Irgendwann sind wir draußen. Eine Unmenge Leute ist da: Sanitäter, Notärzte, schwer bewaffnete Polizisten. Ich sehe unseren Oberbürgermeister. Nicht weit entfernt von der Schule liegt das Wunnebad, ein großes Freizeitbad. Jemand ruft, dass wir dorthin gehen sollen, und so mache ich mich auf den Weg. Melissa ziehe ich hinter mir her. Als wir am Tennisklub vorbeikommen, halte ich bei einer Polizistin an.
»Wie ist die Robert-Böhringer-Hauptschule gesichert?«, will ich wissen. Dort geht meine Schwester Kathrin zur Schule. Die Polizistin zuckt mit den Schultern.
»Weiß ich nicht«, antwortet sie. »Ich bin eben erst gekommen.«
Ich habe furchtbare Angst um meine Schwester. Die kurze Zeit im Pausenhof hat ausgereicht, um zu erfahren, dass der Täter frei herumläuft. Was hindert ihn, eine weitere Schule zu überfallen? Ich ziehe Melissa mit mir, wir rennen zum Wunnebad. Dort sind mittlerweile viele Schüler eingetroffen. Die Badegäste sind völlig verwirrt. Einige verlangen lautstark ihren Eintrittspreis zurück. Unsere Schulsekretärin Frau Jensen bittet einen Polizisten in Zivil, auf Melissa, Sarina, Melina und mich aufzupassen. Doch schnell verlieren wir ihn in dem Chaos um uns herum wieder aus den Augen.
Plötzlich sagt Melina: »Möchtest du meine Jacke?« Sie hat tatsächlich daran gedacht, ihre Jacke mitzunehmen. Wir anderen haben unsere Sachen einfach liegen gelassen. Aber mir ist nicht kalt.
Plötzlich habe ich mein Handy in der Hand. Meine Mutter, natürlich, ich muss meine Mutter anrufen. Später sehe ich an der Anruferliste, dass es erst 10:14 Uhr ist. Seit dem Überfall ist nicht viel Zeit vergangen, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Als Mama sich meldet, sage ich: »Bei uns in der Schule ist geschossen worden, ich bin im Wunnebad, mir geht es gut, aber was ist mit Kathrin?«
Meine Mutter fällt aus allen Wolken. Sie hat kein Radio an und noch nichts vom Amoklauf mitbekommen. Aber sie fasst sich schnell.
»Ich rufe Papa an«, sagt sie.
Das tut sie auch und schon kurze Zeit später klingelt mein Telefon. Es ist Papa.
»Was ist passiert?«, fragt er.
Aus mir sprudelt es nur so heraus: »Lisa hat einen Streifschuss abbekommen und Frau Schüle wurde angeschossen und es wurde durch die Tür geschossen!«
Immer mehr Schüler und Lehrer erreichen jetzt das Wunnebad. Ich höre, wie Herr Braumüller, ein weiterer Lehrer, sagt: »Wenn es stimmt, was ich vermute, war es ein ehemaliger Schüler. Der hat letztes Jahr seinen Abschluss gemacht.«
Wen er meint, sagt er nicht, aber kurze Zeit später macht der Name Tim Kretschmer die Runde. Ich halte es nicht mehr aus, einfach nur dazuhocken. Ich muss herausfinden, was aus meinen anderen Klassenkameraden geworden ist. Wo ist Kai? Ich kann Kai nicht finden. Und wo sind alle anderen? Mein Handy klingelt, es ist Mama.
