51
Erste Meetings
»Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?«
Richard rief, so laut er konnte. Mehr als zweihundertsiebzig Menschen saßen vor den Schuppen auf dem Boden, und viele von ihnen waren in ihre eigenen Gespräche vertieft. Langsam wurde das Stimmengewirr leiser, als sich immer mehr Köpfe zu ihm umdrehten.
»Hört zu, wir haben keine Lautsprecheranlage – eines der wenigen Dinge, die Bill nicht gekauft hat. Also müsst ihr sehr leise sein und mir zuhören. Wenn einer eurer Sitznachbarn eine Unterhaltung anfängt, möchte ich euch bitten, denjenigen so lange zu schlagen, bis er wieder damit aufhört.« Damit erntete er Gelächter und vereinzelte »Autsch«-Rufe. »Wenn ihr wirklich ganz dringend ein Gespräch führen müsst, dann geht bitte in einen der Schuppen oder zum anderen Ende der Wiese, damit der Rest von uns das hier erledigen kann.« Richard wartete. Als sich nicht sofort jemand bewegte und auch der Geräuschpegel niedrig blieb, fuhr er fort. »Ein Meeting mit so vielen Leuten hat keinen Sinn. Meine Stimme würde höchstens zwei Minuten lang durchhalten. Daher werden wir mehrere Komitees bilden. Wenn ihr einen Vorschlag zu machen habt oder eine der Gruppen leiten möchtet, dann kommt in ungefähr zehn Minuten vor den Ost-Schuppen. Alle anderen suchen sich bitte einen anderen Platz. Vielen Dank.«
Richard holte tief Luft. Er hörte Anfeuerungsrufe und
spöttischen Applaus. Dann werde ich also nie ein Politiker. Verklagt mich doch.
Er ging gemeinsam mit ein paar anderen zum Ost-Schuppen hinüber, vor dem Bill ein paar Tische und Stühle aufgestellt hatte. Es sah aus, als gäbe es dort bereits Streit.
Richard stellte sich hinter zwei Kerle, die sich vor Bill aufgebaut hatten und laut auf ihn einredeten. Er sah, dass Monica mit einem AR-15 in der Hand herbeieilte. Sie mag es, wenn die Fetzen fliegen,
dachte Richard und lächelte. Das würde interessant werden.
»Was gibt es für ein Problem?«, fragte er die Großmäuler und zwang sie damit, von Bill abzulassen und sich zu ihm umzudrehen. Einen Moment lang herrschte Schweigen, als die beiden merkten, dass sie zu ihm aufschauen mussten.
»Wir wollen wissen, wieso dieser Nerd hier das Sagen hat«, erklärte einer von ihnen. »Das ist doch eine völlig gerechtfertigte Frage.«
»Okay. Dann kommt hier meine völlig gerechtfertigte Antwort«, sagte Richard. »Das ist unser Ort, an den wir euch eingeladen haben, damit ihr den Folgen der Yellowstone-Eruption entkommt. Ihr könnt gerne gehen, wenn es euch hier nicht gefällt, oder wir laden euch aus, wenn wir den Eindruck haben, dass ihr zu große Arschlöcher seid. Es wäre also vielleicht gut, wenn ihr es mit ein wenig mehr Höflichkeit versuchen würdet.«
»Und was ist, wenn wir das nicht wollen?«, fragte der Größere der beiden. Er zuckte zusammen und schaute erschrocken auf die Gewehrmündung hinab, die sich in seinen Schritt bohrte.
»Dann haltet ihr euch hier unbefugt auf, und ich nehme eine Orchitomie an euch vor«, erwiderte Monica lächelnd. »Dreimal dürft ihr raten, was das ist.
«
Der Mann runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.
Doch Richard schüttelte den Kopf. »Geh nicht davon aus, dass sie nur blufft. Es gibt einen Grund, wieso wir sie die Waffen tragen lassen. Genau genommen sind es mehrere Gründe, aber einer davon ist, dass sie wirklich sehr, sehr gern auf Leute schießt.«
Die beiden Männer sahen einander an und musterten dann kurz Monica. Sie erwiderte ihren Blick mit einem Grinsen, als wollte sie sie zu einer unvernünftigen Aktion herausfordern. Schließlich schauten die Männer wieder Bill an, diesmal jedoch wesentlich weniger streitlustig.
