Wir machten viel Aufhebens darum, die Anweisungen des Inspektors beherzigen zu wollen, stillzuhalten und die Räuber der Polizei zu überlassen. Als wir uns am Dienstagabend nach dem Essen voneinander verabschiedeten, hatten wir ihm alle versichert, dass wir überhaupt nicht die Absicht hätten, uns in die Nähe der Docks oder der Personen zu begeben, von deren Verwicklung in die Verschwörung wir wussten.
Am Freitag kümmerten wir uns dann auch wirklich brav um unsere Angelegenheiten. Lady Hardcastle und ich gingen zum Beispiel ein bisschen einkaufen – ein paar Besorgungen hier und da über die Stadt verteilt.
Erst am Samstag begannen wir, die Anweisungen des Inspektors zu missachten. In Lady Bickles Haus fand ein Strategietreffen statt, dem Lady Hardcastle vorsaß und in dem wir vier Frauen unseren Ungehorsam gegenseitig anfachten.
»Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich den Raub selbst nicht versuchen will zu vereiteln«, sagte Lady Hardcastle, als wir uns alle auf ein Vorgehen für Montagmorgen geeinigt hatten, »aber Dutzende von Polizisten werden sich am Hafen aufhalten, also sind wir nicht allein. Und was mich angeht, so möchte ich auf keinen Fall den aufregenden Teil verpassen – nicht nachdem wir alle so viel Arbeit in den langweiligen Kram gesteckt haben.«
Wir gaben Lady Bickle und Miss Caudle jeweils ein Päckchen von unserer Einkaufstour am Freitag und einigten uns darauf, uns um sechs Uhr am Montagmorgen wieder am Berkeley Crescent zu treffen.
Den Sonntag verbrachten wir mit Sonntagsdingen (das heißt mit nicht sehr viel) und standen am Montag furchtbar früh auf, um noch bei Dunkelheit nach Clifton hinauszufahren.
Zu dieser frühen Stunde ließ Lady Bickle uns selbst herein, und wir trotteten ihr hinterher in den Salon, wo wir auf Miss Caudle warteten. Als diese dann auftauchte, verbrachten wir eine unterhaltsame Viertelstunde damit, uns umzuziehen und uns für den Tag fertig zu machen, der vor uns lag.
Damit wir uns relativ unauffällig auf dem Hafengelände bewegen konnten, hatten Lady Hardcastle und ich die Maße von allen genommen und ein paar erforderliche Kleidungsstücke in verschiedenen Bristoler Geschäften gekauft. Wir hatten vier Arbeitsoveralls, vier Paar schwere Arbeitsschuhe, vier schwere Jacken und vier Arbeitsmützen in verschiedener Ausführung gekauft. Als wir endlich angemessen eingekleidet waren, bestand meine Aufgabe darin – als die Einzige, die tatsächlich wusste, was sie tat – , das Haar der anderen drei Frauen so zusammenzubinden, dass es unter den voluminösen Mützen versteckt werden konnte. Mein eigenes Haar wurde einigermaßen fachgerecht von Miss Caudle unter meine Kappe gestopft.
»So«, sagte Lady Hardcastle, als wir fertig waren. »Ich denke, so halten wir einer Begutachtung stand. Wenigstens aus einer gewissen Entfernung.«
»Solange uns niemand aus Lady Bs Rolls purzeln sieht«, fügte Miss Caudle hinzu. »Nicht viele Hafenarbeiter fahren wohl in einem Rolls-Royce Silver Ghost mit Chauffeur zur Arbeit.«
»Tatsächlich werde ich selbst fahren«, sagte Lady Bickle.
»Ach, na dann ist es natürlich ganz was anderes. Sie könnten ihn ja beim Pubquiz gewonnen haben.«
Lady Bickle streckte ihr die Zunge heraus.
»Wir stellen ihn außer Sichtweite zwischen den Bäumen ab und gehen die letzte Meile zu Fuß«, erklärte Lady Hardcastle. »Niemand wird den Rolls zu Gesicht bekommen.«
»Eine Meile in neuen Schuhen?«, rief Miss Caudle. »Sie sind wirklich tapferer, als ich Sie eingeschätzt habe.«
»Die Strecke könnte durchaus weiter sein. Ich weiß nämlich nicht, wo das Schiff anlegt oder wo die Zollabfertigung stattfindet. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal, ob das Schiff wie vorgesehen gestern Abend angekommen ist.«
»Gestern Abend?«, fragte Lady Bickle. »Alle haben doch behauptet, es würde heute ankommen.«
»Heute legt es an«, erklärte Lady Hardcastle, »aber es muss auf die Flut warten. Wenn alles gut gegangen ist, sind sie in der Nacht eingetroffen und in der Mitte der Mündung vor Anker gegangen. Sobald die Flut kommt, können sie in den Hafen einfahren.«
»Und wann kommt heute die Flut?«, fragte Miss Caudle.
