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Abenteuer unter Glas
19. Juni
Bill blickte auf, als Matt und Erin eintraten. Grinsend sah er, wie Erin fast ins Stolpern geriet, da sie offenbar zum ersten Mal ein echtes Verrückte-Wissenschaftler-Labor sah.
In einer Ecke standen die Steuergeräte für das Portal, in Form von zwei Server-Gehäusen und ein paar Kabeln, auf einem Klapptisch neben dem großen Monitor. In der Mitte des Raums befand sich das Portal selbst in etwas, das wie ein riesiges, mit Metall verstärktes Goldfischglas aussah. Die Kabel waren durch einen Dichtungsring oben auf dem Container geführt. Eine der Kameras war so positioniert, dass sie durch das Glas direkt auf das Tor gerichtet war. Der gesamte Aufbau stand zusammen mit der Kamera auf einer großen strombetriebenen Drehscheibe.
Matt deutete auf das Set-up. »Das
ist mal ein richtig schöner Rube Goldberg.«
Richard wies ebenfalls mit der Hand auf die Ausrüstung. »Das da ist das Druckbehältnis, das Bill gebaut hat. Ich habe keine Ahnung, wofür es ursprünglich gedacht war, und Bill grinst nur, wenn ich ihn danach frage. Vielleicht bringst du diese Information aus ihm raus. Der Plan sieht jedenfalls vor, dass wir den Käfig auf der Drehscheibe rotieren lassen, um eine Rundumsicht auf die Ereignisse zu bekommen.
«
»Glaubt ihr, dass das funktioniert?«
»Das sollte es. Du darfst dir das nicht wie einen Fernseher vorstellen. Es ist eher wie ein Periskop. Beim letzten Mal kam Gas hindurch, also ist es ein echter physischer Kontakt, nicht nur ein Bild. Ich glaube, wir können unseren Beobachtungspunkt verändern, indem wir das Tor drehen.«
»Und wir werden wieder alle zusammen im Observationsraum sitzen.« Bill zeigte auf einen Bereich, der mit einer dicken Glaswand abgetrennt war. »Nur für den Fall.«
Richard nickte zerstreut, während er die Startsequenz auf seinem Tablet durchging. »Ich habe die Parameter aus den Datenprotokollen von neulich. Daher weiß ich, wo der Attraktor sich befindet. Ich kann das Equipment auf den ungefähren Ort im Phasenraum ausrichten und es dann selbst das Ziel erfassen lassen.«
»Sollte nicht irgendwer eine Rede halten?«, fragte Bill. »Neues Leben und neue Zivilisationen et cetera et cetera.«
»Unfassbar«, murmelte Richard, während er den letzten Schalter umlegte. »Okay, in dreißig Sekunden geht’s los. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, in Deckung zu gehen.« Er ließ seinen Worten Taten folgen und lief, dicht gefolgt vom Rest der Gruppe, in den Observationsraum.
Der Monitor zeigte die Bilder der Kameras. Kevin spielte an der Fernbedienung herum und vergrößerte das Fenster, in dem das inaktive Tor zu sehen war.
»Nur falls das schlimm ausgeht«, sagte Bill. »Es war schön, euch alle kennenzulernen.«
»Verdammt noch mal! Kannst du nicht wenigstens ein einziges Mal die Klappe halten?«
»Bislang ist alles nur Theorie. Was ist, wenn wir uns komplett getäuscht haben?« Bill imitierte mit den Händen eine Explosion.
Ehe Richard antworten konnte, lief der Timer ab, und
das Portal aktivierte sich. Es gab einen kurzen Blitz, der alle, einschließlich Bill, zusammenzucken ließ. Dann gerann der Bereich innerhalb des Tors zu einem trüben Bild von etwas, das eine Landschaft mit weit entfernten, großen Objekten zu sein schien. Das Behältnis ächzte leise, während sich die Druckverhältnisse innerhalb und außerhalb des Portals einander anglichen. Ein Blick hinüber zu den Anzeigen am Behälter ergab, dass sich die Luft in seinem Inneren mit atmosphärischen Gasen von der anderen Seite vermischte. Der Druck betrug ein bisschen mehr als zwei Atmosphären, die Temperatur lag bei neunzig Grad Celsius.
Sobald sich das Gemisch stabilisiert hatte, klärte sich die Sicht durch das Tor ein wenig auf. Kevin richtete die Fernbedienung auf die Videokamera. Als er das Portal heranzoomte, merkten sie, dass sie auf den UNL-Campus blickten, besser gesagt, auf dessen Ruinen. Im trägen Dunst erkannten sie stark verwitterte und teilweise zusammengebrochene Gebäude.
»Das ist das Maschinenbauzentrum«, sagte Kevin leise.
»Und Othmer Hall oder was davon übrig ist«, fügte Erin hinzu.
