22
Die Straße nach Hause
1. Juli
Am nächsten Morgen wachte Bill davon auf, dass Richard lautstark Schubladen aufzog und wieder zuschob.
»Wie spät ist es? Viertel vor Sonnenaufgang?«
»Fast sieben«, sagte Richard. »Wir wollen früh los.«
»Sagt wer?«
Matt setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. »Du musst es so sehen: Wir werden nicht lange auf einen Tisch im Restaurant warten, und du bekommst früher deinen Kaffee.«
»Ich bin dabei!« Bill sprang aus dem Bett und ging zum Badezimmer.
Richard grinste. »Das muss ich mir merken.«
Genau wie Matt es vorhergesagt hatte, bekamen sie sofort einen Tisch und ihren Kaffee. Alle lächelten, bis auf Erin.
»Hey, Schmoll-Girl!«, schimpfte Bill. »Wir haben gerade eine erfolgreiche Expedition hinter uns gebracht. Was soll der finstere Gesichtsausdruck?«
Erin hob den Blick, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Entschuldige, Bill. Ich denke über den höheren Boden auf der anderen Seite nach. Es ist Vulkanasche.«
»Ah, jetzt kommt’s raus«, murmelte Richard. »Ich wusste doch, dass etwas los ist.
«
»Bist du sicher?«, fragte Monica.
»Ja, die Zusammensetzung und das Aussehen von Vulkanasche sind unverwechselbar. Auf der anderen Seite gab es einen Vulkanausbruch, der hier nicht stattgefunden hat.«
»Wie lange ist das her?«
»Nicht sehr lange«, sagte Erin. »Auf der Asche liegt eine dicke Humusschicht. Der Bach hat sie bis zum ursprünglichen Bett weggespült, und das dauerte eine ganze Weile. Nicht zu vergessen, dass so viel Asche das Ökosystem ausgelöscht haben muss. Und es gibt keine sichtbaren Spuren des alten Pflanzenreichs, wie zum Beispiel tote Bäume.«
»Und …?«, sagte Bill und bedeutete ihr mit einer kreisenden Handbewegung weiterzusprechen.
»Nicht weniger als zehntausend und nicht mehr als hunderttausend Jahre. Mein Professor würde mir ganz schön die Leviten lesen, weil ich nach einer kleinen Grabung so eine umfassende Aussage tätige, aber danach sieht es aus.«
»Ist das wichtig?« Bill hob abwehrend die Hände, als Erin ihn böse anschaute. »Hey, ich will nicht dein Fachgebiet herabwürdigen. Ich meine, ob es aus rein praktischer Sicht etwas an unseren Plänen ändert.«
Erin sah ihn noch einen Augenblick lang durchdringend an, dann wurde ihr Blick weicher. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bislang wissen wir von zwei Unterschieden. Erstens gibt es keine Menschen. Und zweitens gab es einen Vulkanausbruch, der sich bei uns nicht ereignet hat. Ist das ein Zufall?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Bill. »Ich erspare dir die Mühe, meinen eigenen Spruch gegen mich zu verwenden: Es gibt keine Zufälle. Alles, was wir für einen Zufall halten, wird uns früher oder später auf die Füße fallen.«
»Ich weiß nicht, ob ich diese Logik in einer Dissertation anführen würde, aber ich glaube, ich sehe es ganz ähnlich
wie du.« Erin sah die anderen an. »Ich möchte euch um einen Gefallen bitten. Können wir einen Abstecher zum Yellowstone machen?«
»Einen Abstecher?«, rief Richard aus. »Der liegt in der Gegenrichtung! Das wäre kein Abstecher
.«
»Ich weiß, und es tut mir auch leid. Aber wir haben genug Autos, dass wir nicht alle dorthin müssen. Ich glaube, dass es wichtig ist.«
»Warte mal«, sagte Matt. »Möchtest du ihn richtig erforschen oder bloß ansehen?«
»Nur ansehen.«
»Ich glaube, das kriegen wir hin.« Matt drehte sich zu Richard um. »Wie wäre es, wenn wir einen der Portal-Generatoren und die Stabkamera hinten auf den Pick-up laden? Unter der Abdeckplane kann ihnen nichts passieren. Erin und ich werden zum Yellowstone fahren. Monica und Bill bringen Erins Auto nach Hause. Und du und Kevin fahrt den Transporter zurück.«
Richard sah erleichtert aus. »So machen wir es.«
»Du hast da hinten ja ein ganzes Waffenarsenal.« Bill deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Monica lächelte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Genau genommen sind das nicht alles meine. Aber ein paar von meinen Brüdern sind gerade zusammen mit meinen Eltern in Italien und müssen hiervon schließlich nichts erfahren.«
»Ich, äh … Italiener, Gewehre, ich weiß nicht, wo ich da reingeraten bin …«
Monica lächelte ihn an. »Du bist nicht der Erste, der das sagt, Bill. Und nein, meine Familie unterhält, soweit ich weiß, keine Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Aber mein Vater war schon immer ein Prepper.