»Kurz vor Mittag.«
»Dann sollten wir uns besser beeilen, wenn wir die Gegend noch auskundschaften und auf unserem Posten sein wollen, um den Spaß am Mittag mitanzusehen«, sagte Lady Bickle.
Wir setzten das Durcheinander des Tages fort, indem sich die Ladys Bickle und Hardcastle nach vorn in den Rolls- Royce setzten, während Miss Caudle und ich uns auf den vergleichsweise warmen und bequemen geschützten Rücksitzen entspannten. Wir bemerkten ein bisschen Gezänk auf den Vordersitzen, begleitet von einer gewissen Menge Deuten und Gestikulieren, aber zum Großteil verlief die Fahrt ruhig und friedlich.
Wir kamen am Dorf Shirehampton vorbei und entfernten uns dann von den Docks in Richtung eines Wäldchens ganz in der Nähe. Wie angekündigt parkten wir hier das Automobil im Schutz einer Baumgruppe und setzten unseren Weg zu Fuß fort.
Wir schienen mitten in einer Schicht eingetroffen zu sein, denn nur sehr wenige Männer liefen herum. Unsere erste Station waren die Hütten, wo Lady Hardcastle und ich den Kutscher bei der Ablieferung der Pakete beobachtet hatten. Genau wie vor einigen Tagen war auch diesmal kein Lebenszeichen in den beiden verrammelten Hütten wahrzunehmen, und wir näherten uns vorsichtig der dritten.
»Wer will mal einen Blick hineinwerfen?«, fragte Lady Hardcastle.
Lady Bickle und Miss Caudle hoben beide wie eifrige Schulkinder die Hand.
»Flo, wärst du so nett?«, sagte sie.
»Natürlich. Hier entlang, meine Damen. Seien Sie ruhig, und halten Sie sich von den Fenstern fern, bis ich sage, dass die Luft rein ist. Falls uns irgendjemand angreift, treten Sie hinter mich, und fliehen Sie – ich halte die Angreifer in Schach.«
»Womit denn?«, fragte Miss Caudle.
»Ich diskutiere sie in Grund und Boden.«
»Also keine Faustschläge?« Lady Bickle klang ein bisschen enttäuscht.
»Doch, natürlich, Mylady. Wenn Argumente nicht mehr helfen, kann ein schneller Tritt zwischen die Beine ziemlich überzeugend sein.«
»Ich denke nicht, dass Sie mich Mylady nennen sollten, solange wir maskiert sind. Ich glaube, meine Rolle ist mehr die eines Bill.«
Ich rollte mit den Augen, sagte aber nichts. Miss Caudle gelang es hingegen nicht, ein Kichern zu unterdrücken.
Ich näherte mich der Hütte so natürlich und lässig, wie es mir mit den beiden Möchtegern-Spioninnen im Schlepptau eben möglich war, die mir wie zwei pantomimische Bösewichter hinterherschlichen. Ich warf einen Blick zurück und sah Lady Hardcastle lachen. Dann winkte sie mich voran.
Ich leistete meiner eigenen Aufforderung Folge, mich von den Fenstern fernzuhalten, duckte mich und schlich auf die Rückseite der Hütte, wo die lächerlich unzulänglichen Versuche meiner Begleiterinnen, sich unauffällig zu verhalten, weniger Misstrauen erregen würden. Und weniger spöttisches Gelächter.
Ich hielt unter einem Fenster an, das ich für das Küchenfenster hielt, und schob mich langsam hoch, sodass ich einen Blick nach drinnen werfen konnte. Ich hätte mich beinahe zu Tode erschrocken, als ich in ein Gesicht blickte, das mich gleichmütig anblickte, dann rollte ich mit den Augen und schnalzte missbilligend mit der Zunge, als mir klar wurde, dass es Inspektor Sunderland gehörte.
Ich richtete mich auf und bedeutete den beiden anderen, sie mögen dasselbe tun. Er trat aus der Hintertür der Hütte.
