Manchmal meine ich, der Schrei klingt mir noch heute in den Ohren. Ich schreie so lange, bis ich ganz weggetreten bin. Meine Oma gibt mir Beruhigungstabletten. Danach bin ich in der Lage, meine Freundin Lena anzurufen. Die kenne ich seit dem Kindergarten. Sie kommt gleich vorbei, und das ist gut. Auch später, wenn es mir schlecht geht, darf ich sie immer besuchen. Das wird sehr wichtig für mich.
Niemand weiß, wo Jana hingebracht wurde, und Papa ruft alle Krankenhäuser in der Region an. Offenbar kann niemand weiterhelfen, keiner weiß etwas. Schließlich landet er in Ludwigsburg, einer Stadt rund 20 Kilometer von uns entfernt. Dorthin hat man Jana gebracht. Die Krankenhäuser in unserer Gegend sind überfüllt.
Papa sagt, er fährt dahin. Und wenn er das sagt, dann tut er es auch. Mama bleibt bei mir. Ich gehe schlafen, ich bin völlig erschöpft.
Am nächsten Tag gehe ich nicht zur Schule. Ich habe nicht die Kraft dazu. Außerdem habe ich Angst, dass mich alle anstarren. Und blöde Fragen stellen. Das ist bis heute so geblieben. Ich mag es nicht, wenn mich die Leute nach dem Amoklauf fragen. Und was damals passiert ist. Tut es jemand, gebe ich zur Antwort: »Ich habe eine große Schwester. Sie heißt Jana.«
Für mich ist das so. Ich habe das Gefühl, Jana lebt noch mit mir. Natürlich weiß ich, dass sie nicht da ist, aber irgendwie ist sie das für mich trotzdem. Ich rede häufig mit ihr. Sie kann mir nicht antworten, aber ich bin mir sicher, dass sie mich versteht. Und wenn jetzt jemand sagt, das gibt’s doch nicht, ist mir das egal. Es gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen. Dass jemand in einer Schule viele unschuldige Mädchen und Jungen umbringt, verstehen wir schließlich auch nicht.
Eine Woche nach dem schlimmen Tag ist Janas Beerdigung. Wir sind alle furchtbar traurig und weinen. Trotzdem werde ich ab morgen wieder in die Schule gehen. Ich will meine Freundinnen wiedersehen. Sie haben mir Briefe geschrieben, wie sehr ihnen alles leidtut. Einige haben Plakate gebastelt. Das alles hilft mir sehr. Eine Freundin gibt mir ein Gedicht von Sören Kahl. Es ist sehr schön und geht so:
Man erzählt sich die Geschichte einer Perle hier am Strand.
Sie entstand in jener Muschel durch ein grobes Körnchen Sand.
Es drang ein in ihre Mitte und die Muschel wehrte sich.
Doch sie musste damit leben und sie klagte: Warum ich?
Eine Perle wächst ins Leben, sie entsteht durch tiefen Schmerz.
Und die Muschel glaubt zu sterben, Wut und Trauer füllt ihr Herz.
Sie beginnt es zu ertragen, zu ummanteln dieses Korn.
Nach und nach verstummt ihr Klagen und ihr ohnmächtiger Zorn.
Viele Jahre sind vergangen, Tag für Tag am Meeresgrund
schließt und öffnet sich die Muschel. Jetzt fühlt sie sich kerngesund.
Ihre Perle wird geboren. Glitzert nun im Sonnenlicht.
Alle Schmerzen sind vergessen, jenes Wunder jedoch nicht.
Jede Perle lehrt uns beten, hilft vertrauen und verstehn,
denn der Schöpfer aller Dinge hat auch deinen Schmerz gesehn.
Nun wächst Glaube, Hoffnung, Liebe, sogar Freude tief im Leid.
So entsteht auch deine Perle, sein Geschenk für alle Zeit.
Ein paar Wochen davor habe ich mit meiner Oma eine Halskette gekauft. Sie ist sehr hübsch, mit gepunkteten Glassteinen. Doch immer, wenn ich sie anziehe, geht es mir schlecht. Am Tag des Amoklaufs trug ich diese Kette. Danach ist mir klar, diese Kette bringt Unglück. Ich gehe zu Papa und sage ihm, er soll die Kette kaputt machen. Er soll sie beseitigen. Niemand darf diese Kette jemals wieder finden. Papa nimmt die Kette und sagt: »Ja, ich kümmere mich darum.« Danach ist sie tatsächlich weg. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Heute habe ich eine neue Kette. Ich habe sie von einer Freundin zur Konfirmation bekommen. Diese Freundin ist viel älter als ich, sie ist schon 27 Jahre alt. Sie heißt ebenfalls Jana, wie meine große Schwester. Die Kette, die sie mir geschenkt hat, ist ganz anders. Es ist eine Kraftkette. Immer, wenn ich sie trage, spüre ich, wie viel Kraft von ihr ausgeht.
Ich brauche diese Kraft auch. Am Anfang wechseln ständig meine Stimmungen. Ich bin so furchtbar traurig. Und dann auf einmal so wütend. Das ist besonders schlimm, weil ich mir vorstelle, wie ich zu diesem Attentäter gehe und ihm was antue. Ich weiß, dass er tot ist, aber ich stelle mir vor, ich könnte mich trotzdem rächen. Dann schäme ich mich für diese Gedanken, aber sie kommen trotzdem immer wieder. Das Gute ist, dass ich zu Hause so einen Sitzsack habe. Da sind so Perlen drin, damit man ihn in eine andere Form bringen kann. Auf den haue ich dann drauf, so fest ich kann. Immer wieder, bis ich ganz außer Atem bin. Aber das hilft, denn meine Wut verraucht. Zumindest für eine Weile. Dann kommt sie wieder.
Ich kriege Schwierigkeiten in der Schule. Dauernd bin ich abgelenkt, weil mich Leute fragen: »Bist du das? Ist das deine Schwester gewesen, die erschossen wurde?« Ich bin die Einzige in meiner Schule, die einen Angehörigen verloren hat. Aber wie soll man sich auf den Unterricht konzentrieren, wenn einem ständig solche Fragen gestellt werden? Dann gründet Papa das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden. Das ist, weil bei uns ständig das Telefon klingelt. Leute rufen an und haben Fragen. Papa hilft ihnen weiter. Irgendwann sagt er, das geht nicht mehr von zu Hause aus, und organisiert ein Büro. Es geht vor allem darum, sagt er, dass wir verhindern, dass so ein Amoklauf nochmals passiert. Janas Tod und der Tod aller anderen darf nicht umsonst sein. Wir müssen Gewalt an Schulen verhindern. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich trotzdem weiter zur Schule gehe.