Nach ein paar Sekunden Schweigen sagte Kevin: »Die Gebäude da liegen auch auf unserer Seite in dieser Richtung.«
Sie starrten die Verwüstungen an. Abgesehen vom leichten Wabern des Nebels bewegte sich nichts.
»Das ist völlig verrückt«, sagte Bill in die Stille hinein. Niemand antwortete ihm. Er sah sich um und merkte, dass die Blicke der anderen seine eigenen Gefühle widerspiegelten.
»Okay, ich werde das Ganze jetzt rotieren lassen.« Richard betätigte einen Schalter. Als die Drehscheibe in Bewegung geriet, glitt das Bild auf dem Monitor zur Seite
weg. Nachdem sich die gesamte Baugruppe ungefähr um neunzig Grad gedreht hatte, sahen sie ein unscharfes Bild von etwas, das sich zu nah an der Kamera befand. Kevin zoomte heraus, und sie erkannten, dass sie auf eine Wand schauten. Nach weiteren neunzig Grad blickten sie in den Raum, in dem sie gerade alle standen, oder besser gesagt in eine schwer beschädigte Version dieses Raums.
»Also nicht die Venus«, sagte Bill ehrfürchtig.
»Nein«, pflichtete Erin ihm bei. »Das ist die Erde. Nicht so schlimm wie die Venus, aber schlimm genug. Es ist eine alternative Erde, deren Bewohner beim Münzwurf verloren haben.«
Nach Abschluss des Experiments begaben sie sich alle ins Dempsey’s. In stillschweigendem Einvernehmen schauten sie erst in die Speisekarte und bestellten etwas zu essen und zu trinken, bevor sie über das soeben Erlebte sprachen. Sobald die Kellnerin gegangen war, drehte Erin sich zu Kevin um. »Gibt es nur eine alternative Erde oder unendlich viele?«
»Äh, vermutlich mehr als eine und möglicherweise unendlich viele. Die Zeit ist – zumindest laut meinen Berechnungen – multidimensional. Sie besteht aus dem normalen Vor und Zurück, das wir als Vergangenheit und Zukunft erleben, aber es gibt Platz für zahlreiche Spuren. Und das bedeutet, dass verschiedene Weltenlinien parallel verlaufen können.« Kevin machte eine Pause und kratzte sich am Kopf. »Der seltsame Attraktor, den wir erlebt haben, bestätigt ein paar meiner Formeln. Zeitlinien können sich aufteilen und eine Weile nebeneinanderher laufen,bevor sie sich schließlich wieder vereinen, sobald sich die Unterschiede zwischen ihnen ausgeglichen haben. Aber wenn etwas so Einschneidendes passiert, dass sie sich
niemals
wiedervereinen können, weil keine Ereignisketten mehr möglich sind, die zu einer ausreichenden Ähnlichkeit führen, dann bekommt man einen neuen Attraktor. So formuliert klingt das dämlich, da es sich nur mit schlechten Analogien beschreiben lässt. Mathematisch ausgedrückt ergibt das alles viel mehr Sinn.«
»Ich nehme an, ein totaler Zusammenbruch der Erde, wie er sich dort scheinbar ereignet hat, bei dem alles und jeder gestorben ist, ist einschneidend genug«, sagte Matt. »Die Frage ist, gibt es jenseits davon noch eine weitere Erde? Und wenn ja, ist die besser, oder wird es noch schlimmer?«
»Ja, vielleicht, nein«, erwiderte Kevin. »Wenn jenseits der Treibhauserde noch weitere existieren, könnten sie schlimmer oder besser sein. Es ist ein Random Walk, kein Trend. Obwohl es eine generelle Tendenz dazu geben könnte, dass jede Erde ein bisschen sonderbarer ist als unsere – die zu Schlacke verbrannten Brocken nicht mitgezählt.«
»Können wir mit anderen Weltenlinien Kontakt aufnehmen?«, fragte Erin.
»Das können wir, aber nur, wenn wir einen Attraktor finden und erfassen.« Kevin warf einen kurzen Seitenblick auf Richard.
