Vor unserem Haus campen Leute von der Presse. Mama sagt, die sind jetzt überall und sie wollen alles wissen. Gerade hat einer gefragt, wo die Familie Kretschmer wohnt. Die Leute von der Presse wollen dahin und filmen.
Ich spreche drei Tage lang kein Wort. Ich kann nicht. Mein Mund ist verschlossen. Der Schrei ist in meinem Ohr. Ich habe so viele Fragen, aber sie wollen nicht heraus. Ich fange an, eine Holzkiste mit Servietten zu bekleben, damit sie hübsch aussieht. Ich schreibe den Namen »Jana« darauf. Ich sammle alle Zeitungsartikel und stecke sie in die Kiste. Immer wieder hole ich sie heraus und lese sie durch.
Die Schwester eines Schulkameraden ist tot. Jana ist tot und ich weiß, wie traurig Annabell und ihre Eltern sind. Nebenan wohnt die Oma von Elena, die auch in Janas Klasse ist. Elena wurde durch die Schüsse schwer verletzt und liegt im Krankenhaus. Überall sind alle traurig, es gibt kein Entrinnen. Es gibt nur diese schreckliche Tat. Dann fangen die Beerdigungen an. Wir wohnen direkt am Friedhof und es sind viele Beerdigungen. Irgendwann flüchten wir. Wenn wieder eine Beerdigung ist, verlassen Mama und ich das Haus. Aber danach gehe ich alleine auf den Friedhof. Wenn nicht so viele Leute da sind. Ich gehe jeden Tag. Ich habe meine Tasche voller Teelichter und ich stelle die Kerzen auf die vier Gräber und zünde sie an. Lange vor der Tat habe ich Janas Schreibtisch geschenkt bekommen. An ihm mache ich jeden Tag meine Gedenkminute.
Am nächsten Tag muss ich wieder in die Schule gehen. Auch dort wird darüber geredet, was passiert ist. Wir bekommen eine Kerze. Die Lehrerin sagt, wir dürfen erzählen, wie wir uns fühlen, aber wir müssen nicht. Ich sage nichts. Ich bleibe stumm.
Dann wird eine Trauer-AG gegründet. Unsere Pfarrerin leitet sie. Einmal gehe ich hin. Ich würde ja gerne sagen, wie es um mich steht, aber ich schaffe es nicht. Ich mache meine Gedenkminute an Janas Schreibtisch. Ich gehe zu ihrem Grab und zünde eine Kerze an.
Inzwischen ist viel Zeit vergangen. Ich bin jetzt zwölf Jahre alt und gehe aufs Gymnasium. Es liegt direkt neben der Albertville-Realschule, aber der Amoklauf ist kein Thema mehr. Wenn ich mal zu den Gedenktafeln hinübergehen will, kommt nie jemand mit. Selbst mit meiner besten Freundin kann ich mich nicht darüber unterhalten. Niemand interessiert sich dafür. Ich weiß nicht, warum das so ist.
Ich habe viel darüber nachgedacht, warum der Junge das getan hat. Und habe nie eine Antwort gefunden. Ich würde ihn gerne fragen. Ich würde gerne fragen, wieso hast du das getan? Noch lieber würde ich die Zeit zurückspulen und alles ungeschehen machen. Aber das kann ich nicht. Niemand kann das.
Ich spiele immer noch Fußball. Und lese am liebsten Fußballbücher. Aber ich glaube, ich werde doch kein Fußballprofi. Ich will Ärztin werden.
Meine Mama sagt, ich bin viel zu ernst für mein Alter.