»Ich wünsche mir möglichst keine gesundheitlichen
und psychischen Probleme mehr und die Minderung
meiner Zukunftsangst. Und ich wünsche mir ein Verbot
von Waffen in privaten Haushalten und die
Einschränkung von Medien, in denen Gewalt
verherrlicht wird.«
Frau Braun
Deutschlehrerin in der Klasse 9c
Heute im Ruhestand
Unterrichten: Das war mein Leben. Es gibt nicht viel Schöneres, als mit jungen Menschen zu arbeiten. Und wenn man merkt, es klappt, sie lernen etwas, ist das die Erfüllung. Ich habe viel Erfüllung erlebt in meiner Zeit in Winnenden. 1973 bin ich an die Albertville-Realschule gekommen, die damals noch einen anderen Namen trug. In dieser langen Zeit hatte ich irgendwann sogar die Kinder von ehemaligen Schülern im Unterricht. Selbst wenn man so viele Schüler im Laufe eines Berufslebens hatte, bleiben einem manche in bester Erinnerung. Andere wiederum nicht. An Tim Kretschmer kann ich mich nicht erinnern. Ich habe ihn nie unterrichtet.
Ebenso ausgelöscht in meinem Gedächtnis ist der Tag vor seinem Amoklauf. Der existiert nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich den Unterricht des nächsten Tages vorbereitet. Und vermutlich auch den Fortbildungsworkshop, den ich nach der Arbeit mit einigen Kollegen besuchen wollte. Der sollte an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd stattfinden und deshalb ließ ich an diesem Morgen meine Handtasche mit dem Handy im Auto liegen.
Ich unterrichte Englisch und Deutsch. An diesem Tag behandeln wir in der Klasse 9c ein Interview von Professor Spitzer. Kurz gesagt geht es in dem Text darum, ob zu viel Fernsehen und Computerspiele Jugendliche aggressiv machen. Als Hausaufgabe mussten die Schüler die Fakten zusammenfassen und Argumente dafür oder dagegen finden. Ich habe damit gerechnet, dass es geteilte Meinungen gibt. Und tatsächlich beharren einige Schüler auf dem Standpunkt, dass Computerspiele grundsätzlich der Entspannung dienen, egal, ob sie gewalttätig sind oder nicht. Wir sind mitten in der Diskussion, als sich die Tür öffnet. Ich weiß nicht, ob es vorher geklopft hat. Jedenfalls kommt ein Junge herein und fängt sofort an zu schießen. Er schießt nach vorne, in Richtung Tafel, in meine Richtung. Da macht einer einen blöden Spaß, denke ich noch. Das sind bloß Platzpatronen. Ich will zu ihm hin und sagen »Hör auf, was fällt dir ein«, als ich merke, wie rings um mich die Kugeln einschlagen. Eine davon trifft mich. Gleichzeitig sehe ich, wie Chantal in sich zusammensinkt. Ich schreie: »Unter die Tische! Verbarrikadiert euch!« Die Schüler reagieren schnell. Tische werden umgeworfen, sie verschanzen sich dahinter. Da macht der Junge kehrt und verlässt das Klassenzimmer. Einige Schüler nutzen die Gelegenheit und verbergen sich hinter dem Klavier neben der Tafel. Andere verziehen sich nach hinten und versuchen, neben der Tür in Deckung zu gehen. Auf meinem Pult liegt der Raumschlüssel. Ich nehme ihn und laufe zur Tür. Der Amokläufer kann dahinter sein, aber ich verspüre keine Angst. Ich funktioniere. Ich schließe die Tür ab und denke: »Wir brauchen einen Notarzt.« Einer der Schüler, Steffen, hat bereits die Polizei alarmiert. Andere versuchen verzweifelt, mit dem Handy ihre Eltern zu erreichen. Viele weinen, ein Mädchen ist völlig hysterisch. Am liebsten würde ich sie schütteln, wage es aber nicht. Dann rufe ich mit einem Schülerhandy nochmals bei der Polizei an. Es dauert alles viel zu lange. Ich habe hier ein halbes Dutzend Schwerverletzte, um die muss ich mich kümmern. Chantals Kopf liegt auf ihren gekreuzten Armen auf dem Tisch. Christina liegt darunter, sie atmet noch. Jana liegt in einer Blutlache. Der Amokläufer hat ihr in den Kopf geschossen. Sie atmet ebenfalls noch und ich bringe sie zusammen mit einem Schüler in die stabile Seitenlage. Weiter vorne im Klassenzimmer kauert Elena auf dem Boden, ihr Arm ist mehrfach durchschossen. Ich rufe einen weiteren Schüler herbei und er hilft mir, ihr den Arm abzubinden. Während der ganzen Zeit sage ich mir, du musst unbedingt Ruhe bewahren.