»Was treiben Sie Idiotenparade denn hier?«, fragte er. »Waren meine Anweisungen, sich fernzuhalten, etwa nicht deutlich genug?«
Lady Bickle und Miss Caudle fingen beide sofort an zu sprechen. Während er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, ging ich zur Vorderseite der Hütte und gab Lady Hardcastle ein Zeichen.
»Guten Morgen, Inspektor«, sagte sie, als sie sich näherte. »Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen.«
»Zufall«, entgegnete er. »Von Ihren Begleiterinnen habe ich erfahren, dass Sie alle hier auf einer Art fröhlicher Landpartie sind.«
»Ach, Sie wissen ja, wie das ist«, erwiderte sie unbekümmert. »Wir wollten nicht einfach nur dasitzen, wenn wir genauso gut Spaß am Meer haben können.«
»Sie meinen an der Mündung. Und doch, Dasitzen wäre die passende Beschäftigung für Sie alle. Sie haben dahingehend schließlich meine ausdrückliche Anweisung.«
»Wir wären Ihnen schon nicht in die Quere gekommen – wir wussten doch, dass Sie und Ihre Kollegen alles im Griff haben. Aber wie oft kann man schon mit eigenen Augen mitansehen, wie der Diebstahl von Gold im Wert von einer Million Pfund verhindert wird? Wir wollten uns das alles aus sicherer Entfernung anschauen.«
»Sie hätten alles ruinieren können – alles auffliegen lassen.«
»Haben wir aber nicht, oder? Niemand würde doch je vermuten, dass es hier nur so von Polizisten wimmelt. Sie haben eine sehr gute Mannschaft.«
»Sie sind unsichtbar, das stimmt schon. Aber nicht aus dem Grund, den Sie vermuten. Sie können meine Männer nicht sehen, weil sie alle in Bristol sind und ihren üblichen Pflichten nachgehen.«
»Was?«, riefen wir alle wie aus einem Mund.
»Mir wurde gesagt, dass niemand abkömmlich sei, nur auf das Wort einer Handvoll Wichtigtuer hin, und dass ich mich darauf konzentrieren solle, richtige Schurken zu schnappen, statt meine Zeit mit eingebildeten Verschwörungen zu verschwenden.«
»Und trotzdem sind Sie hier«, sagte Lady Hardcastle.
»Und Sie auch«, erwiderte er. »Um ehrlich zu sein, bin ich verdammt froh, Sie hier zu sehen.«
»Wie können wir helfen?«, fragte Lady Bickle.
»Ah. Was ich gemeint habe, war, dass ich froh bin, dass Lady Hardcastle und Miss Armstrong hier sind. Natürlich freue ich mich auch darüber, Sie zu sehen, aber diese beiden haben Fähigkeiten, die ich mir zunutze machen kann.«
»Ach, papperlapapp!«, rief Lady Bickle. »Miss Caudle und ich haben vollkommen brauchbare Augen – wir können genauso gut beobachten wie irgendwelche speziell dafür ausgebildeten Agentinnen der Krone. Nehmen Sie mir’s nicht übel, meine Liebe. Und sehen Sie – wir haben uns alle in Schale geworfen und haben nichts Besseres vor.«
Der Inspektor dachte einen Moment nach und sagte schließlich: »Na gut. Kommen Sie rein, dann erkläre ich Ihnen, was ich vorhabe.«
»Kommen die denn nicht vielleicht zurück?«, fragte Miss Caudle.
»Nein, die sind schon lange weg. Was sollen sie hier weiter herumlungern, wenn ihre Aufgabe erledigt ist.«
Wir folgten ihm also in die verlassene Hütte. Stansbridges Leute waren gut. Obwohl wir ja wussten, dass wenigstens zwei von ihnen die Hütte als Unterschlupf genutzt hatten, gab es absolut kein Anzeichen dafür, dass in den letzten Jahren jemand hier gewesen war.
»Im Morgengrauen«, begann der Inspektor, »ist unser alter Freund James Stansbridge …«
»Der ehrlose Jimmy«, unterbrach ihn Lady Bickle.
»Oder der … Er ist also mit einer Bierkutsche mit einer großen Kiste darauf hier angekommen. Die beiden Männer, die sich hier drin die letzten paar Tage über versteckt gehalten haben, sind rausgekommen, um ihm zu helfen, und zusammen haben sie die Kiste über ein paar Bretter auf die Straße gerollt. Sie stand nämlich schon auf einem Rollwagen, und nach dem Theater zu urteilen, das sie veranstaltet haben, war sie auch sehr schwer.«
»Ungefähr sieben Zentner?«, mutmaßte Lady Hardcastle.