Richard und Monica traten einen Schritt zurück und beobachteten die Situation noch einen Moment lang argwöhnisch. Da kein weiterer Streit zu drohen schien, entfernten sie sich ein Stück.
»Oh Mann, das war suboptimal«, sagte Richard. »Damit habe ich nicht gerechnet, jedenfalls nicht so früh.«
»Ach, Hase. Es wird immer irgendwelche Idioten geben, die ohne jeden Grund davon überzeugt sind, dass sie die Bestimmer sein sollten. Ich wette mit dir, wenn wir länger als eine Woche hier sind, werden die beiden auf Wahlen und eine Vergesellschaftung unseres Vermögens drängen.«
»Das sehe ich auch so. Darauf sollten wir besser vorbereitet sein. Sind die Waffen gut bewacht?«
»Kodierte Waffenschlösser und abschließbare Schränke. Und von allem nur das Beste. Etwas Billiges kommt für Bill und mich nicht in die Tüte.«
»Aha. Haben wir wenigstens noch ein bisschen Geld übrig?«
Monica verlor ihr Grinsen. »Geld spielt vielleicht gar keine Rolle mehr, Richard. Ich habe mich mit Erin unterhalten, und was sie zu sagen hat, klingt gar nicht gut. Wir
müssen ein Treffen einberufen, an dem nur wir sechs teilnehmen.«
»Okay, vor oder nach dem Abendessen wäre vielleicht gut. Und da wir schon beim Thema sind: Können wir diesen Mob satt bekommen?«
»Erin und ich haben unsere Bestände geprüft«, sagte Monica. »Bei so vielen Menschen reicht unser Essen drei Tage lang. Und da sind die Feldrationen schon mit dabei.«
»Ja, wenn wir eine Woche oder länger durchhalten wollen, müssen wir unsere Vorräte ergänzen …«
»Mach dir keine Illusionen, dass wir nur ein paar Wochen hier sind. Lass uns dieses Treffen einberufen. Du wirst es ja sehen.«
Richard betrachtete sie schweigend. Monica war vermutlich die unerschütterlichste Person, die er kannte, und diese niedergeschlagene Stimmung passte überhaupt nicht zu ihr. »Okay, Monica, dann verschiebe ich meine Planungen bis nach unserem Treffen. In der Zwischenzeit würde ich Bill gern vorschlagen, auf die Jagd zu gehen. Und, äh, das bedeutet, dass wir ein paar Waffen verteilen müssen. Außer den beiden Polizisten hat meines Wissens keiner eine mitgenommen.«
»Daran lässt sich nichts ändern, Richard. Aber wir können zumindest die Munition rationieren und dafür sorgen, dass alle Waffen abgegeben werden, wenn sie nicht in Gebrauch sind. Schließlich gehören sie immer noch uns. Zumindest fürs Erste.«
»Du machst mich wirklich nervös, Mon. Ich hoffe, dass nur deine Prepper-Paranoia aus dir spricht.«
»Das hoffe ich auch, mein Großer. Aber jetzt mache ich mich erst mal auf die Suche nach ein paar vertrauenswürdigen Leuten. Wir müssen eine Wachmannschaft zusammenstellen.
«
Richard nickte. »Verstehe. Dann sehen wir uns zum Abendessen. Bis nachher.«
Er ging zu den Tischen zurück, wo Bill wie ein Welpe herumhüpfte und erst mit der einen und dann mit der anderen Gruppe sprach. »Du musst wirklich deinen Kaffeekonsum reduzieren, Bill.«
»Auf gar keinen Fall. Das ist das Frühstück der echten Champions – und Projektplaner, wie es scheint. Was ist los, Richard? Du machst ein Gesicht, als hättest du in eine verschimmelte Zitrone gebissen.«
»Ach ja. Jetzt
erinnere ich mich wieder, wieso ich dich nicht ausstehen kann … Monica und ich haben miteinander gesprochen. Wir haben ein Problem mit den Essensvorräten. Hast du schon übers Jagen nachgedacht?«
Bill sah sich um. »Tja, wir haben vor allem geplant, immer wieder neuen Proviant aus Lincoln zu holen, aber es gibt keinen Grund, warum wir nicht beides machen sollten.« Er hob die Stimme, damit die anderen ihn hören konnten. »Hat irgendwer von euch Ahnung vom Jagen?«
Ungefähr ein Dutzend Leute hob die Hand und trat vor. Bill zeigte Richard den hochgereckten Daumen. »Läuft.«
Richard setzte sich stöhnend auf einen der Gartenstühle. »Das ist ja noch anstrengender als Goldwaschen. Was ist bloß aus den Schreibtischjobs geworden?«
Ein paar von den anderen lächelten, doch niemand sagte etwas. Das ganze Team wirkte niedergeschlagen.