»Da das Portal-Equipment immer mit denselben Parametern startet«, fügte Richard hinzu, »werden wir mit den derzeitigen Einstellungen jedes Mal die Treibhauserde erfassen. Für das, was ihr meint, müssten wir mit der Ausrüstung in eine völlig willkürlich gewählte Richtung zielen.«
»Geht das?«
»Prinzipiell ist es möglich, aber wir haben keine Steuervorrichtung in die Ausrüstung eingebaut.« Richard sah erst Kevin und dann Matt an. »Wir könnten beim Hochfahren
die X- und Y-Abstimmphasen verschieben. Kannst du solch einen Regler in die Benutzeroberfläche einfügen, Matt?«
»Kein Problem.«
Bill sah sich am Tisch um. »Das ist … gewaltig. Das ist euch allen doch klar, oder? Wir haben gerade die Viele-Welten-Theorie bewiesen. Mehr oder weniger. Das wird die Welt für immer verändern.«
»Und das ist genau der Grund«, antwortete Richard, »wieso Kevin und ich uns solche Sorgen wegen Keeting machen. In einer idealen Welt würden wir dafür Anerkennung ernten, reich und berühmt werden, den Nobelpreis einheimsen und so weiter.«
»Aber in der wirklichen Welt kann es euch jemand wegnehmen, sodass ihr am Ende mit leeren Händen dasteht. Ich verstehe.« Bill senkte einen Moment lang den Blick. »Das muss noch nicht mal die Universität sein. Wenn die Regierung von der Sache Wind bekommt, könnte sie sie mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen. Dann würden wir möglicherweise alle verschwinden und den Rest unseres Lebens in Area 51 verbringen. Oder in flachen Gräbern.«
Richard runzelte die Stirn. »Weißt du, es ist wirklich nicht nötig, sich über uns lustig zu machen.«
»Weshalb glaubst du, dass ich das nicht ernst meine? Ihr macht euch Sorgen wegen Keeting, als ob ein abgehalfterter Bürokrat das Schlimmste wäre, was euch passieren kann. Meiner Meinung nach ist Keeting vor allem ein Problem, weil er allen von euren Erkenntnissen erzählen würde, die bereit wären, ihm zuzuhören. Glaubst du, die Regierung würde sich einfach zurücklehnen und abwarten, was passiert, wenn sie davon erführe? Meint ihr ernsthaft, für so etwas gäbe es keine militärische Anwendungsmöglichkeit?«
Richard starrte Bill ein paar Sekunden lang schweigend
an. »Ja, okay. Dann ist es also noch schlimmer, als ich gedacht habe. Vielen Dank, jetzt fühle ich mich gleich viel besser.«
Bill zuckte die Achseln. »Es schadet nichts, wenn wir uns klarmachen, auf was wir uns hier einlassen.«
Einen Moment lang dachten alle bedrückt über die möglichen Folgen nach.
»Sollen wir es tun?«, fragte Erin. »Es ans Militär übergeben, meine ich. Wäre das denn eine so schlechte Idee?«
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte Richard. »Sie würden es uns ohne Entschädigung oder Erklärung entziehen. Wir sind bloß Studenten. Kevin ist Inder, und angesichts meiner Familiensituation wäre ich auf jeden Fall ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Die würden uns auf keinen Fall erlauben, weiter daran zu arbeiten. Sie würden es uns einfach aus den Händen reißen.« Er sah Bill durchdringend an. »Nicht schlecht. Jetzt hast du mich so weit gebracht.«
»Trotzdem«, warf Matt ein. »Erins Frage ist berechtigt. Wäre es nicht die verantwortungsvollste Lösung?«
Richard setzte zu einer Antwort an, aber Bill unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Lass mich darauf antworten. Ihr geht davon aus, dass die Regierung und das Militär verantwortungsvoll und moralisch integer mit dieser Entdeckung umgehen würden. Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Es gib so vieles, was sich damit erreichen ließe – wissenschaftlich, humanitär, was auch immer –, aber wenn die Regierung diese Forschung in die Finger bekommt, ist all das hinfällig.«
»Und ich will zwar nicht dauernd darauf herumreiten, aber Kevin und ich würden außerdem gerne etwas für diese Entdeckung haben«, ergänzte Richard.
»Okay«, antwortete Erin. »Ich sehe es gar nicht anders als ihr, aber diese Frage musste gestellt werden.
«
»Die beiden Optionen schließen sich übrigens gar nicht gegenseitig aus«, sagte Bill. »Wir könnten eine Zeit lang daran arbeiten und es abgeben, wenn uns die ganze Angelegenheit über den Kopf wächst. Aber sobald wir das tun, gibt es keinen Weg zurück.«
»Oder wir gehen damit gleich an die Öffentlichkeit«, sagte Matt. »Wir machen es für jedermann zugänglich.«
»Und verlieren damit ebenfalls jede Kontrolle darüber«, brummte Richard.
»Was erhoffst du dir eigentlich davon?«, fragte Erin.
»Ich weiß noch nicht, was wir
damit anstellen können. Aber ich würde es gerne herausfinden. Genau deswegen bin ich ursprünglich Wissenschaftler geworden.«
Erin lächelte Richard wissend an und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Bill hat recht. Die Veröffentlichung des Materials wäre eine Einbahnstraße. Daher sollten wir es, zumindest erst einmal, für uns behalten. Über all das können wir immer noch diskutieren, wenn etwas schiefgeht.«