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Viehtrieb
Dick verschaffte sich einen Überblick. »Sieht aus, als hätten wir zwei verloren – eine Kuh und ein Kalb. Sie sind anscheinend in Panik geraten und davongerannt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir keinen Räuber nahe genug haben rankommen lassen, um sie zu reißen.«
Matt zählte schnell durch. Es waren immer noch sechzehn Rinder, vier davon Kälber. Außerdem hatten sie ein Dutzend Schafe. Die gesamte Menagerie war auf kleinstmöglichem Raum zusammengepfercht. Die zusammengebundenen Pferde hatten sie in die Mitte genommen.
Die Landwirtschaftler hatten alles eingesammelt, was brennbar war, und mit herübergenommen. Aber es hatte nur für ein einziges Feuer gereicht. Um die Raubtiere abzuhalten, hatten sie Bauscheinwerfer auf Teleskopständer montiert und an den stärksten Generator angeschlossen. Da die nachtaktiven Tiere auf Outland keine blendenden Halogenlichter mochten, waren sie kaum belästigt worden.
Dick fuhr mit seinem Bericht fort. »Die Schweine sind mittlerweile längst über alle Berge. Wir können nur hoffen, dass ihnen nichts passiert ist. Da sie wahrscheinlich hier in der Gegend bleiben werden, können wir sie abholen, wenn wir so weit sind.«
»Eingefettete Schweine fangen, juchhu!«, rief einer der Studenten und reckte die Faust in die Höhe. Ein paar der anderen lachten
.
Matt schüttelte sich. Ich weiß nicht, was daran Spaß machen soll.
Sie sahen zum Pick-up hinüber, dessen halbe Ladefläche mit so hoch wie möglich übereinandergestapelten Käfigen zugestellt war, in denen unglückliche Hühner steckten. Den restlichen Platz nahm die Portal-Ausrüstung ein, die Matt auf keinen Fall hatte zurücklassen wollen.
Dick zeigte auf zwei Studenten, die die Pferde für den Viehtrieb bereit machten. »Sechzehn Rinder. Ja, wir sind wirklich echte Cowboys. Das wird bestimmt lustig.«
»Lustiger als der Versuch, sie durch das Tor zu bugsieren?«, fragte Matt.
»Ja, um einiges. Bei einem Viehtrieb ist echt was los. Kennst du den Film City Slickers
?«
Schließlich waren alle fertig. Vier Studenten schwangen sich in den Sattel, und die anderen vier quetschten sich zu Matt in den Pick-up.
Dick wendete sein Pferd, winkte und rief: »Treibt sie raus und treibt sie weiter!«
»Na toll, noch so ein Witzbold«, flüsterte Matt. »Richard wird einen Anfall kriegen.«
Sie kamen nur langsam voran. Nicht jeder der Studenten war zum Wandern geboren, und viele trugen ungeeignetes Schuhwerk. Sechs von ihnen hatten sich beim Erdbeben verletzt und mussten gestützt oder sogar getragen werden. Außerdem hatten ein paar von ihnen Trolleys dabei, die im Präriegras nicht gut rollten.
Die Marschordnung löste sich ständig auf, da sich die Schnelleren von den Nachzüglern absetzten. Fred und Anson mussten die vordere Gruppe immer wieder anhalten, damit die hinteren Reihen aufschließen konnten. Dabei erklärten sie jedes Mal geduldig, dass sie nicht genügend
Wächter hätten, um eine derart lange Prozession zu beschützen. Schließlich sorgte Fred dafür, dass die Schnellsten den Verwundeten halfen, da sie die meiste überschüssige Energie zu haben schienen.
Inzwischen zeigte sich, dass das Gros der Studenten von Haus aus optimistisch eingestellt war. Sie benahmen sich, als unternähmen sie eine Landpartie. Ein paar schossen mit ihren Handys Selfies und Fotos von den Tieren der Umgebung. Manche vergaßen sogar, dass es an diesem Ort kein Netz gab. Die vergeblichen Versuche, Textnachrichten abzusetzen, sorgten für viel Gelächter.
