Dinge dupliziert, die von dem Münzwurf betroffen sind, und die duplizierten Realitäten existieren alle in ein und demselben Universum.«
»So wie in Sliders – Das Tor in eine fremde Dimension ?«, fragte Bill.
»Nein. Erstens ist das Fernsehen generell keine geeignete Quelle für wissenschaftliche Informationen, und zweitens sind die Macher dieser Serie davon ausgegangen, dass man selbst für die kleinste Entscheidung eine neue Welt bekommt. In der Realität kann jedoch nur ein signifikantes Ereignis eine neue Weltenlinie erschaffen, die bestehen bleibt. Würfelergebnisse gleichen sich dagegen gegenseitig aus.«
Da Kevin den Anschein erweckte, als würde er gleich wirklich eine Vorlesung halten, hob Erin eine Hand, um ihn davon abzuhalten. Sie sah sich erneut am Tisch um und amüsierte sich insgeheim über diese Gruppe von Männern, die möglicherweise gerade Geschichte schrieben und diesen historischen Wendepunkt wie ein technisches Problem behandelten.