»Ach, was mir gerade einfällt …«, unterbrach Erin das Schweigen. »Die Flüchtlinge nennen uns die T.E.s – die Toreigentümer. Ich finde, das ist gar kein schlechter Titel.«
»Ich mag das Wort Eigentümer
«, erwiderte Monica. »Das erinnert alle daran, wem was gehört.«
Matt runzelte die Stirn. »Hör mal, ich mag es auch, wenn
Geschichten spannende Wendungen haben. Aber meinst du nicht, dass du es mit deiner Paranoia ein klein
bisschen übertreibst?«
Bevor Monica antworten konnte, sagte Bill: »Oh ja. Heute hat mir jemand eine solche Wendung um die Ohren gehauen. Ein Kerl wollte wissen, wieso ich mir anmaße, Befehle zu erteilen. Zum Glück sind Richard und unsere Calamity Jane hier rechtzeitig aufgetaucht.«
»Ist das der Grund für dieses Treffen?« Richard sah die anderen an.
»Nein«, sagte Erin und beugte sich vor. »Wir wollen über unsere kurzfristigen und langfristigen Überlebensaussichten sprechen.« Sie zögerte, als sie die besorgten Blicke ihrer Freunde bemerkte. »Bisher haben wir nur auf die aktuelle Gefahrenlage reagiert, und ich glaube, dass wir uns dabei im Anbetracht der Umstände ganz gut geschlagen haben. Aber irgendwie scheinen die meisten unbewusst davon auszugehen, dass wir es nur mit einem vorübergehenden Problem zu tun haben – wie bei einem Stromausfall oder einem Leck in der Hauptwasserleitung. Sie gehen davon aus, dass die Behörden die Situation bald wieder unter Kontrolle haben und wir dann alle heimkehren können.«
»Und du glaubst nicht, dass es so kommen wird?«, fragte Richard.
Erin rutschte auf dem billigen Aluminiumstuhl herum, um eine bequeme Sitzposition zu finden. »Wir wissen über die Folgen von Vulkanausbrüchen Bescheid – Mount St. Helens, Pinatubo, Krakatau, um nur einige zu nennen. Die waren schon schlimm genug. Sie haben verheerende Schäden angerichtet und für große gesellschaftliche, technologische und wirtschaftliche Verwerfungen gesorgt. Aber im Vergleich zur Yellowstone-Eruption waren das nur kleine Silvesterkracher.
«
»Warte mal, Erin, woher weißt du das? Wir haben doch seit dem Erdbeben mit niemandem mehr sprechen können.«
»Natürlich ist es zum Teil reine Theorie, Richard. Wir wissen, wie groß die Magmakammer des Yellowstone war, und ich kann mir kaum vorstellen, dass eine kleine Eruption so viel Asche produziert. Ich habe Bill heute Nachmittag ein Tor öffnen lassen und mich kurz umgesehen. Die Asche lag bereits einen Meter hoch, und sie fällt immer noch. Dabei liegt Lincoln tausendzweihundert Kilometer windabwärts. Das war kein Silvesterkracher, Leute, sondern die volle Dynamitladung.«
»Und …?«
»Stellt euch eine meterhohe Schicht Asche auf ganz Nebraska vor. Wohin sollte man die räumen? Im Gegensatz zu Schnee schmilzt sie nicht und lässt sich auch nicht komprimieren. Wenn man sie irgendwo aufhäuft, wird sie bloß verweht und stellt weiterhin ein Risiko dar. Aber man könnte sie ohnehin nicht wegräumen, weil alle schweren Maschinen kaputt sind oder es bald sein werden. Lincoln wird sich vielleicht mehrere Jahre lang nicht erholen. Dasselbe gilt auch für die anderen Ballungsgebiete, die in der Ascheschneise liegen. Und die umfasst, wenn man von der letzten Eruption ausgeht, möglicherweise das halbe US-Festland. Wir müssen davon ausgehen, dass wir lange Zeit auf Outland bleiben werden.«
»Verdammt noch mal«, sagte Richard in das bestürzte Schweigen hinein. »Aber wie sicher bist du dir? Ich meine, die FEMA hat dieser Katastrophe doch bestimmt einiges entgegenzusetzen.«
