Jenny

Die Psychologin ist eine erfahrene Frau. Als sie sich vorstellt, erfahre ich, dass sie die Stationsleitung der Jugendstation an der Klinik für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie am Olgahospital innehat. Ziemlich schnell sagt sie mir, dass sie hier normalerweise ganz andere Patienten betreut. Der wesentliche Unterschied von denen zu mir ist das unerwartete Erlebnis, das ich hatte. Nur deshalb brauche ich Hilfe.

Die beiden Worte beschwören wieder viele Erinnerungen herauf: unerwartetes Erlebnis. Denn wie oft kommt es vor, dass wir morgens das Haus verlassen und wenn wir abends zurückkehren, ist die Welt völlig verändert? Ist nichts mehr, wie es vorher war? Wie häufig erleben wir, dass nur wenige Minuten unser ganzes Leben auf den Kopf stellen? Für solche unerwarteten Erlebnisse sind wir nicht geschaffen. Wenn sie eintreten, rüttelt es uns durcheinander. Dann benötigen wir professionelle Hilfe und müssen uns nicht dafür schämen.

»Erzähl mir, wie es dir gerade geht«, bittet mich Frau Lüke. Ich berichte von den Flashbacks, die mich ständig überfallen: diese Bilder, die Schüsse. Davon, wie es mir dann ganz heiß wird.

Frau Lüke nickt. Sie sagt: »Ich möchte dir gerne erklären, was da in deinem Körper abläuft. Ist das okay?«

Auf jeden Fall. Ich bin froh, wenn ich endlich ein paar Antworten auf meine vielen Fragen erhalte.

»Die Sache ist die«, beginnt Frau Lüke. »Im Grunde genommen will uns unser Körper vor so einer Extremsituation schützen. Deshalb können wir uns an so ein Ereignis viel besser erinnern. Es wird ganz anders abgespeichert als zum Beispiel ein Familienfest oder ein Ausflug. Die Erinnerung ist praktisch ein Schutzmechanismus deines Körpers.«

Das verstehe ich. Trotzdem möchte ich nicht ständig diese Flashbacks haben. Und schon gar nicht am Abend, vor dem Zubettgehen. Frau Lüke hat einen Tipp parat, was ich dagegen tun kann.

»Stell dir vor, du bist in einem Kino. Dort gibt es eine richtig große Leinwand. Kannst du sie sehen? Gut. Wenn nun diese Bilder auftauchen, bringst du sie auf diese Leinwand. Und dann – das ist der Trick dabei – holst du dir diese Leinwand immer näher. Dadurch wird die Erinnerung verstärkt. Irgendwann ist sie größer als der Flashback. Dann kannst du die Erinnerung kontrollieren und die Flashbacks werden abnehmen.«

Das klingt nicht ganz so leicht. Aber es hat auch niemand behauptet, dass die Therapie einfach werden wird. Und mir wird klar, dass ich die Flashbacks nicht von heute auf morgen verlieren werde. Dass es richtige Arbeit sein wird. Aber ich bin dazu bereit.

Meine Mutter sitzt mit im Zimmer. »Ich habe auch eine Frage«, sagt sie. »Jenny rührt ihre Chemiesachen nicht mehr an. Sie hat Angst, das Heft sei blutverspritzt.«

Das stimmt. Bisher habe ich einen weiten Bogen um meine Sachen gemacht. Frau Lüke hat eine ganz praktische Lösung parat.

»Am besten, Sie kopieren das Heft«, sagt sie zu meiner Mutter. »Dann hat Jenny alle Aufzeichnungen wieder und weiß trotzdem, was mit dem Heft passiert ist, ohne es berühren zu müssen.«

Das klingt nach einer guten Idee. Deshalb rücke ich gleich mit noch einer Sache heraus, die mir auf der Seele lastet.

»Die Tür zum Chemieraum«, sage ich. Ich muss mich zusammenreißen, um die Frage formulieren zu können. »Die Einschusslöcher. Ich meine, er hat da durchgeschossen. Er hat durchgeschossen und Frau Schüle getroffen. Ich weiß aber nicht, ob die Einschusslöcher da sind. Das ist ganz furchtbar, weil ich weiß, dass er durchgeschossen hat.«

Frau Lüke meint, das kann sie gut verstehen. Und dass ich mir dessen sicher sein muss. Sie rät mir, Fotos zu besorgen. Sicherlich hat jemand die Tür fotografiert.

»Hol dir die Fotos und schau sie dir an«, sagt sie. »Besser noch, bring sie mit.«

Dann wendet sie sich an meine Mutter. »Wie geht es eigentlich Ihnen bei alldem?«, will sie wissen. Meine Mutter berichtet, wie sehr sie an diesem Tag Angst hatte und wie sehr sie noch immer Angst hat. Es ist auch für sie das erste Mal, dass sie so frei davon erzählen kann. Als die Stunde zu Ende geht, haben wir beide ein gutes Gefühl. Leider wird es fast vierzehn Tage dauern, bis wir wieder kommen dürfen. In dieser Nacht schlafe ich besser. Jedenfalls kann ich mich am nächsten Morgen an keinen Albtraum erinnern.

Die nächsten Wochen fühlen sich fast normal an. Ich gehe mit meinen Eltern einkaufen, ich mache beim Schultriathlon mit. Wenn ich das Wunnebad betrete, muss ich nicht dauernd an den 11. März denken. Ich spiele Tennis und gehe in den Klettergarten nach Rutesheim. Da traue ich mich sogar über einige Stellen drüber, die mir alles andere als geheuer sind. An diesem Abend schaue ich wie üblich noch ins SchülerVZ. Auf der Pinnwand von Melissa finde ich eine Nachricht von Kathleen. Sie kündigt an, dass sie demnächst ganz überraschend in unser Klassenzimmer stürmen will. Sofort stellt sich bei mir Angst ein. Ich alarmiere meine Mutter und ihr geht es wie mir. Auch wenn das vielleicht bloß ein dummer Scherz sein soll, können wir überhaupt nicht darüber lachen. Ganz im Gegenteil. Ich merke, wie dünn die Schutzschicht ist, die ich mir in den letzten Wochen zugelegt habe. Ein blöder Spruch genügt und alles ist wieder auf Anfang. Meine Mutter versucht, bei unserem Klassenlehrer Herrn Frieling anzurufen. Leider ist er nicht zu Hause.

»Ich kann langsam nicht mehr«, sagt meine Mutter. »Ich rufe noch die Polizei an. Ich habe solche Angst um dich.«