Du musst Ruhe bewahren.
Hörst du? Du musst Ruhe bewahren!
Wie bewahrt man in so einer Situation Ruhe? Natürlich haben wir im Kollegenkreis immer wieder Krisensituationen besprochen. Wir haben sogar einen Kriseninterventionsplan. Aber das hier übersteigt alles. Das hier kann man nicht proben. Das hier ist der Super-GAU. Noch ein zweiter Gedanke ist in meinem Kopf: »Ich muss die anderen Klassen warnen.« Natürlich hören sie, dass geschossen wird, aber bekommen sie mit, wie ernst die Lage ist? Ich gehe zur Tür, drehe den Schlüssel, öffne und schaue in den Flur. Der Junge steht nur ein paar Meter von mir entfernt. Er wirbelt herum, sieht mich, hebt die Pistole und schießt sofort. Was für eine unwirkliche Situation. Und doch ist sie Realität. Ich kann nicht zu den anderen Klassen. Ich werde keinen Meter weit kommen. Schnell schließe ich das Zimmer wieder ab. Möglicherweise sorgt das dafür, dass es überhaupt Überlebende in dieser Klasse gibt. Denn der Junge versucht noch einmal hereinzukommen. Er will die verschlossene Tür aufschießen, aber das gelingt ihm nicht. Einige der Schüler hatten ihn beim Betreten des Klassenzimmers sofort erkannt. »Das ist Tim Kretschmer«, rufen sie. Einer sagt: »Der war bei mir in der Grundschule.« Auf einmal pocht es an der Tür. Ich höre die Stimme von Frau Stoltz, unserer Rektorin. Zusammen mit dem Hausmeister und dem Notarztteam steht sie draußen. Als ich aufschließen will, verhakt sich der Schlüssel, da der Hausmeister zur gleichen Zeit versucht, die Tür von außen zu öffnen. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Bisher konnte ich tatsächlich die Ruhe bewahren, nun will es mir nicht mehr gelingen.
»Reiß dich zusammen«, herrsche ich mich innerlich an. Es gelingt mir, die Tür aufzuschließen.
»Ihr geht jetzt alle raus«, sage ich zu den Schülern, nachdem Frau Stoltz bestätigt, dass der Attentäter nicht mehr im Gebäude ist. Die Schüler befolgen meine Anweisung; später bin ich darüber erstaunt, wie ruhig manche von ihnen reagierten. Wie gut sie sich gegenseitig halfen. Ich warte, bis alle das Zimmer verlassen haben. »Bitte tun Sie schnell was für Jana!«, sage ich zu dem Notarzt. »Sie atmet noch!«
Er antwortet: »Ich versuche es.«
Dann verlasse auch ich das Klassenzimmer. Alles ist still. Ist das wirklich passiert? Ich gehe langsam die Treppe hinunter. Scheinbar ist niemand mehr im Schulhaus. Ich sehe keinen Menschen. Was mache ich jetzt? Irgendwann merke ich, dass ich längst vor meinem Schrank stehe. Mein Mantel hängt darin. Ich starre ihn an. Ganz so, als ob er Antworten auf meine Fragen hätte.