18

Benommen und voller Schmerzen, wachte ich in einem mir nicht vertrauten – aber herrlich bequemen – Bett wieder auf. Das war überhaupt nicht, was ich erwartet hatte. Bei meinem Sturz hatte ein Teil von mir daran gezweifelt, überhaupt jemals wieder aufzuwachen, und sich vorgestellt, dass ich mir unten angekommen so gut wie sicher das Genick gebrochen haben würde. Selbst die Optimistin in mir hatte damit gerechnet, auf einer Bahre im Rückraum eines Krankenwagens wieder aufzuwachen, wo mir ein besorgter Sanitäter zu versichern versuchte, dass alles gut würde. Ein Federbett in einem Saal im Regency-Stil war nicht einmal Teil meiner abgelegensten, bestmöglichen Vorstellungen gewesen.

Die Tür ging auf, und ein vertrautes Gesicht lugte herein. »Ach, du bist wach«, sagte Lady Hardcastle. »Wie wunderbar. Wie fühlst du dich?«

»Ich fühle mich ein bisschen unzurechnungsfähig, Mylady«, krächzte ich. »Und ich habe erstaunlich große Schwierigkeiten, mein linkes Bein zu bewegen.«

»Die Benommenheit stammt wahrscheinlich vom Morphium, das sie dir verabreicht haben, um den Schmerz zu lindern. Und das unbewegliche Bein ist die hauptsächliche Quelle dieses Schmerzes.«

»Ich bin die Treppe runtergefallen.«

»Das bist du.«

»Nachdem ich über eine Katze gestolpert bin.«

»Eine übergewichtige, getigerte Katze. Sie heißt übrigens Mrs. Merryweather.«

»Und das Bein?«

»Ich wusste nicht, dass deine Beine Namen haben, meine Liebe.«

»Ob es gebrochen ist?«

»An zwei Stellen«, bestätigte sie. »Daher auch der Gips und die schon erwähnte Bewegungsunfähigkeit. Du hast ja noch nie halbe Sachen gemacht.«

»Mir wurde beigebracht, meine Arbeit gründlich zu erledigen. Wie lange muss ich denn in diesem Zustand zubringen?«

»Fünf bis sechs Wochen, wenn man dem Arzt Glauben schenkt. Das wird dich vielleicht ein bisschen bremsen.«

»Damit komme ich schon klar. Wie lang bin ich denn schon hier? Was ist in Miss Challengers Haus passiert? Geht es Lady Bickle gut? Und was ist mit Inspektor Sunderland und Miss Caudle? Ist das Gold in Sicherheit?«

Sie musste lachen. »Du bist seit gestern Abend hier – heute ist erst Dienstag. Georgie Bickle geht es gut, aber sie beschwert sich, dass sie immer noch nach Paraffin riecht. Ich habe diese Challenger-Person gefesselt, dann ist es mir gelungen, Simeon Gosling telefonisch zu erreichen. Aber obwohl Simeon ja Gerichtsmediziner ist, hat er die richtigen Leute verständigt, sodass wir Miss Challenger schon bald in Handschellen gelegt und abtransportiert hatten. Der Inspektor und Dinah Caudle sind gemeinsam im Auto des Inspektors gestern Abend noch in die Stadt zurückgekehrt. Sobald das ganze Durcheinander am Hafen sich erst einmal gelegt hatte, konnte er telefonieren und seine Kollegen verständigen. Der Zug wurde in Chippenham aufgehalten, wo sie bestätigten, dass das vermeintliche Gold überhaupt kein Gold war. Dann ist, wie man so schön sagt, die Hölle losgebrochen, aber es gibt noch immer keine Spur vom echten Gold.«

»Was ist mit Morefield? Hinkley? Crane?«

»Der Inspektor war klug genug, sich zuerst Crane vorzuknöpfen, der sofort einknickte. Er hat die anderen verpfiffen und sogar noch den Vorgesetzten des Inspektors belastet – kein Wunder, dass er keine Erlaubnis erhalten hat, gründlichere Ermittlungen anzustellen. Inzwischen sind sie alle verhaftet worden, Hauptkommissar inklusive.«

