60
Sonnentage
5. August
In Bruchtal schien wieder die Sonne. Erin und Monica hatten beschlossen, eine dringend benötigte Pause einzulegen. Während sie sich auf zwei billigen Aluminium-Strandliegen ausruhten – die augenscheinlich aus irgendeinem Laden für Sommeraccessoires geborgen worden waren –, ließ Erin noch einmal die letzten zehn Tage Revue passieren.
Die Kolonie hatte sich rasch an die neue Situation angepasst. Sie hatten es sich zur Routine gemacht, zweimal am Tag zu essen – morgens und abends. Allerdings hatten viele ein Problem damit. Erin lachte in sich hinein. Sie beklagten die fehlenden Snacks. Aber es war sicher für alle besser so.
Erin hatte freiwillig die Frühstücksschicht übernommen, und da für heute ausnahmsweise kein Ratstreffen angesetzt war, hatte sie bis zum Abendessen frei. Hmm, was werden wir wohl servieren?, dachte Erin. Ein Reh-Chili? Oder vielleicht Büffel-Chili? Vielleicht auch Büffel-Burger, ohne die Brötchenscheiben? Oder Büffel-Steaks? Wie wär’s mit Reh-Steaks?
Erin ging noch einmal verschiedene im Rat geführte Diskussionen durch. Eine neue Angewohnheit von ihr, die sie anscheinend nicht mehr ablegen konnte.
Eines der ersten Dinge, nach denen der Bergungstrupp die Augen offen gehalten hatte, war Proviant gewesen. Und leider war das auch das Erste gewesen, was alle Bewohner von Lincoln nach der Eruption gesucht hatten. Außerhalb von Privatwohnungen, in die sie hätten einbrechen müssen, gab es auf der Erdseite nur noch sehr wenig Essen. Damit hatten sie nur die Vorräte, die Bill ursprünglich eingekauft hatte, plus alles, was sie auf Outland auftreiben konnten. Sie standen nicht in unmittelbarer Gefahr, zu verhungern, aber es musste sich etwas ändern.
Sie hatten die Hühner dazu gebracht, regelmäßig Eier zu legen. Aber ein Dutzend Eier am Tag reichten nicht für ein paar Hundert Leute. Daher hatten sie vor, erst mal so viele Eier wie möglich auszubrüten, um ihren Geflügelbestand aufzustocken. Neben ihrer offenkundigen Hauptbeschäftigung verdingten sich die beiden Hähne auch noch als die Wecker der Kolonie – und waren daher die meistgehassten Bewohner von Bruchtal.
Im Moment unterschied sich das Frühstück, wenn man vom Sonnenstand absah, kaum vom Abendessen.
Die wilden Kräuter und Zwiebeln sowie ein paar gemüseartige Pflanzen, die die Landwirtschaftsstudenten entdeckt hatten, sorgten wenigstens für ein bisschen Abwechslung bei ihren Mahlzeiten. Jemand sagte, er habe aus ein paar Läden auf der Erde Samen mitgenommen und wolle versuchen, aus ihnen eine spätsommerliche Ernte heranzuziehen.
Erin seufzte. Im Moment fiel es ihnen allen leicht, eine kohlenhydratarme Diät einzuhalten.
Sie rekelte sich auf dem Liegestuhl, genoss die Wärme und dachte nicht weiter über die Lebensmittelversorgung nach. Wie an den meisten Tagen war der Himmel nicht vollkommen klar. Immer wieder zogen Schäfchenwolken über ihn hinweg und verdeckten jeweils nur ein paar Minuten lang die Sonne. Sie schaute sich um. Auf den Liegestühlen um sie herum saßen oder lagen noch mehrere andere, darunter auch ein Typ namens Josh, der niemals zu arbeiten schien.
Erin gluckste leise in sich hinein.
