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Verhöre
Die Tür flog mit einem lauten Knall auf.
»Okay, Arschloch. Es wird Zeit, dass du redest!«
Bill hatte gerade noch Zeit, sich aufzusetzen, bevor zwei Soldaten ihn an den Armen packten und an Korporalin Chavez vorbeischleiften. Sie zog ein Gesicht, von dem Milch sauer geworden wäre. Bill unterdrückte ein Lächeln und versuchte, nicht ins Stolpern zu geraten. Vermutlich hatten sie inzwischen bemerkt, dass Bob und Kavi verschwunden waren.
Kurz darauf saß er erneut in Lieutenant Collins’ Büro. Der Offizier hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Wir haben zwei Personen gefangen genommen, die nach eigenem Bekunden zu Ihrer Gruppierung gehören.«
»Und nun sind sie verschwunden?« Bill verzog keine Miene. Auch wenn sie ihn vor einer Exekution wahrscheinlich erst vor Gericht stellen müssten, würde er sich in dieser Situation mit seinem üblichen herablassenden Grinsen ziemlich sicher eine Kugel einhandeln.
Der Lieutenant setzte sich auf. »Woher wissen Sie das?«
»Weil ich Richard gesagt habe, dass er sie befreien soll.«
»Nach Ihrer Gefangennahme? Dann können Sie also nach Belieben mit Ihren Leuten kommunizieren und Häftlinge aus einem Militärstützpunkt befreien, wenn Ihnen danach ist?«
Bill nickte. »Mehr oder weniger.«
Der Lieutenant seufzte und setzte sich auf die Kante
seines Schreibtischs. »Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie reden wollen. Dafür wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.«
»Kein Problem. Allerdings bin ich ohne Kaffee zu nichts zu gebrauchen.«
Chavez sah ihn entrüstet an. »Sie wollen, dass wir Ihnen einen Kaffee servieren?« Sie drehte sich zum Lieutenant um. »Darf ich auf ihn schießen, Sir? Bitte. Nur ins Knie.«
»Schon gut, Korporalin. Vielleicht lohnt es sich ja. Und wenn nicht, haben wir noch einen zusätzlichen Grund, ihn vor ein Erschießungskommando zu stellen. Lassen wir ihm erst mal seinen Willen.« Er lächelte Bill ohne eine Spur von Humor an und winkte einem der Soldaten. »Bringen Sie dem Mann bitte einen Kaffee, Stevenson.«
Bill nahm einen Schluck. »Wow, ist der schlecht.«
»Gern geschehen«, erwiderte Chavez.
Bill zuckte die Achseln. »Ja, vielen Dank. Aber Sie können mir nicht erzählen, dass Sie den hier wegen des Geschmacks trinken.«
Zum ersten Mal, seit er sie kennengelernt hate, lächelte Chavez ihn in einer Weise an, die nicht Tod und Verderben verhieß. »Nein, jedenfalls nicht, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Wenn Sie den Walgreens nicht leer geräumt hätten, könnten wir Ihnen besseren Kaffee anbieten.«
»Da wir schon beim Thema sind«, sagte Lieutenant Collins, »was ist mit den Informationen, die Sie uns versprochen haben?«
Bill lehnte sich zurück, trank schaudernd einen weiteren Schluck und begann zu sprechen.
»… und das habe ich alles in meinen Sommerferien erlebt«, endete Bill, nachdem er zehn Minuten lang ununterbrochen geredet hatte
.
Lieutenant Collins und Korporalin Chavez schauten ihn entgeistert an. Ihre Münder standen derartig weit offen, dass es aussah, als würden die Kinnladen gleich den Boden berühren.
»Von allen …«, brachte Chavez heraus.
»Sie sind ja wohl der …«, keuchte Collins.
»Für mich klingt das vernünftig«, warf eine dritte Stimme ein.
Collins und Chavez verstummten und drehten sich erstaunt zum Gefreiten Stevenson um.
Stevenson erwiderte ihre Blicke mit einem Achselzucken und deutete auf Bill. »Denken Sie nur an all die Fußspuren, die plötzlich abbrachen, die Gebäude, die leer geräumt wurden, ohne dass jemand sie geöffnet hatte. Wie ließe sich das besser bewerkstelligen als mit einem interdimensionalen Tor? Oder vielleicht einer Zeitmaschine?« Stevenson sah Bill an.
