40
Auge in Auge
18. Juli
Zeke ließ das Fernglas sinken. »Sie laden Sachen in einen Umzugstransporter. Ganz schön viele Sachen. Paletten. Es sieht so aus, als wollten sie abhauen.« Er sah erst Carl an, der auf dem Fahrersitz saß, und drehte sich dann zu Jimmy im Fond um. »Ihr Idioten habt sie irgendwie gewarnt.«
Jimmy schüttelte vehement den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Wir haben nichts mitgenommen. Und glaub mir, es war gar nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen. Da war so viel krasses Zeug in dem Lager …«
Zeke bemerkte, dass Carl schweigend durch die Windschutzscheibe starrte; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, und seine Hände umklammerten das Lenkrad. »Carl?«
Carl blickte weiter geradeaus. »Du hast da irgendwas gegessen, Jimmy. Was war das?« Nun drehte er sich um.
Jimmy wurde rot, als die beiden ihn anstarrten. »Pizza?«, erwiderte er leise.
»Na, das ist ja wirklich absolut wundervoll.« Zeke zog seine Pistole und sah nach, ob sie geladen war. »Wir haben nur diese eine Chance. Sie werden nicht zweimal dieselben Fehler begehen. Wenn wir sie davonkommen lassen, finden wir sie nie wieder, und falls doch, werden sie bis an die Zähne bewaffnet sein. Oder sie haben Sicherheitsleute engagiert, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Also heißt es: Jetzt oder nie.«
Zeke wies mit dem Kopf nach draußen und stieg aus dem SUV. Carl und Jimmy überprüften rasch ihre eigenen Pistolen und folgten ihm. Gleich darauf näherten sie sich dem Lagerhaus.
Vor dem Eingang beluden gerade zwei Männer den Transporter. Einer der beiden, ein kleiner Nerd mit Brille, steuerte den Gabelstapler. Er machte seine Sache ziemlich lausig, wie Zeke amüsiert feststellte. Vor dem anderen würden sie sich allerdings in Acht nehmen müssen. Er war ungefähr 1,90 groß und schien nur aus Muskelmasse und keinem einzigen Gramm Fett zu bestehen. Jemand wie er konnte einen Gegner mit einem einzigen Schlag ausknocken. Selbst Carl würde mit ihm kein leichtes Spiel haben.
Als der Große aufblickte, zeigte Zeke ihm seine Pistole und deutete damit auf den dunklen Eingang. »Ich schlage vor, dass wir reingehen und uns unterhalten. Aber ganz langsam. Wenn eure Freunde da drin sind, möchte ich nicht, dass sie auf dumme Ideen kommen.«
Der Kleine sah aus, als würde er sich gleich in die Hose machen. Der würde ihnen keine Probleme bereiten. Der Große wirkte dagegen viel zu ruhig. Zeke kannte solche Leute. Er fühlte sich wie der König der Welt. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Zeke hoffte, dass er eine Gelegenheit bekommen würde, diesen Saftsack eines Besseren zu belehren.
»Wo sind eure Freunde? Ich weiß, dass ihr mindestens zu viert seid.«
Der Große sah ihn finster an. »Sie sind nicht hier. Sie werden uns nie alle auf einmal antreffen.«
Zeke beugte sich dicht an ihn heran. »Das muss ich auch gar nicht, oder? Ich habe doch dich und diesen Eierkopf hier, der bestimmt keine fünf Sekunden einem Verhör standhält.« Zeke grinste triumphierend, als er die ärgerliche Miene des Mannes sah. Das war schon mal ein Anfang. Davon würde er sicher noch mehr zu sehen bekommen.
Carl wedelte mit der Pistole, und die beiden Kids betraten, dicht gefolgt von Zeke, Jimmy und Carl, das unbeleuchtete Lagerhaus. Zeke sah sich im Inneren um. Jimmy hatte recht gehabt – es war kaum zu glauben, welche Menge Zeug diese Kids eingekauft hatten. Unter anderen Umständen wäre ihm bei der Vorstellung, wie viel er für all das von einem Hehler bekommen würde, das Wasser im Mund zusammengelaufen. Aber so, wie die Dinge lagen, lohnte sich die Mühe nicht.
Er sah weder andere Leute noch irgendwelche Waffen. Diese Typen waren wirklich Amateure. Soweit er wusste, kümmerten sich zwei junge Frauen um den Verkauf des Goldes, und Zeke war enttäuscht, sie nicht anzutreffen. Einen Moment überlegte er nervös, ob sie sich vielleicht irgendwo versteckten, verwarf den Gedanken dann aber sofort wieder. Was sollten zwei Weiber schon groß gegen sie ausrichten?