»Das hätte ich auch geschätzt. Der Wagen verschwand wieder, und die drei Männer gingen hier herein. Als sie wieder auftauchten, waren sie als Zollbeamte verkleidet. Sie schoben den Rollwagen weg, und seitdem habe ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich wollte nicht riskieren, entdeckt zu werden, indem ich ihnen folgte, aber ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wohin sie unterwegs waren.«
»Wahrscheinlich zur Zollabfertigung«, sagte Miss Caudle.
»Wo die richtigen Zollbeamten großzügig geschmiert worden sind, damit sie diese Fremden übersehen und möglicherweise zu einer verabredeten Zeit ganz verschwinden. Wenn ihnen dann irgendwann aufgeht, dass sie Teil des größten Goldraubs des Jahres gewesen sind, werden sie zu viel Angst haben, um irgendetwas auszusagen.«
»Was sollen wir also tun?«, fragte ich.
»Das chilenische Schiff ist heute Morgen ungefähr um drei Uhr angekommen und liegt nun im tiefen Wasser mitten in der Mündung vor Anker. Wegen seiner speziellen Fracht soll es in einigen Stunden, sobald das Wasser hoch genug steht, am Ankerplatz anlegen, der der Zollstelle am nächsten liegt. Ich hätte gern, dass wir so diskret wie möglich um den Zollschuppen herum Stellung beziehen, sodass wir im Auge behalten können, was genau dort geschieht. Wenn es uns gelingt zu beobachten, wie sie die Ladung austauschen und was sie mit der Beute anstellen, kann ich vielleicht irgendwen dazu bewegen, das alles hier ernst zu nehmen und eine Durchsuchung anzuordnen.«
Dann erklärte er uns genau, was ihm vorschwebte.
Der Zollschuppen bildete einen Durchgang zwischen den Kais auf der einen Seite des stabilen Maschendrahtzauns und England auf der anderen. Es war möglich, die verschiedenen untereinander verbundenen Lagerhäuser von der Kaiseite aus zu betreten, ohne am Zoll vorbeizumüssen, aber alles, was importiert werden sollte, musste den Schuppen passieren, wo die Ware inspiziert wurde.
Das chilenische Schiff wurde von einem Schlepper auf der Seeseite des Zaunes gegen das Dock geschubst, und Seeleute machten sich bereit, es mit Tauen so dick wie Männerbeine festzubinden. In der Zwischenzeit wurde auf den Gleisen, die zu einem Bahnsteig neben dem Schuppen führten, von einer Rangierlok ein Waggon in Position geschoben.
Den Anweisungen des Inspektors folgend, hatten wir uns in zwei Gruppen aufgeteilt, jede davon mit einer gut ausgebildeten Spionin. Ich bezog zusammen mit Inspektor Sunderland und Dinah Caudle Position neben dem Eisenbahnwaggon. Lady Hardcastle war für Lady Bickles Sicherheit verantwortlich, während sie gemeinsam die Gleise überquerten, um sich auf der anderen Seite auf die Lauer zu legen. Zusammen sollten wir alles überblicken können, was in den Zollschuppen hineinkam und ihn dann wieder verließ.
Als der Waggon an Ort und Stelle war, tauchte eine achtköpfige Gruppe Männer in dunkelgrauen Militäruniformen auf und postierte sich darauf und drum herum. Sie waren auf unterschiedliche Weise mit Gewehren, Pistolen und sogar einer abgesägten Schrotflinte bewaffnet: Bei ihnen handelte es sich um die Wachen, die die Maschinenbaufirmen angeheuert hatten, um ihre Bezahlung zu sichern.
Die Entladung des Schiffes begann beinahe umgehend, und das erste Frachtstück, das von einem der massiven elektrischen Kräne von Deck gehievt wurde, war eine Palette mit acht eher kleinen Holzkisten. Sie wurde auf einen wartenden Rollwagen geladen und sofort von sechs Soldaten entgegengenommen. Zwei Hafenarbeiter schoben dann den Rollwagen in den Schuppen, wo er zusammen mit den bewaffneten Wachen aus dem Blickfeld verschwand. Inzwischen wurde eine kleine Lok an den wartenden Waggon gekoppelt.
