Meine Klassenkameraden sind viel unbeschwerter als ich, das merke ich selbst. Mama sagt, es hätte auch ewig gedauert, bis ich wieder gelacht habe. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich den Schrei noch immer im Ohr habe. Und auch wenn ich Annabell nach unserem Umzug nicht mehr so oft sehe wie früher, treffen wir uns auch heute immer wieder: Sie ist dabei, als Mama mir einen Hamster kauft. Wir spielen zusammen in der Fußballmannschaft vom Aktionsbündnis. Außerdem sehen wir uns bei den Gedenkveranstaltungen. Die sind mir sehr wichtig. Wenn der Jahrestag kommt, bin ich beim Lichtermarsch dabei. Da sehe ich, wie andere Menschen ebenfalls trauern, und im Alltag doch wieder glücklich sein können. Das beschäftigt mich sehr: Kann man gleichzeitig über etwas sehr traurig sein und trotzdem andere Dinge wieder schön finden? Kann man das und darf man das? Eine richtige Antwort habe ich für mich noch nicht gefunden.
So wichtig wie die Gedenktage ist mir das persönliche Andenken an Jana. Deshalb werde ich ihren Schreibtisch auch nicht mehr hergeben. Der darf nicht einmal abgewaschen werden, vor allem nicht dort, wo die Schubladen sind, denn an dieser Stelle hat sich Jana mit ihrem Namensstempel verewigt. Und auf die Tischplatte hat sie einen VfB-Fankleber drauf gemacht, der muss ebenfalls da bleiben. Gut möglich, dass mir das alles so wichtig ist, weil der 11. März bei uns in der Schule kaum mehr einen interessiert. Viele meiner Mitschüler sagen: »Das ist bei uns jetzt einmal passiert, deshalb wird es nicht noch mal passieren.« Diesen Gedanken verstehe ich nicht. Genauso wenig, wenn sie sagen: »Ein Einzelner kann ohnehin nichts ausrichten.« Das klingt in meinen Ohren alles so gleichgültig.
Als ich in die 5. Klasse komme, sind die ersten Schultage für mich sehr schwer. Ich sitze in der letzten Reihe, genau neben der Tür. Jedes Mal, wenn es klopft, denke ich an den Amoklauf. Nach einer Weile kann ich mich gar nicht mehr konzentrieren. Ich will darüber aber nicht mit dem Lehrer sprechen und ich will auch nicht, dass Mama es tut. Aber ich glaube, sie tut es trotzdem, vielleicht heimlich, so wie ich selbst zu Hause manchmal heimlich auf der Treppe sitze, um mitzukriegen, was gesprochen wird. Jedenfalls hilft mir der Lehrer plötzlich, damit ich es nicht bei jedem Klopfen mit der Angst zu tun bekomme.
Ich kann nicht sagen, was man tun kann, um einen Amoklauf zu verhindern. Aber ich kann sagen, dass wir die Menschen, die dabei sterben mussten, nicht vergessen dürfen. Ich jedenfalls werde Jana niemals vergessen.