Jimmy deutete auf etwas im hinteren Bereich des Lagers. »Was zum Teufel?«
Zeke folgte seinem Blick und entdeckte einen eiförmigen Rahmen. Er wirkte wie ein antiker Spiegel, von dessen Fuß Kabel zu einer Art Computer verliefen. Aber es war kein Spiegel, da er etwas zeigte, das wie das Innere eines Gartenschuppens aussah. Vielleicht war es ein sehr realistisches Bild? Zeke stieß einen der beiden Gefangenen an, und sie gingen auf das Oval zu.
Zeke betrachtete verwirrt das sonderbare Ding. Es war kein Bild, denn während er darum herumging, konnte er sich durch den Rahmen im Inneren des Gartenschuppens umschauen! Doch hinter dem Rahmen erstreckte sich nichts als der Boden des Lagerhauses.
In dem Gartenschuppen lagen ein paar Segeltuchtaschen, und an einer Wand lehnten mehrere brutal aussehende Sturmgewehre. Zeke blickte noch einmal hinter den Rahmen. Nein. Immer noch nur das Lagerhaus. Was zum Henker schaute er da an?
»Oh Mann, Zeke, sieh mal!«, rief Carl aus und deutete in den Schuppen. »Gold. Das ist echt Gold.«
Zeke sah genauer hin. Und tatsächlich quollen aus einer der Taschen, die nicht komplett geschlossen war, unverarbeitete Goldnuggets heraus.
»Das wollten wir als Letztes rüberholen«, erklärte der Nerd.
»Ja, aber euer Plan wird nicht aufgehen«, sagte Zeke. Er nickte zum Schuppen. »Jimmy, Carl, holt die Gewehre aus – äh, was immer das ist. Dann lassen wir die Jungs das Gold schleppen, und anschließend veranstalten wir vielleicht noch eine kleine Fragerunde, um herauszufinden, was das da für ein Ding ist und wo das Gold herkommt.«
Jimmy und Carl traten, vorsichtig wie zwei Katzen, die sich etwas Unbekanntem näherten, durch den Rahmen. Sie steckten ihre Pistolen in die Holster und ergriffen stattdessen die Gewehre. Zeke nutzte die Gelegenheit, um noch einmal ein Stück zur Seite zu treten und hinter den Rahmen zu spähen. Kein Carl und kein Jimmy. Sie waren nur durch den Rahmen zu sehen.
In diesem Moment sagte eine Stimme: »Jetzt!«
Zeke sah sich hektisch um, aber außer ihnen fünf war niemand da. Keiner seiner beiden Gefangenen hatte sich gerührt, und Carl und Jimmy hatten ganz sicher kein Wort gesagt .
Dann traten ein Mann und eine Frau hinter dem Rahmen hervor und zielten mit Gewehren auf sie. Zeke konnte es nicht fassen. Niemand hätte sich auf der Rückseite des Rahmens vor seinen Blicken verbergen können, schon gar nicht zwei Personen. Waren sie vielleicht aus einem anderen Raum durch das Oval getreten? Während Zeke noch dabei war, seine Gedanken zu sortieren, bewegten sich die beiden Neuankömmlinge schnell auf ihn zu und stießen ihm die Mündungen ihrer Gewehre in die Brust.
Zeke sah zu Jimmy und Carl hinüber, die wie erstarrt dastanden und durch den Rahmen blickten. Nein, nicht durch den Rahmen, sondern knapp daran vorbei, auf etwas, das sich mit ihnen in dem Schuppen befand.
»Zeke, die sind uns gegenüber im Vorteil«, sagte Carl und schaute auf das Gewehr in seiner Hand.
»Bemüh dich nicht«, erklang eine Stimme aus dem Schuppen. Noch eine Stimme. »Sie sind nicht geladen.«
Wie viele Menschen versteckten sich in diesem Ding?
Die nächsten Sekunden nahm Zeke nur verschwommen wahr. Die Frau, die hinter dem Rahmen hervorgekommen war, eine kleine, sehr kurvige Brünette, stieß ihn erneut mit ihrem Gewehr an und forderte ihn dazu auf, die Pistole fallen zu lassen. Carl und Jimmy kehrten mit erhobenen Händen durch den Rahmen ins Lager zurück, gefolgt von einem weiteren Mann und einer weiteren Frau, die beide ebenfalls Gewehre trugen.