»Also«, sagte der Inspektor, »jetzt ist es drinnen. Nun müssen wir nur abwarten und sehen, ob …«
Er wurde von der lautesten Explosion unterbrochen, die ich jemals gehört hatte. Der Boden schien zu beben, während sich alle Augen dem apokalyptischen Lärm zuwandten. Einige Sekunden später traf uns eine Welle unangenehm heißer Luft. Helle orangefarbene Flammen züngelten von einem Schuppen einige Hundert Meter entfernt in den Himmel, und Männer begannen aus sämtlichen Richtungen dorthin zu eilen.
Dann erfolgte ein weiterer kolossaler Knall.
Die Wachen stellten sich auf den Güterwaggon, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen.
»Sieht wie das Lampenöllager aus«, rief einer.
»Wenn es das ist, gibt’s gleich noch weitere Explosionen«, rief ein Zweiter.
Und er hatte recht. Zwei weitere Knalle dröhnten in den Himmel.
Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein, Männer rannten und brüllten und versuchten, ihre Bemühungen zu koordinieren, das Feuer unter Kontrolle zu bringen und den Schaden zu minimieren.
Ein weiterer riesengroßer Knall lockte irgendwann sogar die Zollbeamten aus ihrem Schuppen. Alle außer die Wachen beim Gold rannten nun in Richtung Feuer. Alle außer die Goldwachen sowie zwei Zollbeamte, die aus einem Lagerbereich neben der Zollstelle aufgetaucht waren. Sie betraten den Schuppen und tauchten ein paar Minuten später mit dem Goldwagen wieder auf.
Die Wachen halfen den Zollbeamten dabei, das Gold über die flache Rampe vom Bahnsteig auf den Waggon zu ziehen. Einer der Wächter öffnete den Deckel einer der Kisten und warf einen kurzen Blick hinein, um sich zu versichern, dass sie tatsächlich das Gold enthielt. Dasselbe tat er mit einer weiteren Kiste und gab dann, ganz offenbar beruhigt, dass sie hatten, was sie zu holen beauftragt waren, das Zeichen zum Aufbruch. Die Lok erwachte schnaufend zum Leben, während die übrigen bewaffneten Wachen auf ihre Posten auf dem Waggon kletterten.
Innerhalb weniger Augenblicke war der Zug mit dem einzelnen Waggon verschwunden und ließ das Chaos – und einen drohenden Raub – hinter sich.
Wir beobachteten den Zollschuppen, aber sonst passierte nichts.
»Wenn wir recht haben«, sagte der Inspektor, »und dieser Zug gerade mit dem falschen Gold davongedampft ist, was ist dann mit dem …«
»He!«, schrie eine Stimme hinter uns. »Was steht ihr Männer da rum? Könnt ihr nicht sehen, dass es brennt? Ab auf eure Posten. Ihr wisst, was zu tun ist.«
Der Sprecher blieb nicht stehen, um sicherzugehen, dass wir gehorchten, aber anscheinend würden wir noch weitere ungewollte Aufmerksamkeit auf uns ziehen, wenn wir weiter hierblieben, also bewegten wir uns widerwillig in Richtung des brennenden Ölschuppens.
Wir trafen auf Lady Hardcastle.
»Hallo zusammen«, sagte sie. »Hier ist ja was los, nicht wahr?«
»Stimmt«, erwiderte ich. »Wir glauben beobachtet zu haben, wie das falsche Gold auf den Zug verladen worden ist, aber wir mussten uns verziehen und wissen deshalb nicht, was mit dem echten Gold passiert ist.«
»Keine Sorge, das finden wir schon heraus.«
»Ich hoffe, dass Sie recht haben«, entgegnete der Inspektor. »Langsam sieht es nämlich so aus, als könnten die mit ihrem Plan Erfolg haben.«
»Wo ist Lady B?«, fragte Miss Caudle. »Kann ich mich nicht mit ihr zusammen zurückschleichen und den Zollschuppen im Auge behalten?«
»Sie hat sich gerade ein stilles Örtchen gesucht«, erklärte Lady Hardcastle. »Der Ruf der Natur.«
»Eigentlich«, überlegte Miss Caudle, »ist das keine schlechte Idee. Wo ist sie hin?«
Lady Hardcastle zeigte auf zwei Schuppen mit einem schmalen Durchgang dazwischen. »Da lang ist sie verschwunden. Sah für sie nach der perfekten Stelle aus.«
»Da hat sie nicht unrecht«, bestätigte Miss Caudle. »Bin in einer Minute wieder hier.«
»Haben Sie irgendwas beobachtet?«, fragte ich Lady Hardcastle. »Vom Diebstahl«, fügte ich rasch hinzu, als ich ein Glitzern in ihren Augen sah und wusste, dass sie gleich einen Witz über Lady Bickles Klogang machen würde, wenn ich sie nicht davon abhielte.