»Ich komme«, sagt sie, »ich hole dich ab.« Sie hält es zu Hause auch nicht mehr aus. Aber ich befürchte, dass sie in der Aufregung einen Unfall baut. Deshalb antworte ich: »Das geht nicht. Wir dürfen nicht abgeholt werden.« Später denke ich, seltsam, dass ich in diesem Augenblick so große Angst um meine Mutter hatte. Wahrscheinlich dachte ich, es kann überall und jederzeit etwas passieren. Ich lege auf und suche weiter nach meinen Klassenkameraden. Erleichterung macht sich breit, als ich immer mehr von ihnen treffe. Auf einmal heißt es: »Alle Schüler, die noch nicht abgeholt wurden, werden mit einem Bus nach Birkmannsweiler gefahren.« Das ist ein Stadtteil von Winnenden. Ihn erreicht man, wenn man der Straße folgt, die an der Schule und am Wunnebad vorbeiführt. Offenbar glaubt man, dort sind wir sicherer. Wir werden zu einem Bus begleitet und steigen ein. Während der Fahrt kommt uns ein Übertragungswagen vom Fernsehen entgegen. In Birkmannsweiler werden wir in eine Sporthalle gebracht und registriert. Wir müssen Namen und Geburtsdatum nennen. Ich rufe meine Mutter an und teile ihr mit, wo wir uns befinden. Wieder sagt sie: »Ich hole dich ab.« Dieses Mal widerspreche ich nicht. Kurz darauf klingelt schon wieder mein Telefon. Die Stadt ist komplett dicht, berichtet meine Mutter: »Ich komme nicht durch.«
Eine Sanitäterin kommt vorbei: »Ist hier jemand aus der Klasse 9b? Habt ihr Franziska gesehen?«
Es ist die Oma von Franziska. Ich kann sie beruhigen: Auf meiner Suche im Wunnebad habe ich sie getroffen. »Es geht ihr gut«, sage ich. Dann stoßen Christine, Nadine und Sandra zu mir. Wir warten. Aber worauf? Meine Mutter ruft an. Sie ist außer sich. »Es hat neun Tote gegeben. Nein, warte, gerade sagen sie zehn!« Als sie das sagt, spüre ich keine Regung in mir. Es ist eine Zahl, sonst nichts. Ich kann sie noch nicht mit meinen Schulkameraden verbinden. Nicht in diesem Moment. Als eine Seelsorgerin auf mich zukommt und mich fragt, wie es mir geht, antworte ich: »Es geht mir gut.«
Das ist meine Standardantwort. Es geht mir gut. Es geht mir gut. In Wahrheit geht es keinem von uns gut. Ein durchgeknallter Junge hat unser Leben zerstört. Von jetzt auf gleich, in wenigen Minuten. Ohne Grund. Keiner von uns hat ihm etwas zuleide getan. Die meisten von uns kennen ihn nicht einmal.
Nein, es geht uns nicht gut. Keinem geht es gut.
Dann bekommt Sandra einen Anruf. Ich weiß nicht, wer dran ist, aber sie fängt wieder an zu weinen. Sie legt auf und sagt: »Ibrahim ist tot.«
Ibrahim ist aus der 10d. Wir kennen ihn, weil er eine Woche bei uns war, als seine Klasse ins Landschulheim fuhr. Ihn habe ich vorhin auf meiner Runde durchs Wunnebad nicht gesehen. Aber das muss nichts heißen. Im Wunnebad herrschte so ein Durcheinander, ständig kam, ging, heulte, schrie jemand. Ich glaube nicht, dass er tot ist. Ich will es nicht glauben. Es hieß auch, es seien drei Täter. Es hieß, einer stamme aus dem Schelmenholz, einer Gegend im Osten der Schule. Dann stellte sich alles als Gerücht heraus. Sicher ist das auch nur ein Gerücht. Ich will, dass es ein Gerücht ist.
Gleichzeitig fällt mir ein, dass ich Ibrahim heute Morgen mit Krücken gesehen habe. Vielleicht eine Sportverletzung? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an die Mitschüler, die über die Feuerleiter geflüchtet sind. Mit Krücken kann man das nicht machen. Mit Krücken kann man nicht fliehen.
Ein Mann kommt auf uns zu. Er drückte sich schon die ganze Zeit in unserer Nähe herum, jetzt spricht er uns an. »Mädchen«, sagt er, »ihr müsst essen und trinken, damit euer Kreislauf stabil bleibt.«
Ich will nichts essen und trinken.
Ich kann überhaupt nichts zu mir nehmen.
Auch die anderen wollen nichts essen und trinken.
Dafür muss ich auf die Toilette. Doch die ist draußen und ich traue mich nicht hinaus. Zum Glück kommt irgendwann Christines Mutter. Sie begleitet mich.
Dann heißt es wieder warten. Der fremde Mann fordert uns noch einmal auf, zu essen und zu trinken. Dann ist plötzlich Papa da. Papa! Ich springe auf, wir liegen uns in den Armen.
Auf einmal fühle ich mich etwas sicherer. »Das Auto steht da vorne«, sagt Papa. Bevor wir gehen dürfen, muss ich mich abmelden. Wenigstens sagt keiner mehr, dass ich etwas essen soll.