Als Zekes Verstand endlich wieder zu funktionieren begann, erkannte er, dass ihm die Situation aus den Händen geglitten war. Die Frage, wo diese Leute herkamen und wo genau der Schuppen sich befand, spielte im Moment keine Rolle. Da er in ein paar Sekunden tot sein konnte, hatte es keinen Zweck, sich mit solchen Feinheiten aufzuhalten. Bevor jemand merkte, was er vorhatte, wirbelte er herum und zog den Nerd als Schutzschild vor sich. Doch er hatte die Drehung noch nicht ganz vollendet, als der große Mann seinen Pistolenarm packte und schmerzhaft verdrehte. Zeke stöhnte, weigerte sich jedoch, den Nerd oder die Waffe loszulassen. Während die beiden Männer ihre Kräfte miteinander maßen, kam es kurz zu einer Pattsituation. Leider hatte Zeke in dieser Lage keine Hand frei und auch keine Möglichkeit, sich zu rühren. Die Brünette machte einen Schritt nach vorn und trat ihm mit voller Wucht in eine Körperregion, die er unmöglich ignorieren konnte. Schlagartig zog sich Zekes ganze Welt zu einem kleinen, sehr schmerzhaften Punkt zusammen. Er verlor jedes Interesse an einem Kampf, fiel hin und rollte sich ächzend zusammen.
»Verdammt, Monica, ich dachte, du knallst ihn ab.«
»Das hatte ich auch vor, aber er hat Kevin vor sich hingehalten, und ich wollte ihn nicht erwischen.«
»Und wenn wir ihn erschossen hätten, wäre die Polizei hier aufgetaucht.«
»Und?«
Schweigen.
Allmählich flaute der sengende Schmerz ein bisschen ab, und Zeke konnte wieder etwas sehen. Er stemmte sich stöhnend auf die Knie hoch.
Zwei der Männer packten ihn an den Armen. Als sie ihm aufgeholfen hatten, starrte er die Brünette wütend an. »Verdammte Schlampe.«
Anstatt ihm zu antworten, hatte sie nur ein unverschämtes Grinsen für ihn übrig.
»Unsere Freunde werden nach uns suchen«, sagte Jimmy. Das war natürlich Schwachsinn, aber der Versuch ehrte ihn.
»Der Umzugstransporter war kein Trick«, sagte ein Mann, der bislang noch nicht gesprochen hatte. Er war eher klein und pummelig. »Na ja, gut, irgendwie natürlich schon, aber wir werden wirklich umziehen. Ihr werdet uns nicht finden. Und falls doch, werden wir auf euch vorbereitet sein.«
Der große Mann sah ihn genervt an. »Nette harte Worte, Bill.« Dann drehte er sich zu Zeke um. »Wir möchten euch nicht töten, aber wir können auch nicht zulassen, dass ihr uns Ärger macht. Also werden wir euch auf Eis legen …«
»Auf Eis? Oh Mann, Richard, so sagt man das nicht.«
»Halt die Klappe, Bill. Wir werden euch … einlagern, bis wir umgezogen sind. Danach lassen wir euch gehen. Wenn ihr uns verfolgt, schalten wir die Polizei ein. Ich nehme an, wir haben genug Videomaterial zusammen, um euch zu identifizieren.«
Zeke machte sich nicht die Mühe, nach den Kameras zu suchen. Heutzutage waren diese Dinger überall. Es war keine besonders schlimme Drohung. Obwohl ihm das ohnehin egal war. Diese Trottel würden noch herausfinden, wie sich echte Rache anfühlte. Besonders die Brünette. Er würde dafür sorgen, dass sie ganz langsam starb.
Der große Mann deutete mit dem Gewehr auf den Rahmen. »In den Schuppen. Stellt euch an die Rückwand.«
Zeke, Jimmy und Carl traten einer nach dem anderen durch das mysteriöse Oval. Jimmy zitterte ein bisschen. Das Versprechen, sie nicht zu töten, war möglicherweise nur heiße Luft, damit sie sich alle freiwillig in einer Ecke versammelten. Das war es, was er täte, wenn die Rollen vertauscht wären.
Sie blieben in der Mitte des Schuppens stehen und drehten sich um. Von dieser Seite aus gesehen schwebte das Oval frei in der Luft und zeigte das Innere des Lagerhauses. Einen Moment lang wurde Zekes Zorn von seiner Neugier verdrängt. Ihm wurde klar, dass die vier zusätzlichen Personen in dem Schuppen gewartet haben mussten, und zwar hinter dem Oval, wo sie vom Lagerhaus aus nicht gesehen werden konnten. Und als Jimmy und Carl durch das Oval gegangen waren, um die Goldtaschen in Augenschein zu nehmen, hatten sie sich in ihrem Rücken befunden. Die ganze Sache war von Anfang an sehr sorgfältig geplant gewesen. Sie hatten ihn reingelegt.