»Dieser Vulkanausbruch ist ein schwarzer Schwan«, entgegnete Monica. »Ein Ereignis, das so unerhört und gewaltig ist, dass es überhaupt keinen Sinn hat, sich abgesehen von den grundsätzlichen Überlebensmaßnahmen darauf
vorzubereiten. Das Geld, das nötig wäre, um die Hälfte der Bevölkerung in die andere Hälfte des Landes zu evakuieren, könnten nicht einmal die USA aufbringen, selbst wenn der Kongress das Budget absegnen würde. Die FEMA wird nichts ausrichten können. Gut möglich, dass es die in einer Woche gar nicht mehr gibt.«
»Wie bitte?«
Monica deutete auf Erin, die den Faden wieder aufnahm. »Der Toba ist vor siebzig- bis achtzigtausend Jahren explodiert. Das war die größte Eruption in der Geschichte, größer noch als der Krakatau, der Vesuv oder Thera. Dieser Ausbruch hat das Klima in Afrika verändert, obwohl es auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten und auf der Südhalbkugel liegt. Die Eruption des Yellowstone war schlimmer. Ich glaube, die Vereinigten Staaten existieren nicht mehr. Und Kanada und Mexiko vermutlich auch nicht. Ein paar europäische Länder sind sehr wahrscheinlich ebenfalls ausgelöscht. Das hier könnte der Beginn eines neuen finsteren Mittelalters sein.«
»Wie werden wir das in Erfahrung bringen?«, fragte Richard. »Wie können wir herausfinden, ob es irgendwelche Hilfsaktionen gibt?«
»Dazu habe ich ein paar Ideen«, sagte Bill. »Sag mal, Erin, diese elektrische Interferenz ist nur von kurzer Dauer, oder?«
»Ja, es sind nur ein paar Tage ganz ohne Empfang. Dann noch ein paar Tage mit schlechtem Empfang, bis der Dreck aus der Luft verschwindet. Das heißt aber nicht, dass es wieder Fernsehen und Internet geben …«
»Das ist mir klar, Erin«, unterbrach Bill sie. »Ich weiß, dass die Infrastruktur zerstört ist. Ich denke eher an Satellitensignale.«
»Oh, klar, die funktionieren, solange jemand sendet.
«
Bill lächelte, beließ es aber dabei.
»Wie auch immer«, fuhr Erin fort. »Ich glaube, wir müssen langfristige Pläne schmieden. Zum Beispiel sollten wir gemeinsam mit Vertretern der Flüchtlinge eine Art Rat konstituieren. Und wir brauchen eine Polizei, aber darum kümmert sich Monica bereits, soweit ich weiß. Außerdem müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie viel Essen, Unterkünfte und vor allem Frischwasser wir auf lange Sicht brauchen. Ihr müsst es so sehen: Wenn ich mich täusche und sich die Lage auf der Erde so schnell verbessert, dass wir alle bald wieder nach Hause können, haben wir die Leute schlimmstenfalls ein paar Wochen lang beschäftigt und besser geschützt. Das schadet niemandem. Aber wenn wir uns nicht auf den schlimmsten Fall vorbereiten und uns dann die Realität einholt …«
»Ach, Mist.« Richard vergrub den Kopf in den Händen. »Es gerät völlig aus den Fugen. Ich glaube, du hast recht mit dem Rat, Erin, und das sollten wir als Allererstes tun. Aber wir müssen auch darüber sprechen, ob wir zulassen wollen, dass unsere Besitztümer verstaatlicht werden, oder ein Feudalsystem mit uns als den Privateigentümern ausrufen.«
»Das würde nicht lange funktionieren, Richard«, sagte Monica. »Zu sechst können wir nicht knapp dreihundert Menschen im Zaum halten, wenn sie beschließen, dass sie die Nase voll von uns haben. Ich glaube, wir müssen so weit vorausdenken, dass wir den ganzen Prozess zumindest ein bisschen steuern können, anstatt von den Entwicklungen überrollt zu werden.«
»Ich verstehe, was du meinst«, antwortete Richard. »Bill, du hast mit deinen Teamleitern bereits eine Art Hierarchie etabliert. Frag die doch, ob sie selbst oder irgendjemand, den sie kennen, einen Platz in diesem Rat einnehmen sollten – zumindest so lange, bis wir Wahlen abhalten können.«