»Und Beatrice Challenger? Haben sie sie wegen der Brandstiftung und des Mordes an Brookfield angeklagt? Was ist mit Lizzie Worrel?«

»Crane hat ihnen haarklein Miss Challengers Verwicklung in die Sache auseinandergesetzt. Anscheinend war sie eine sehr verbitterte, einsame Frau, die von einer Schlange wie Morefield leicht zu manipulieren war. Nachdem er sie überredet hatte, die WSPU auszuspionieren, war es einfach, sie auch für den nächsten Schritt zu gewinnen, vor allem nachdem Brookfield sie für Lizzie Worrel hatte sitzen lassen. Er hat ein paar Nachforschungen angestellt und wusste deshalb, dass sie schon vor einigen Jahren wegen Brandstiftung unter Verdacht geraten war. Als sie ihm gegenüber damit prahlte, fragte er sie, ob sie vielleicht in der Lage sei, eine wichtige Aufgabe für ihn zu erledigen. Sie prahlt jetzt übrigens immer noch. Sie wurde verhaftet, angeklagt und wird wohl bald Lizzies Platz vor Gericht einnehmen. Lizzie ist heute früh freigelassen worden. Sie kommt heute Abend zum Essen vorbei. Alle kommen übrigens. Es wird eine ziemlich große Party werden.«

»Und ich habe nichts anzuziehen«, klagte ich.

»Unsinn. Es gibt unten einen vollkommen ausreichenden Overall. Ich lasse ihn waschen und bügeln.«

»Sie sind zu gütig. Aber ist denn jetzt alles vorbei?«

»Mehr oder weniger. Es gibt noch immer keine Spur von James Stansbridge oder seinen beiden Helfern. Und auch nicht von dem Gold. Die Arbeitshypothese lautet, dass es ihnen in dem Durcheinander irgendwie gelungen sein muss, sich damit aus dem Staub zu machen. Sie haben ein doppeltes Spiel gespielt.«

»Sie werden … nicht … weit … kommen …«, sagte ich, aber der Schlaf überwältigte mich, bevor ich noch mehr sagen konnte.

Ungefähr um fünf wachte ich noch einmal auf und fühlte mich schon viel mehr wie ich selbst. Ich kämpfte mich aus den Federn und schaffte es, mich mit dem frischen Wasser zu waschen, das in weiser Voraussicht in einen Krug auf dem Waschtisch gefüllt worden war. Es hing sogar ein hübsches Kleid am Bettende. Ich kämpfte mich hinein und betrachtete mich dann in dem hohen Spiegel.

Gerade wollte ich klingeln und fragen, ob Lady Bickles Zofe mir vielleicht Nadel und Faden bringen könnte, um ein oder zwei kleine Änderungen vorzunehmen, als es klopfte.

»Bist du angezogen?«, fragte Lady Hardcastle.

»Bitte kommen Sie herein. Ich bin auf und vollständig bekleidet.«

Sie öffnete die Tür. »Wie ist das Kleid denn? Ich weiß, dass es nicht ganz deine Größe ist, aber ich dachte mir, besser ein bisschen zu weit als zu eng.«

»An den wichtigen Stellen passt es«, erwiderte ich. »Das war eine ganz zauberhafte Idee von Ihnen. Vielleicht könnten Sie irgendwo Nadel und Faden auftreiben …«

»Ich kann sogar noch mehr tun. Wenn du es zulässt, hat Georgies Zofe – Miss Cordelia Ireland, wenn ich bitten darf – angeboten, ein paar Änderungen für dich vorzunehmen. Sie hat schon das Wunder vollbracht, ein Kleid für jemanden von deiner winzigen Statur aufzutreiben, aber leider scheint die ursprüngliche Besitzerin ein gutes Stück breiter gewesen zu sein.«

»Sie denken wirklich an alles. Danke.«

»Man gibt sich eben Mühe. Ich bitte Georgie, sie hochzuschicken.«

Eine Stunde später, nach einem Abzwacken hier, einem Umlegen dort und einem breiten Band, das um die Hüfte genäht wurde, sah das Kleid beinahe aus, als ob es für mich maßgeschneidert worden wäre. Ich war also bereit, die Welt der Lebenden wieder zu betreten.