»Nicht mehr als ihr, glaube ich«, erwiderte sie noch immer grinsend. »Das Gold wurde hinein- und wieder herausgeschoben. Oder auch nicht. Aber mir ging es nicht anders als allen anderen auch: Meine Aufmerksamkeit war ein wenig durch das Öllager abgelenkt, das in Flammen aufgegangen ist. Man könnte fast meinen, es wäre Absicht gewesen.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass es Absicht war«, schaltete sich der Inspektor ein. »Der Zeitpunkt war perfekt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Explosionen voraussehen konnten, aber auch ein Feueralarm hätte in diesem Moment schon ausgereicht.«
»Das bedeutet, dass unsere alte Freundin Beattie Challenger sich hier irgendwo rumtreibt«, sagte ich. »Wir sollten die Augen offen halten.«
Miss Caudle kehrte zurück.
»Schon viel besser«, sagte sie. »Aber von Lady Bickle gab es da keine Spur. Sind Sie sicher, dass sie dorthin gegangen ist?«
»Ganz sicher«, erwiderte Lady Hardcastle und begann sich umzusehen. »Wo zum Teufel steckt sie?«
»Vielleicht wollte sie sich den Brand aus der Nähe ansehen?«, mutmaßte Miss Caudle.
»Vielleicht. Vielleicht. Wir sollten sie suchen. Ich bin zwar sicher, dass sie auf sich selbst aufpassen kann, aber wir sollten zusammenbleiben.« Sie zeigte auf Inspektor Sunderland und mich. »Ihr zwei geht da entlang, Miss Caudle und ich nehmen diesen Weg. Wir treffen uns dann auf der anderen Seite des Ölschuppens wieder.«
»Irgendeine Spur von ihr?«, fragte Lady Hardcastle, als wir uns auf der anderen Seite des Schuppens wieder zu ihr gesellten.
»Überhaupt keine«, erwiderte der Inspektor. »Es herrscht zwar ein ziemliches Durcheinander, was die Sache unübersichtlich macht, aber sie sollte eigentlich leicht zu entdecken sein – Sie tragen ja alle diese gleichen Jacken.«
»Wir hatten leider keine Zeit, eine breitere Auswahl zu besorgen«, entgegnete Lady Hardcastle. »Wir mussten nehmen, was wir bekommen konnten. Die hier waren die einzigen, die unförmig genug waren, um zu verbergen, dass …«
Der Inspektor hob die Hand. »Ich weiß, was Sie verbergen wollten. Aber die Jacken führen dazu, dass Sie in einer Menschenmenge sehr leicht zu entdecken sind. Und wir haben Lady Bickle definitiv nicht entdeckt.«
»Irgendeine Spur von Miss Challenger?«, fragte ich.
»Nein, sie ist wahrscheinlich über alle Berge«, antwortete Lady Hardcastle.
»Sie glauben doch nicht, dass sie …«, schaltete sich Miss Caudle ein.
»Dass sie sich Georgie geschnappt und sich dann aus dem Staub gemacht hat?«, beendete ich ihren Gedanken.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Lady Hardcastle. »Mein lieber Inspektor, darf ich Miss Caudle in Ihrer liebevollen Obhut zurücklassen? Ich denke, Sie beide sollten hierbleiben, für den Fall, dass sie wieder auftaucht. Dabei können Sie auch die Zollstelle im Auge behalten. Flo und ich fahren solange zurück in die Stadt. Miss Challenger hat einen ordentlichen Vorsprung, aber Georgies Rolls-Royce ist ziemlich schnell. Sie sollte uns noch nicht allzu weit abgehängt haben.«
»Das Automobil steht eine Meile von hier«, gab ich zu bedenken.
»Ja, aber worin auch immer sie hergekommen ist, wird auch irgendwo außerhalb des Hafengeländes abgestellt worden sein. Wir haben denselben Nachteil wie sie. Komm schon. Beeilung.«
Unbeholfenen Schritts stapfte sie in ihren derben Arbeitsschuhen los. Ich sah zu den anderen, zuckte mit den Schultern und folgte ihr.
