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Plünderung
7. August
Die Mitglieder des Bergungstrupps stapften auf der Erdseite mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen über das Universitätsgelände. In der Luft war keine Asche mehr zu erkennen, und der kürzlich gefallene Regen hatte die Dreckschicht auf der Erde in eine halbmeterhohe, gummiartige Masse verwandelt, die an weichen Lehm erinnerte. Das Gute daran war, dass sie die Atemmasken absetzen konnten und mit ihren Schritten keine Staubwolken aufwirbelten. Doch das Gehen fiel ihnen unglaublich schwer. Obwohl es kein heißer Tag war, schwitzten die drei.
Curt hätte das momentane Wetter nicht beschreiben können. Er hatte einst eine Kurzgeschichte namens Windstille in der Hölle
gelesen. Er erinnerte sich nur noch an den Titel sowie daran, dass die Figuren in der Erzählung in einem grauen Dunst schwebten. Beides schien zu dieser Umgebung zu passen. Der Himmel war grau, aber nicht wolkenbedeckt. Stattdessen schien es so, als wäre sein übliches Blau aus dem Farbspektrum gelöscht worden. Ein hellerer Fleck zeigte an, wo die Sonne stand, doch auch an dieser Stelle war keine Struktur zu erkennen. Die Asche, die an allem klebte, entzog der Landschaft alles Bunte und ließ nur ein stumpfes Braungrau übrig.
Es ging kein Wind, und die Luft war kühl, aber viel
feuchter, als man bei diesen Temperaturen für möglich gehalten hätte. Curt hatte das Gefühl, nicht genug einzuatmen, obwohl die Sauerstoffversorgung seines Körpers ausreichend zu funktionieren schien.
Sie hatten eine Liste mit Gebäuden bekommen, die sie durchsuchen sollten. Im Moment kämpften sie sich zum Scott Engineering Center vor. Curt fing an, das Lied der Wolgaschlepper zu summen, doch nach einer Minute gab er auf, weil es einfach zu anstrengend war. Niemand sagte etwas dazu.
Gefreiter Andrews beobachtete die Gestalten, die in der Ferne den Campus überquerten. Er ließ das Fernglas sinken und drehte sich zum Gefreiten Timminson um, der ein Plätzchen auf einer niedrigen Mauer freigekehrt hatte und sich gerade hinsetzte. »Sie haben zwar Gewehre, aber sie tun nichts Illegales. Es gibt keinen Grund, sie zu verfolgen, oder?«
Timminson verzog das Gesicht. »Ich bewege mich eh nur, wenn das Jüngste Gericht beginnt … noch einmal beginnt, meine ich.« Die beiden grunzten, da ihnen für echtes Lachen die Kraft fehlte. »Das hier ist wie eine kalte und sehr feuchte Version der Hölle.«
Andrews notierte das Datum, die Uhrzeit und ihre Position. Dann beschrieb er die gesichteten Personen und fügte hinzu: »Kein Beweis, dass es sich um Plünderer handelt. Eine Verfolgung ist nicht angezeigt.«
Er packte das Fahrtenbuch weg und ließ sich nieder. Es fiel ihm nicht leicht, eine bequeme Position zu finden, ohne auf verkrusteter Asche zu sitzen. »Außerdem ist es nicht gut, wenn wir noch mehr Mäuler stopfen müssen. Ich weiß gar nicht, wieso wir noch nicht damit angefangen haben, die Zivilisten aus der Stadt zu schaffen.