Umständlich stieg ich die Treppe hinunter, wobei ich die Krücken benutzte, die ich neben der Schlafzimmertür vorgefunden hatte. Es war ein mühseliger Weg, auf dem auf Schritt und Tritt Gefahren lauerten, aber ich schaffte es bis nach unten, ohne ein weiteres Mal hinzufallen, dann humpelte ich durch die Eingangshalle in Richtung Salon.

Dort saßen Lady Hardcastle, Lady Bickle und Sir Benjamin ins Gespräch vertieft. Lady Hardcastle war mitten im Satz, als ich eintrat.

»… und darum, meine Liebe, solltest du den Earl of Runcorn niemals auch nur in die Nähe eines Ambosses lassen.«

Ich hatte die Geschichte schon so oft gehört, dass ich mich eigentlich schon lange nicht mehr darüber amüsieren konnte, aber zum Glück gehörte Sir Benjamin zu den unglücklichen Männern, die beim Einatmen lachen, sodass er wie ein bellender Seelöwe klang. Ich empfand seine unverstellte Fröhlichkeit als außerordentlich ansteckend. Mein eigenes Kichern stiftete Lady Bickle zum Lachen an, und bald bogen wir uns alle vor Lachen und wussten gar nicht mehr, worüber eigentlich. Schließlich erhob Sir Benjamin sich und breitete die Arme aus.

»Willkommen«, sagte er. »Wie wunderbar zu sehen, dass Sie schon wieder auf den Beinen sind.«

»Danke, dass Sie sich so gut um mich gekümmert haben. Das Bett war ein Traum.«

»Das ist das Mindeste, was wir tun konnten«, erwiderte er. »Nach allem, was Sie durchgemacht haben, um Georgie davor zu bewahren, von dieser entsetzlichen Challenger-Person eingeäschert zu werden, konnten wir Sie doch nicht in einem der Betten in der Bristol Royal Infirmary leiden lassen.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, sagte Lady Bickle. »Ich werde Ihnen niemals genug für meine Rettung danken können. Ich kann das Paraffin immer noch riechen, wissen Sie?«

Sir Benjamin hatte mir inzwischen durch das Zimmer zu einem leeren Sessel geholfen und stopfte nun Kissen in meinen Rücken.

»Ich denke oft, was für eine Verschwendung du als Chirurg bist, mein Lieber«, sagte Lady Bickle. »Du würdest einen so wundervollen Krankenpfleger abgeben.«

Er verbeugte sich. »Man muss es der Patientin doch bequem machen.«

»Ich hoffe, Sie nehmen sich daran ein Beispiel, Mylady«, sagte ich zu Lady Hardcastle. »Ich brauche nämlich auch Unterhaltung.«

»Oh«, sagte Sir Benjamin. »Ich bin sicher, dass sie das hinkriegt. Emily hat so wunderbare Geschichten auf Lager.«

»Und wenigstens ein Drittel davon sind sogar wahr«, entgegnete ich.

Er musste lachen.

»Um dich kümmere ich mich später«, sagte Lady Hardcastle.

»Aber mir geht es doch so schlecht«, sagte ich und zeigte auf mein Gipsbein. Unsere Gastgeber verstanden unseren privaten Humor zwar nicht richtig, er schien sie aber trotzdem zu amüsieren.

Es klingelte an der Tür, und wenige Augenblicke später brummte der Raum von all den Neuankömmlingen. Inspektor Sunderland hatte seine Frau mitgebracht. Er stellte sie als Dorothea vor, obwohl sie darauf bestand, dass alle sie Dollie nennen sollten. Lizzie Worrel sah schon wieder viel gesünder aus als bei unserer letzten Begegnung, obwohl das etwas zu weite Kleid anzeigte, wie viel Gewicht sie während ihrer Wochen im Gefängnis verloren hatte. Dinah Caudle wirkte natürlich wieder, als ob sie für eine Fotostrecke in einem Modemagazin eingekleidet worden wäre. Auch Simeon Gosling war eingeladen worden.