«
»Ähm. Und da wären dann noch die sechs älteren Brüder …?«
»Ja, stimmt. Dank ihnen bin ich härter, als die meisten glauben. Was ist mit dir, Bill? Du wirkst sehr selbstsicher.«
»Meine Lebensgeschichte ist nicht sonderlich aufregend. Ich war als Jugendlicher eher introvertiert und bin deswegen viel schikaniert worden. Dann habe ich gelernt, mein Mundwerk als Waffe einzusetzen. Wie wir Nerds es eben machen. Das ist auch der Grund, wieso Richard mich nicht ausstehen kann.«
»Ja, er ist ein – wie soll ich sagen? – ganz schöner Korinthenkacker.«
»Mit acht kam er in eine Pflegefamilie. Das war seiner Sozialkompetenz vermutlich nicht gerade zuträglich. Darum versuche ich, ihn schonend zu behandeln, selbst wenn er sich wie ein Arsch benimmt.«
»Deswegen und weil er riesig ist und dich in Stücke reißen könnte.«
»Ich wette, Matt könnte es mit ihm aufnehmen«, sagte Bill.
Monicas Lächeln verschwand, und sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Wir sind lauter schräge Vögel, oder?«
»Jeder hat seine Abgründe, Monica. Wenn du tief genug gräbst, findest du bei allen etwas. Ich glaube zum Beispiel, dass Kevin eine ziemlich beschissene Jugend hatte.«
»Das überrascht mich nicht wirklich. Er sieht aus wie jemand, der in seiner Highschool-Zeit mehr als einmal mit dem Kopf nach unten in die Kloschüssel gesteckt wurde. Und Erins Familie war schon immer arm. Sie hat während der Highschool permanent in mehreren Jobs gleichzeitig gearbeitet, um Geld fürs College zusammenzusparen.
Deswegen ist sie so ehrgeizig. Über Matt weiß ich allerdings nicht viel.«
»Matt hat Geld, aber er spricht nicht darüber. Er hat auch keinen Grund dazu. Bevor Matt ans College ging, hat sein Vater eine Excel-Tabelle angelegt. Darin hat er alle Ausgaben für sein Studium zusammengerechnet, plus die Kosten für ein paar notwendige Anschaffungen wie ein Auto und noch etwas Taschengeld. Dann hat er Matt einen Scheck über die gesamte Summe ausgestellt und ihm klargemacht, dass er ihm auf keinen Fall mehr geben wird. Mr. Siemens ist ein ziemliches Arschloch.«
»Kommt er mit dem Geld klar?«
Bill lachte. »In seinem Budget war eine vernünftige Familienkutsche vorgesehen, nicht sein F-150-Truck. Nein, es reicht ihm hinten und vorne nicht. Daher ist es ihm auch so wichtig, dass unser Plan aufgeht.«
Ungefähr eine Minute lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann seufzte Monica. »Ich weiß immer noch nicht alles über dieses Experiment, aber soweit ich es verstehe, haben dabei nur Richard und Kevin etwas zu verlieren. Es sei denn, wir werden gefressen. Aber ansonsten geht es dem Rest von uns nur ums Geld.«
»Was Erin und Matt angeht, stimmt das wahrscheinlich. Aber du bist total begeistert von der Biologie des Pleistozäns, und ich fühle mich wie in einer Episode von Stargate
. Mehr oder weniger.«
»Hm. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, ist viel Geld immer besser als kein Geld. Ich glaube, das sehen wir alle so.«
Bill grinste breit. »Willkommen im Dschungel.«