Monica schlug die Augen auf und drehte sich zu ihr um. »Was ist so lustig?«
»Oh, ich habe mich nur umgesehen. Dieser Ort ist eine wüste Mischung aus Wilder-Westen-Pioniergeist und modernem Vorstadtleben. Wir liegen hier und braten in der Sonne, während andere auf Pferden herumreiten oder jagen oder auf Geländemotorrädern fahren. Ein Team hebt Latrinen aus, und ein anderes holt Wasser, während ein drittes ein interdimensionales Tor durchquert, um ein anderes Universum nach Vorräten abzuklappern. Es ist bizarr.«
»Ich frage mich, ob sie einen Film daraus machen werden. Oder eine Fernsehserie. Das würde Bill gefallen.« Monica seufzte. »Aber damit ist im Moment nicht zu rechnen, oder?«
»In diesem Monat eher nicht. Aber vielleicht geht es ja wieder bergauf.«
Erin hob den Blick. Zwei Jungs, Pete und Phil, kamen mit Liegestühlen zu ihnen herüber.
»Hallo, meine Damen«, sagte Pete, während sie die Liegen auseinanderklappten.
Erin begrüßte sie mit einem Lächeln, Monica mit einem fröhlichen »Hallo«. Ein paar Männer schmissen sich hartnäckig an sie heran und mussten immer wieder abgewehrt werden, aber Pete und Phil waren harmlos. Sie wollten nur abhängen.
»Und womit habt ihr euch in letzter Zeit beschäftigt?«, fragte Erin .
»Wir machen Erkundungsgänge«, erwiderte Phil. »Außer der Tankstelle mit dem Benzin haben wir nichts mehr gefunden. Wahrscheinlich werden sie uns irgendwann wieder drüben einsetzen, aber bis dahin fahren wir auf Geländebikes durch die Gegend.«
»Und warum seid ihr heute nicht unterwegs?«
»Al hat eines der Motorräder kaputtgemacht«, antwortete Pete. »Er repariert es gerade, und Richard hat ihm gesagt, dass er es eine Woche lang nicht fahren darf. Al ist ziemlich sauer.«
»Dieser Typ ist irre«, fügte Phil hinzu. »Motocross ist seine große Leidenschaft. Ich glaube, sie wollen irgendwann zu ihm nach Hause und all seine Motorräder holen. Dann muss er nicht länger die Bikes der Kolonie zu Schrott fahren.«
»Wir brauchen furchtbar viele Sachen …«, sagte Pete. »Alle fünf Minuten fragt irgendwer Matt, ob er eine Expedition zusammenstellen kann, um irgendetwas zu besorgen. Er will Autohäuser ansteuern und dort weitere Fahrzeuge holen, damit sie mehr Zeug auf einmal abtransportieren können. Aber dafür lassen ihm die anderen keine Zeit.«
Nachdem Pete geendet hatte, herrschte ein paar Minuten Schweigen. Es war nicht unangenehm, und niemand hatte das Bedürfnis, die Stille mit Geplapper zu füllen. Die Wärme und der leichte Wind vertrieben jedes Gefühl von Dringlichkeit. Erin merkte, wie sie einschlummerte.
Doch Phil holte sie wieder in die Gegenwart zurück. »Glaubt ihr, dass wir je wieder in die Zivilisation zurückkehren werden?«
»Um ehrlich zu sein«, erwiderte Pete, bevor Erin oder Monica etwas sagen konnten, »ist mir das völlig egal.«
Erin öffnete ein Auge und sah ihn an. »Ernsthaft? «
»Ja. Frag mich noch mal in einem Monat, wenn wir unsere Vorräte aufgebraucht haben, aber ich habe das Gefühl, dass wir hier besser dran sind. Die Erde ist viel zu kompliziert geworden, zu voll und stressig. Ich weiß, dass wir letztlich ein paar Dinge vermissen werden, aber wenn ich in diesem Moment einen Knopf vor mir hätte, mit dem man die alte Welt zurückbringen könnte, würde ich ihn wahrscheinlich nicht drücken.«
»Vielleicht solltest du mit den Landwirtschaftlern sprechen«, sagte Monica. »Ich bin sicher, dass in eurem Gras auch ein paar Samen stecken.«
Pete und Phil ruckten hoch und sahen einander an. »Na klar!«, rief Pete aus.
Sie sprangen hastig von ihren Liegestühlen auf, baten die Mädchen, ihre Sachen im Auge zu behalten, und rannten davon.
»Alle Achtung, du weißt wirklich, wie man Leute loswird«, sagte Erin.
Monica verbeugte sich, ohne von ihrem Liegestuhl aufzustehen.