Bill schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, es ist keine Zeitmaschine.« Er drehte sich zu Collins um. »Hören Sie, wir hatten vor, diese Erfindung zu veröffentlichen und dafür irgendwann den Nobelpreis einzuheimsen. Doch dann kam uns leider die Eruption dazwischen. Aber sie ermöglicht den Menschen die Flucht von der Erde. Wir übergeben liebend gern alles ans Militär. Sie können damit wesentlich mehr Leben retten als wir.«
»Nein, das können wir nicht«, sagte Collins. »Nicht mehr. Sie beziehen Ihre Informationen aus dem Satellitenfernsehen, und die sind überwiegend ziemlich gut recherchiert. Aber sie zeigen nicht mal annähernd das ganze Bild. Die Armee hat viel bessere und stabilere Kommunikationskanäle. Ich nehme an, das überrascht Sie nicht.«
Bill schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es die Vereinigten Staaten
als solche noch gibt«, fuhr Lieutenant Collins fort. »Wir haben seit zehn Tagen keine offiziellen Nachrichten mehr empfangen. Nach allem, was wir uns zusammenreimen konnten, ist Washington bereits Ende der ersten Woche gefallen. Niemand wusste, wo der Präsident war, und sie haben sich mit der Nachfolgeregelung zu viel Zeit gelassen. Es hat weitere Angriffe gegeben. Ich weiß zwar nicht, wie viele der nominellen Nachfolger ums Leben gekommen sind, aber es kann sein, dass inzwischen der Hausmeister des Weißen Hauses zum Präsidenten ernannt worden ist. Es gibt bis zu einem Dutzend regionale Despoten, die über Kurzwelle ihre Unabhängigkeit erklärt haben. Und es bereitet mir Sorgen, dass niemand sie zum Schweigen bringt. Das bedeutet nämlich, dass ihre Territorien de facto ungesichert sind.
Auch im Rest der Welt ist die Situation mies und wird immer schlimmer. Die Informationen der BBC stimmen – im Nahen Osten sind tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz gekommen. Allerdings auch in Pakistan, worüber nicht berichtet wurde, da zu diesem Zeitpunkt die Nachrichtenkanäle bereits zusammengebrochen waren. Zwischen den beiden Koreas gab es ebenfalls einen Atomkonflikt. Russland und China haben sich ihre gesamten Satellitenstaaten einverleibt und zerren nun am Staatsgebiet des jeweils anderen. Das wird erst aufhören, wenn beiden die Munition ausgegangen ist. Es sagt viel aus, dass keiner der beiden mehr Atomwaffen hat, die er auf die Gegenseite abfeuern kann. Wir sind nicht besser als Sie imstande, die Existenz dieses Geräts bekannt zu machen, und ich bezweifle, dass irgendwer dort draußen noch das nötige Kleingeld hätte, um irgendetwas mit der Information anzufangen, wenn es uns gelänge.« Lieutenant Collins’ Gesicht wirkte gequält. »Wir arbeiten weiter als Nationalgardisten, weil wir
geschworen haben, es zu tun, aber ehrlich gesagt auch, weil keiner von uns eine bessere Idee hat. Tatsächlich haben wir bereits darüber diskutiert, ob wir unseren Zug auflösen sollen. Sie haben die Flüchtlinge im Hangar gesehen. Es sind Menschen, die wir auf unseren Patrouillen gefunden haben. Sie konnten nirgends hin und wären sicher verhungert. Wir tun, was wir können, aber unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Unsere Erkundungen haben ergeben, dass innerhalb von tausendfünfhundert Kilometern westlich und dreitausend Kilometern östlich beziehungsweise südlich vom Yellowstone keine nennenswerten Gemeinwesen existieren. Jenseits davon schließen die Kommunen nach allem, was wir wissen, ihre Grenzen und bunkern sich ein. Flüchtlinge, die versuchen, diese Barrikaden zu überwinden, werden erschossen. Ich gehe davon aus, dass wir den gesamten Weg bis an die Ost- oder Westküste zurücklegen müssten, um einen Ort zu finden, an dem wir und unsere Flüchtlingsgruppe willkommen wären. Dank unserer Feuerkraft könnten wir uns natürlich irgendwo mit Gewalt Zugang erzwingen, aber die Vorstellung gefällt mir nicht. Dadurch würden wir die Not nur noch vergrößern. Es mag seltsam klingen, aber hier sind wir vermutlich noch am besten dran, zumindest solange es Vorräte gibt, von denen wir uns bedienen können. Deshalb sind wir auch so sauer, dass Ihre Gruppe uns alles wegschnappt.«
Lieutenant Collins setzte sich gerade auf und sah Bill direkt in die Augen. »Schauen Sie, Bill, es klingt toll, was Sie da erzählen, aber es fällt mir schwer, Ihnen zu glauben. Wer sagt mir, dass Sie nicht nur ein wortgewandter Geschichtenerzähler sind, der mit dieser Räuberpistole seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will? Ich muss mit meinem Stab darüber sprechen.« Der Lieutenant sah auf seine Uhr, dann wandte er sich an Chavez und Stevenson. »
Bringen Sie Mr. Rustad auf sein Zimmer zurück. Es soll ihm an nichts fehlen. Aber sorgen Sie dafür, dass er sich nicht vom Fleck rührt.«