Erin unterhielt sich im Gehen mit ein paar Studenten.
»Ich kann gar nicht glauben, was für ein Klima hier herrscht«, sagte einer. »Feuchter, kühler, mit echten Bäumen, und was sind das für Dinger, die überall aus dem Boden ragen? Hügel? In Nebraska gibt es keine Hügel – oder Bäume, wenn wir schon mal dabei sind.«
Erin lächelte. Er übertrieb natürlich, aber nicht sehr. »Das liegt an den Unterschieden in der jüngsten geologischen Vergangenheit. Es gibt keine Menschen, dafür einen oder zwei zusätzliche Vulkane … Ich bin aber auch ein bisschen überrascht. Ich wünschte, Professor Collins wäre bei uns.«
»Sein Assistent ist hier«, merkte ein anderer Student an.
Oh Scheiße.
»Jenson?«, fragte Erin.
»Ja, genau.«
Erin seufzte angewidert. Ja, Bill hat recht. Gott ist wirklich ein B-Movie-Regisseur.
In der Ferne erhob sich ein Vogelschwarm in die Luft. Die Flüchtlinge hatten sich noch nicht an die zahllosen Tiere auf dieser Seite gewöhnt. Und so blieben viele stehen, um ergriffen die Vögel zu beobachten, die den halben Himmel verdunkelten. Nicht weniger beeindruckend war
der immense Artenreichtum. Die Hälfte der Spezies hatte auf der Erde nie ein Mensch zu Gesicht bekommen, und von den restlichen waren viele kurz nach der ersten Begegnung mit den intelligenten Zweibeinern ausgelöscht worden.
Nicht weit weg konkurrierten Rehe mit Elchen, Rothirschen und anderen, weniger leicht zu erkennenden Tieren um saftige Grasflächen. In der Ferne sahen sie ein paar Mammuts und eine große Katze. Zwei riesige Faultiere faszinierten die Wanderer, da sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihren kleinen, lethargischen südamerikanischen Vettern oder irgendwelchen anderen Tieren auf der Erde hatten. Doch die Studenten beherzigten Erins Warnung, ihnen nicht zu nah zu kommen und keine bedrohlichen Bewegungen zu machen.
Erin bekam mit, wie sich zwei Studenten über die Portale stritten.
»Sie sollten diese Technologie den Behörden zur Verfügung stellen. Die könnten sie landesweit einsetzen und viele Leben retten.«
»Und wie genau soll das funktionieren?«
»Was meinst du? Die Übergabe der Technologie oder ihr nationaler Einsatz?«
»Beides! Hast du eine Telefonnummer zur Hand? 0800- Rettet-die-USA? Vielleicht sollte man beim Ministerium für Wunderbar Nützliche Erfindungen anrufen. Hast du schon mal was von ›Bürokratie‹ gehört? Ich wette, du würdest dich erst einmal monatelang mit irgendwelchen Leuten rumschlagen müssen, bis du endlich jemanden in der Leitung hast, der versteht, wovon du sprichst. Und um viele Leben zu retten, müssten sie eine ganze Menge Portale bauen. Wie und wo sollen sie das bewerkstelligen? In Area 51? Vielleicht setzen sie dazu ihre außerirdische Duplizierungsmaschine ein.
«
»Du musst doch nicht gleich so sarkastisch werden.«
»Doch, das geht nicht anders. Manchmal muss man andere verspotten, damit sie darüber nachdenken, was sie von sich geben. Und warum gehst du eigentlich davon aus, dass es in einer Woche noch einen Staat gibt? Schließlich war das hier nicht bloß der Ausbruch des Mount St. Helens, sondern ein echtes Weltuntergangsereignis.«
»Ach komm, jetzt übertreibst du aber.«
…
und so weiter. Erin musste sich auf die Zunge beißen, um nicht dazwischenzugehen. Sie sah es zwar wie der Pessimist, hielt die ganze Diskussion jedoch im Augenblick für überflüssig.
