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Zu nah
9. August
Matt saß in seinem Pick-up und klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad, während Bill sich mit seinem Tablet beschäftigte.
»Ja. Das ist es.« Bill winkte dem Trupp zu, der auf der Ladefläche des Pick-ups saß. »Lasst uns die Sachen aufbauen.«
Matt stellte den Motor ab, und alle stiegen nacheinander vom Truck. Zwei kletterten mit AR-15-Gewehren in der Hand auf das Fahrzeugdach und beobachteten, wie ein Wolfsrudel, das dem Truck gefolgt war, sich nun in ungefähr fünfzig Metern Entfernung hinlegte und sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Die Übrigen luden das Truck-Tor mitsamt Portal-Generator ab und richteten alles her.
Unterdessen ging Bill mit der Stabkamera herum und betrachtete den Bildschirm. Dabei behielt er beständig die beiden Wächter im Auge und war bereit, jederzeit in den Truck zu springen, falls sie hektische Bewegungen vollführten. Nach ungefähr einer Minute blieb er stehen. »Diese Stelle befindet sich im Inneren des Vermietungsbüros, und das Bodenniveau auf der anderen Seite ist nicht viel höher als hier. Wir können das Tor öffnen.«
Nachdem sie das Truck-Tor zusammengebaut und in Stellung gebracht hatten, schaltete Bill es ein. Wie üblich
verschwamm das Innere des Portals zunächst, dann blickten sie in die Home-Depot-Filiale. Bill grinste und schüttelte den Kopf. »Daran werde ich mich nie gewöhnen.«
Da sie sich vorab auf eine Strategie festgelegt und die unterschiedlichen Aufgaben verteilt hatten, brauchten sie weniger als fünfzehn Minuten, um alles von der anderen Seite herüberzuholen.
Auf Outland sah Bill zu, wie immer wieder mit Ausrüstung beladene Truppmitglieder aus beiden Seiten des Portals traten und sich in entgegengesetzten Richtungen von ihm entfernten. Das ist ein echt schwindelerregender Anblick.
Schließlich waren sie fertig. Sie fuhren das Tor runter, bedeckten die Beutestücke mit einer Plane und luden die Portal-Hardware wieder auf den Truck.
»Das wird ewig dauern«, bemerkte Matt. »Ich schätze, dafür sind acht Fahrten nötig. Und da ich in diesem Gelände nicht schnell fahren kann, brauche ich dafür jeweils einen halben Tag.«
Charlie ging zum Heck des Pick-ups. »Du weißt, dass du eine Anhängerkupplung hast, oder? Kann man bei Home Depot nicht Anhänger leihen?«
»Stimmt«, sagte Bill. »Mal schauen, ob wir einen finden.« Sie luden die Portal-Hardware wieder ab und machten sich auf die Suche.
Bill trat mit dem Rest des Trupps durch das Portal und sah sich um. Die Anhänger waren vor der Ladenfront aufgereiht und an Metallhalterungen gekettet. Damit sollten allerdings eher Gelegenheitsdiebe abgeschreckt werden als Leute, die den ganzen Tag Zeit hatten, dieses Problem zu lösen. Ein paar von ihnen gingen in den Laden, um nach einem Bolzenschneider zu suchen.
Während sie den Anhänger schließlich durch das große
Tor bugsierten, ertönte in der Ferne ein Schrei. Als Bill aufblickte, prallte ein Querschläger von der Ladenfassade ab.
»Oh Scheiße!«, gellte Charlie. »Wir werden beschossen! Alle zurück durchs Tor!«
Während der Trupp nach Outland zurückrannte, nahm Bill sich einen Moment Zeit, um die herannahenden Gestalten genauer zu betrachten. Das sind Uniformen.
Einer der Uniformierten blieb stehen und hob das Gewehr an. Oh, oh. Es wird dringend Zeit, zu verschwinden.
Bill sprang durch das Tor, als gerade eine zweite Kugel in die Ziegelwand einschlug. »Schaltet es ab!«
Charlie fackelte nicht lange und fuhr das Tor herunter. Alle sahen einander in schockiertem Schweigen an.
»Sind alle hier?«, fragte Bill. »Haben wir nichts auf der Erde gelassen?«
Ein kurzes Durchzählen und eine schnelle Bestandsaufnahme der Ausrüstung ergaben, dass nichts und niemand zurückgeblieben war.
»Das waren Militärs«, sagte Matt. »Von der Nationalgarde, glaube ich, obwohl ich mich mit Uniformen nicht sehr gut auskenne.«
»Ja, das ergibt Sinn«, sagte Bill. »Bei einem Notfall wie diesem wären sie als Erste vor Ort. Und hat die Nationalgarde in Lincoln nicht auch einen Stützpunkt?«
»Ich glaube, ja. Wenn wir zurück sind, fragen wir die anderen. Irgendjemand weiß es bestimmt.« Matt tippte sich ans Kinn. »Aber vielleicht können wir auch mit ihnen reden. So eine gute Gelegenheit ergibt sich möglicherweise nie wieder.«
»Bist du verrückt? Sie haben auf uns geschossen. Zwei Mal.«
»Sie halten uns für Plünderer.«
»Wir sind
Plünderer.