«
»Klar weißt du das«, sagte Timminson. »Weil wir es nicht können. Du hast doch gehört, was der Professor über die Highways gesagt hat. Willst du wirklich zu Fuß zum Fort Leonard Wood gehen?«
»Vielleicht ist dort gar keiner mehr«, erwiderte Andrews
»Ja. In ein paar Tagen haben wir wieder Funkempfang. Dann wissen wir mehr. In der Zwischenzeit« – Timminson wies auf die Stelle, an der die Gestalten aus ihrem Blickfeld verschwunden waren – »sollen wir die Umgebung überwachen. Und wenn Chavez das sagt, dann machen wir das auch.«
Matt holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. Dann drehte er sich zum restlichen Trupp um. »Ja, es ist ein bisschen gefährlich. Aber wir müssen es versuchen. Wenn es da drin noch ein paar intakte Hohlräume gibt, wäre das ein Riesenfund.«
Sie standen vor einem Supermarkt. Sein Dach war wie alle Flachdächer unter dem Gewicht der Asche eingestürzt. Allerdings nicht komplett. Daher wollte das Bergungsteam das Gebäude durchsuchen. Matt und ein paar andere befanden sich auf der Erde und gaben Informationen über die Außenansicht des Gebäudes per Funk an einen anderen Trupp durch, der unterdessen von Outland aus das Innere des Supermarkts mit der Stabkamera erkundete.
Schließlich knisterte das Funkgerät, und eine Stimme meldete: »Wir haben eine Tasche gefunden. Es sieht aus, als gäbe es dort viele nützliche Dinge. Auf jeden Fall Lebensmittelkonserven.«
Matt und sein Trupp jubelten und klatschten einander ab.
Ein paar Minuten später öffnete sich das Zwei-Meter-Tor, durch das der Outland-Trupp den Supermarkt betrat
.
Es dauerte Stunden, den unversehrten Bereich leer zu räumen. Doch niemand beklagte sich darüber. Sie fanden nicht nur Lebensmittelkonserven und Einweckgläser, sondern auch Mehl, Zucker, Trockenmilch, Nudeln und in Kartons und Tüten abgepacktes Müsli. Die beiden Trupps gerieten in Euphorie. Nach diesem Fischzug würden sie mehrere Wochen lang etwas anderes als Chili und noch Monate danach immerhin ein abwechslungsreicheres Chili zu essen bekommen.
Timminson sah empört die leeren Regale an. Sie hatten gerade fast einen ganzen Tag lang vorsichtig Schutt zur Seite geschafft und Teile des Gebäudes abgestützt, um es einigermaßen ungefährdet betreten zu können. Nun waren sie endlich ins Innere des Supermarkts vorgedrungen, nur um erkennen zu müssen, dass sämtliche Regale leer geräumt waren. Alle Konserven und sonstigen Lebensmittelpackungen waren verschwunden. Überall fanden sich Fußspuren, doch sie konnten sich nicht erklären, wie die Plünderer ins Gebäude gelangt waren.
Chavez trifft der Schlag,
dachte Timminson.
»Schon wieder? Uns ist noch einmal
jemand zuvorgekommen?« Wie erwartet nahm Chavez die Neuigkeit nicht gut auf. Die Korporalin sprach sehr leise, wenn sie wütend war, und damit machte sie die anderen Soldaten nervöser, als wenn sie ihnen einen ordentlichen Anschiss verpasst hätte. Die meisten Soldaten versuchten, sich hinter ihren Kameraden zu verstecken, um nicht in ihr Blickfeld zu geraten.
Chavez machte einen tiefen Atemzug und versuchte, sich zu beruhigen. »Wer auch immer diese Leute sind, sie besitzen irgendeine Technologie, die uns nicht zur Verfügung
steht. Wichtiger ist jetzt jedoch, dass sie Vorräte wegnehmen, die wir dringend für unsere zivilen Schützlinge brauchen. Wir können sie nicht mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Und das reicht mir jetzt. Ab sofort machen wir Jagd auf diese Plünderer. Mit geladenen Waffen, und wenn ihr aus Versehen einen oder zwei von ihnen erschießt, werde ich davon nichts mitbekommen haben. Ist das klar?« Chavez ließ den Blick über ihre Soldaten gleiten, bevor sie fortfuhr: »Wenn ihr jemanden seht, und ich meine irgendwen
, verhaftet ihr ihn. Wenn er nicht zu der Gruppe gehört, nach der wir suchen, und auch nicht plündert, können wir uns entschuldigen und ihn laufen lassen. Aber alle
müssen kontrolliert werden.«