Kevin gab Bill und Monica im Lager-Camp immer wieder mit dem Funkgerät ihre aktuelle Position durch. Gleichzeitig informierte Matt ihn über den Fortschritt des Viehtriebs. Er und die Landwirtschaftsstudenten kamen schneller voran als erwartet und würden vielleicht sogar gleichzeitig mit der Wandergruppe im Lager-Camp eintreffen.
Erin entdeckte Fred und Anson, die gerade mit der Rundumsicherung der Flüchtlinge beschäftigt waren. »Hallo, Jungs. Haltet ihr noch durch?«
Fred grinste. Er und Anson waren die ganze Nacht wach geblieben und hatten jeweils nur eine zweistündige Pause eingelegt. »Im Polizeidienst haben wir ständig Doppel- und Dreifachschichten geschoben. Dagegen ist das hier ein Klacks, richtig?« Fred sah zu Anson hinüber, der zustimmend nickte.
»Sagt mal, als ihr noch bei der Polizei wart«, fragte Erin so beiläufig wie möglich, »seid ihr da je drei Kriminellen namens Zeke, Carl und Jimmy begegnet?«
»Zeke? Zeke Peters?« Fred und Anson brachen in Gelächter aus. »Ja, er gehört zu einer Gang, die im Univiertel Drogen verkauft«, antwortete Fred. »Sie halten sich alle für
wahnsinnig gefährlich, würden aber in einer Großstadt keinen Fuß auf den Boden kriegen.« Er schüttelte den Kopf. »Carl wirkte allerdings klüger als die meisten von denen. Ich glaube, er hat auf einen Aufstieg gehofft, aber irgendwie ist er am Ende immer in Holding eingesessen. Wieso fragst du? Bist du ihnen begegnet?«
»Kann man so sagen.« Erin erzählte Fred und Anson von der Auseinandersetzung im Lagerhaus. Sie ließ nichts weg und versuchte weder die Vorgehensweise ihres Teams noch ihren anschließenden halbherzigen Rettungsversuch zu rechtfertigen.
»Das geschieht ihnen recht«, sagte Anson. »Sie hätten weiter Partydrogen verkaufen sollen.«
»Ich würde mir wegen denen nicht den Kopf zerbrechen«, sagte Fred. »Niemand wird sie vermissen. Das Schlimmste, was euch deswegen passieren kann, ist eine Rüge, weil ihr eine Straftat nicht gemeldet habt – und das auch nur, wenn der zuständige Polizist extrem gelangweilt ist.«
Erin lächelte und bedankte sich bei ihnen. Nach diesem Gespräch fühlte sie sich besser, vor allem, weil die beiden Expolizisten nun wussten, dass es auf Outland möglicherweise menschliche Räuber gab.
Schließlich entdeckte Erin in der Ferne das Lager-Camp. Der große Stahlschuppen und der zweite, halb fertige daneben waren allerdings auch schwer zu übersehen. Als andere sie ebenfalls bemerkten, legte die ganze Gruppe einen Zahn zu, und schon bald trafen sie bei den Gebäuden ein.
Der Bereich vor den Schuppen war von einem Zaun umgeben, der an einer Stelle offen stand, damit sie eintreten konnten. Bill und Monica saßen hinter dem Zaun auf Klappstühlen. Neben ihnen schnurrte ein Generator, und aus der großen Kaffeemaschine stieg Dampf auf
.
Bill stand auf und trat durch die Öffnung. Lächelnd ließ er den Blick über die Neuankömmlinge gleiten und hielt eine Tasse in die Luft. »Willkommen in Bruchtal. Wer möchte Kaffee?«