Zehn Minuten später erreichten wir das Wäldchen, wo wir den Rolls-Royce geparkt hatten. Lady Hardcastle schnaufte wie eine Dampflok, also schlug ich ihr vor, sie solle sich schon mal auf den Fahrersitz setzen, während ich den Motor ankurbelte. Dann brausten wir mit beachtlicher Geschwindigkeit Richtung Bristol.
»Ich weiß, dass wir dadurch noch mehr Zeit verlieren«, sagte Lady Hardcastle, als sie wieder zu Atem gekommen war, »aber wir müssen bei Georgies Haus Halt machen, bevor wir irgendetwas anderes tun. Vielleicht müssen wir die Gangsterbosse in ihren Büros aufsuchen, aber in diesem Aufzug kommen wir nicht mal in ihre Nähe. Wir müssen uns umziehen.«
»Stimmt«, entgegnete ich. »Obwohl unser nächster Halt danach Miss Challengers Wohnung sein sollte. Wenn sie in Panik geraten ist und Lady Bickle aus irgendeinem Grund als Geisel hält, wird sie sie dorthin bringen. Sie wird irgendwo sein wollen, wo sie sich sicher fühlt und den Eindruck hat, die Dinge unter Kontrolle zu haben.«
»Stimmt. Aber wenn sich das als Sackgasse herausstellt, besuchen wir Hinkley und Morefield. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in einer Krisensituation Crane aufsuchen würde, also ist er unsere allerletzte Option.«
Dann schnurrten wir die Straße entlang. Unsere plötzliche, beinahe lautlose Annäherung erschreckte ein oder zwei Pferde, aber ich fühlte mich so sicher, wie ich mich mit Lady Hardcastle am Steuer vorher noch nie gefühlt hatte. Wir brauchten unbedingt ein besseres Auto.
Unterwegs entdeckten wir keine Spur von Beatrice Challenger, aber wir hatten ja auch keine rechte Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollten, außerdem hätte sie auch einen anderen Weg nehmen können. Der Heimweg kommt einem üblicherweise viel schneller vor als der Hinweg, aber diesmal war es anders. Es schien eine Ewigkeit bis nach Clifton zu dauern, und ich befürchtete schon, dass wir vielleicht die falsche Entscheidung getroffen hatten, uns umzuziehen, bevor wir Beattie Challenger und – so vermuteten wir noch immer – ihrer Geisel nachjagten.
Williams ließ uns ohne jeden Widerspruch eintreten, und wir zogen uns im Salon um. Gerade eilten wir wieder nach draußen, als wir beinahe mit Sir Benjamin zusammengestoßen wären, der aus dem Krankenhaus heimkam.
»Hallo zusammen«, sagte er freundlich. »Ich dachte, Sie wären mit Georgie unterwegs, aber als ich den Rolls draußen habe stehen sehen … Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens, mein Lieber«, erwiderte Lady Hardcastle und flitzte an ihm vorbei. »Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Georgie wird Ihnen alles erzählen, wenn sie zurückkommt.«
»Zurückkommt?«, fragte er. »Wo ist sie denn?«
»Keine Zeit. Müssen uns beeilen. Erzählen Ihnen später alles.«
Ich lächelte ihn entschuldigend an und folgte ihr nach draußen zum Automobil.
Erneut entfernten wir uns in einer beträchtlichen Geschwindigkeit und rasten durch die Straßen von Redland zu Miss Challengers Wohnung. Wir parkten direkt vor dem Tor, stürzten gemeinsam hindurch und achteten dabei gar nicht auf das Quietschen der Angeln.
Lady Hardcastle probierte die Haustür, aber sie war verschlossen. Sie klingelte und begann dann, mit dem Türklopfer dagegenzuhämmern.
»Wenn Sie mich einfach kurz …«, sagte ich und griff nach dem Dietrich in meiner Brosche.
Da öffnete sich die Tür, und vor uns stand eine sehr streng wirkende Haushälterin.
»Warum zur Hölle veranstalten Sie hier so einen Lärm?«, fragte sie.
Lady Hardcastle stieß sie fest gegen die Brust, sodass sie rückwärts in den Flur zurückstolperte.
»Wir haben keine Zeit für Ihren Unsinn. Gehen Sie aus dem Weg.«
»Also, bei allem …«, stotterte die Haushälterin, aber wir waren fast schon die Treppe hochgestürmt.