Der Mann namens Richard sah zur Seite und blickte dann wieder durch das Oval auf Zeke. »Wenn ihr nach draußen geht, werdet ihr die brauchen. Ich rate euch jedoch, das so wenig wie möglich zu tun.« Mit diesen Worten warf er die konfiszierten Pistolen in den Schuppen. Bevor Carl oder Jimmy reagieren konnte, wandte er sich wieder zur Seite. »Okay, Kevin, schalte es ab.« Im nächsten Moment verschwand das Portal.
»Was zum Teufel !«, gellte Jimmy. Er stürzte sich auf seine Pistole. Zeke und Carl taten es ihm gleich.
»Immer noch geladen«, sagte Carl, nachdem die drei ihre Waffen überprüft hatten. »Das ist entweder unfassbar selbstbewusst oder unsagbar dumm von denen.«
»Oder sie glauben, dass wir die Pistolen wirklich brauchen«, erwiderte Zeke. »Die Vorstellung macht mir Angst.«
»Wieso sollte es sie kümmern, ob wir die brauchen?«
»Das sind College-Studenten, Carl. Die töten keine Menschen. Stattdessen rufen sie die 911 an. Nur dass sie das, aus welchem Grund auch immer, nicht tun können. Du hast ja gehört, dass sie die Polizei raushalten wollen. Das sind Amateure, die viel zu weit gehen. Damit erleichtern sie ihr Gewissen.« Zeke verstummte und dachte nach. »Ich werde diese Wichser umbringen. Ganz langsam. Jeden einzelnen von ihnen.«
Jimmy sah von den Taschen auf. »Ach, Mist. Steine. Abgesehen von dem, was aus der Tasche gefallen ist, gibt es hier kein Gold.«
»Das Ganze war von vorn bis hinten eine Falle«, sagte Carl.
»Ich werde sie kaltmachen«, sagte Zeke. »Und zwar sehr kalt.«
»Die Gewehre sind auch leer. Hey, das sind AR-15. Nicht schlecht.«
Zeke starrte ihn wortlos an, bis Jimmy schließlich den Blick senkte.
Dann ging Zeke zu der Stelle, an der sich gerade noch das Oval befunden hatte. »Das ist alles äußerst bizarr.« Die Schuppentür war fest verriegelt. In einer Ecke standen Wasserflaschen, ein paar Schachteln Proteinriegel und ein Eimer. Zeke hob die Augenbrauen, beschloss aber, fürs Erste nicht darüber nachzudenken, was diese Gegenstände zu bedeuten hatten. Er streckte die Hand nach der Türklinke aus. »Wie soll uns eine Gartenhütte auf… Was zum Teufel?«
Als Zeke die Tür öffnete, sah er sich mit einem völlig unerwarteten Anblick konfrontiert. Anstelle des Lagerhauses oder des Parkplatzes erstreckte sich in allen Richtungen Präriegras bis zum Horizont, nur gelegentlich unterbrochen von kleinen Baumgruppen. Antilopen, Büffel und weniger leicht zu identifizierende Wildtiere sprenkelten die Landschaft, während riesige Vogelschwärme über ihre Köpfe hinwegflogen. In der Ferne brüllte etwas. Etwas Großes.
»Ich glaube nicht, dass wir noch in Nebraska sind«, sagte Jimmy.
»Vielleicht doch«, entgegnete Carl. »Vielleicht haben wir eine Zeitreise gemacht.«
»Was?«
»Das würde erklären, wieso die ovale Tür verschwunden ist. Und das Gold. Und überhaupt das alles hier.« Carl vollführte eine umfassende Geste, die die gesamte Umgebung miteinschloss. »Diese Wichser haben die Zeitreise erfunden. Sie haben hier in der Vergangenheit einen Schuppen errichtet, uns mit diesen Taschen durch das Zeitportal gelockt und an diesem Ort ausgesetzt.«
»Du spinnst ja wohl.« Zeke versuchte, Carl mit einem durchdringenden Blick dazu zu bringen, dass er seine Worte wieder zurücknahm.
Carl seufzte. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber das würde erklären, wieso sie uns die Waffen und die Warnung mit auf den Weg gegeben haben. Habt ihr je Jurassic Park gesehen?«
Das unerklärliche Brüllen hallte erneut über die Prärie, und Zeke zog ohne ein weiteres Wort die Eingangstür zu.