«
»Ja, aber …« Matt verstummte und seufzte. »Okay, du hast recht. Aber wir versuchen, dreihundert Menschen zu ernähren. Schau, vielleicht können wir unsere Kräfte bündeln. Gut möglich, dass sie auch zivile Flüchtlinge in ihrer Obhut haben. Wir müssen es wenigstens versuchen.«
»Ja, schön, aber ganz vorsichtig«, mahnte Bill.
»Einverstanden. Ich bin auch nicht wild darauf, erschossen zu werden. Weißt du noch, was wir bei unserem ersten Ausflug nach Outland über die Portale herausgefunden haben? Wir können es so einrichten, dass das Risiko relativ gering ausfällt. Wir machen es folgendermaßen …«
Gefreiter Andrews stieß die durchtrennte Kette mit dem Fuß an. »Ein Anhänger, oder?«
Timminson deutete auf die anderen Wagen, die in einer Reihe vor dem Laden standen. »Scheint so. Aber wo ist er?«
»Und wo sind die Typen, auf die wir geschossen haben?«
»Ich könnte schwören, dass sie verschwunden sind.«
»Menschen verschwinden nicht einfach, Howie. Sie müssen um eine Ecke oder so gebogen sein.«
»Siehst du hier irgendeine Ecke oder einen Eingang oder auch nur einen Gullideckel?«, konterte Timminson. »Sie sind nicht …«
»Äh, Jungs?«
Timminson und Andrews wirbelten zu der unerwarteten Stimme in ihrem Rücken herum. Andrews sondierte automatisch die Lage. Der Mann stand ungefähr sieben Meter von ihnen entfernt. Er war salopp gekleidet, trug keine Waffen und war allein. Allerdings sah er wie jemand aus, den man besser nicht herumzuschubsen versuchte, jedenfalls nicht ohne ein paar Mann Verstärkung. Er stand gut ausbalanciert auf den Fußballen. Er ließ die Schultern locker hängen und wirkte auch sonst entspannt. Er und
Timminson würden ihn auf keinen Fall niederringen können.
Andrews brachte das Gewehr in Anschlag. »Hände über den Kopf und runter auf die Knie.«
Der Mann gehorchte nicht. »Hört zu, Leute, ich versuche, ein Gespräch mit euch zu beginnen. Wir sind nicht das, wofür ihr uns …«
»Letzte Chance, Arschloch. Auf die Knie, sonst bist du tot.«
Der Mann sah seufzend nach rechts und zuckte die Achseln, als würde er sich mit jemandem unterhalten. Dabei schaute er eine kahle Wand an. Was …?
Er verschwand, ohne Vorwarnung und ohne einen einzigen Schritt zu tun. Andrews blickte sich hektisch um, entdeckte aber nirgends eine Spur von ihm. Allerdings sah er etwas Merkwürdiges auf dem Boden. Es schien Gras zu sein. Dann verschwand auch das, und es blieb nur der Asphalt zurück.
»Was ist da gerade passiert?«, fragte Timminson.
Andrews ging zu der Stelle hinüber, wo der Mann gestanden hatte, und strich mit dem Fuß über den Straßenbelag. Er wirkte ganz normal. Schließlich drehte er sich zu Andrews um. »Es ist nichts passiert. Überhaupt nichts. Wir haben niemanden gesehen. Verstanden?«
Timminson runzelte die Stirn. »Der Kerl ist verschwunden. Vom Kopf abwärts, als wäre er wegradiert worden.«
»Ich weiß, Howie, ich habe es auch gesehen. Aber wir halten die Klappe, wie ich es gesagt habe. Ich will das auf keinen Fall Chavez erklären müssen.«
Matt trat aus dem Tor, als die beiden Mitglieder seines Trupps es auf dem Boden ablegten. Das Oval umschloss ein Stück Asphalt, das nicht zum ihn umgebenden Meer aus
Präriegras passte. Dann deaktivierte Charlie das Portal, und der Asphalt wurde durch Grashalme ersetzt. Die beiden Männer, die das Tor abgesenkt hatten, stellten es aufrecht hin.
Bill grinste seinen Freund an. »Ich würde zu gerne hören, worüber die beiden sich jetzt unterhalten.«
Ein Lächeln huschte über Matts Gesicht. »Das wäre sicher amüsant, aber wir haben ein echtes Problem. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, damit wir mit ihnen sprechen können, ohne erschossen zu werden. Oder verhaftet. Oder beides. Vielleicht sogar in dieser Reihenfolge.«