Lady Hardcastle zeigte auf die Türen und zuckte mit den Schultern. Ich deutete auf die Schlafzimmertür, das hielt ich für den wahrscheinlichsten Ort, um eine Geisel festzuhalten. Das Überraschungsmoment hatten wir verspielt – bei all dem Tohuwabohu, das wir bei unserer Ankunft veranstaltet hatten – , aber in einem plötzlichen, energischen Eintreten liegt noch immer ein Schockmoment. Lady Hardcastle stieß also die Tür auf und rannte mit einem Schrei in Miss Challengers Schlafzimmer. Ich folgte dicht hinter ihr.
Wir stoppten beide abrupt, als wir den Revolver sahen. Er lag unruhig in Miss Challengers nervösen Händen, aber sie hielt ihn ganz unzweifelhaft auf uns gerichtet.
»Ich hätte mir denken können, dass Sie beide das sind. Sie halten sich für ach so klug mit Ihren Amateurermittlungen und Ihrem Codeknacken. Aber jetzt sind Sie gescheitert, nicht wahr? Hände hinter den Kopf, und keine Bewegung. Ich habe anderes zu tun.«
Auf dem Boden lag Lady Bickle, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Ihr steckte ein Stoffknebel im Mund. Wie wir selbst hatte auch sie sich umgezogen und trug inzwischen ein weißes Kleid und weiße Schuhe. Im Gegensatz zu uns passten ihr ihre Sachen jedoch nicht mal annähernd. Das Kleid war viel zu weit und viel zu kurz, und ihre Fersen ragten über die Schuhe mit dem Gänseblümchenmuster.
Während sie mit der Waffe grob in unsere Richtung zielte, goss Miss Challenger mit der freien Hand Paraffin aus einer Flasche auf Lady Bickles liegende Gestalt. Dann besprengte sie noch das Bett, den Teppich und die Vorhänge.
»Selbst wenn sie herausfinden, dass ich es gewesen bin«, sagte sie dann, »wird Beattie Challenger tot sein. Verbrutzelt in den Überresten ihrer Wohnung. Hatte wahrscheinlich einen Unfall mit ihrem Paraffin und den Streichhölzern, werden sie sagen. Sie hat ja schon immer gern gezündelt. Armes, verblendetes Geschöpf. Was? Sie sehen überrascht aus. Sie wussten nicht über meine Feuer Bescheid, oder? Ich bin ziemlich gut darin. Ich liebe Feuer. Ein passendes Ende für Brandstifter-Beattie.«
»Glauben Sie nicht, dass man bemerken wird, dass die Leiche fünfzehn Zentimeter größer als Sie ist?«, fragte ich und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Oder dass sie an Händen und Füßen gefesselt ist? Und was ist mit den anderen beiden Leichen? Wer sollen die denn sein?«
»Immer so klug. Haben immer was zu sagen. Sie haben nie Ihren Platz gekannt, oder …?«
Obwohl ich auf ihn gefasst war, war der Schuss auch für mich nicht weniger erschreckend. Während Miss Challenger sich auf mich konzentriert hatte, hatte sich Lady Hardcastle an dem Hut zu schaffen gemacht, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte – der Sonderanfertigung mit dem Geheimfach in der überdimensionierten Krone, in der eine Deringer Platz hatte.
Lady Hardcastle – schon immer eine Meisterschützin – hatte Miss Challenger am Arm mit der Waffe erwischt, direkt unterhalb des Ellbogens. Vor Schreck hatte Miss Challenger ihren Revolver fallen lassen. Mehr brauchte ich nicht. Ein Tritt hier, ein Schlag dort, ein Ellbogen, wo er am meisten nutzte. Nach einer letzten Drehung und einer raschen Bewegung lag Beattie Challenger bewusstlos am Boden.
»Lieg doch nicht einfach nur so rum, Georgie«, sagte Lady Hardcastle. »Wir müssen dich aus den nassen Kleidern rauskriegen. Flo, Liebes, könntest du mal nach unten gehen und bei der Vermieterin fragen, wo es hier ein Telefon gibt? Ich denke, wir brauchen ein bisschen Hilfe von offizieller Seite.«
Ich behielt Beattie Challenger im Auge, um sicherzustellen, dass sie nicht wieder zu sich kam, bevor Lady Hardcastle sie gefesselt hatte, dann verließ ich das Zimmer und suchte die Vermieterin. Am oberen Ende der Treppe drehte ich mich um, und mein letzter bewusster Gedanke, bevor ich hinunterfiel, war: Nach allen Abenteuern und Prüfungen, die wir bestanden haben, erledigt mich eine fette, getigerte Katze. Ich hasse die verdammten Viecher.