Dann wurden Getränke serviert, und der Abend fing richtig an.

Das Tischgespräch war angenehm, aber noch ein bisschen zaghaft, als wir uns hinsetzten. Als dann aber Essen und Wein serviert waren, wurde die Atmosphäre deutlich ausgelassener. Die Bickles aßen außerordentlich gut – ihre Köchin hatte anscheinend nicht nur die Kunst des Backens in Paris gelernt –, und Sir Benjamin hatte einen ausgezeichneten Weinkeller.

»Ich fühle mich ein bisschen wie der ahnungslose Neuling«, sagte Dr. Gosling. »Möchte mich irgendwer vielleicht auf den neuesten Stand bringen? Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass die arme Lizzie hier fälschlicherweise eingesperrt worden ist und Emily dazu gezwungen wurde, bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Das Nächste, was ich höre, ist, dass es am Hafen Explosionen gegeben hat, eine Ladung Gold vermisst wird, Georgie vor einem Flammentod bewahrt worden ist und die Hälfte der städtischen Berühmtheiten anstelle von Miss Worrel im Kittchen sitzt.«

»Das ist doch eine korrekte Zusammenfassung der Ereignisse«, erwiderte Lady Hardcastle. »Ich würde sagen, du bist so ziemlich auf dem neuesten Stand.«

»Ja, aber …«

»Was verstehen Sie denn nicht?«, fragte der Inspektor.

»Es ist ein Trauerspiel, Sunderland«, antwortete Dr. Gosling. »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Leichen aufzuschneiden. Niemand erzählt mir jemals irgendwas.«

»Während die Damen von der WSPU herauszufinden versuchten, was sich wirklich in Brookfields Wohnung zugetragen hatte, haben sie eine Art Schlangengrube ausgehoben«, erklärte der Inspektor. »Ratsherr Morefield war der Mittelpunkt. Er scheint eine Art Sammler gewesen zu sein …«

»Menschlicher Seelen?«, riet Dr. Gosling.

»Unnötig poetisch«, entgegnete der Inspektor, »aber gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt. Er schätzt anscheinend Macht und Einfluss höher als alles andere und hatte eine Menge davon angehäuft. Bedauerlicherweise war er nicht begabt darin, sein Geld zusammenzuhalten. Das Ausmaß seiner Schulden würde die Finanzminister einiger kleinerer Staaten kreidebleich werden lassen. Als er dann also von der Goldladung aus Chile erfuhr, wurde ihm klar, dass er genug Einfluss auf die richtigen Leute hatte, um einen tollkühnen Diebstahl zu wagen. James Stansbridge schuldete ihm ein kleines Vermögen und war zufällig noch ein hochdekorierter ehemaliger Soldat mit Erfahrung darin, sich hinter die Linien des Feindes zu schleichen. Ihm würde sicherlich ein Trick einfallen, wie er das Gold stehlen konnte, und er hätte auch die nötigen Fähigkeiten, den Plan in die Tat umzusetzen. Redvers Hinkley war ein zwielichtiger Bauunternehmer. Gegen ein kleines Entgelt konnte er die Gelder für die ganze Aktion vorstrecken. Das Gleiche galt für Oswald Crane, den Kaffeemagnaten, mit dessen Frau Morefield … herumpoussiert hat. Cranes Kontakte zum Hafen waren auch nützlich, um an Informationen zu gelangen und …«

»Hat Crane denn Lagerhäuser in Avonmouth?«, unterbrach ihn Lady Hardcastle.

»Natürlich«, erwiderte der Inspektor.

»Sind sie durchsucht worden?«

»Ja. Heute Morgen. Warum?«

»Haben sie irgendwas gefunden?«

»Kaffeebohnen. Wie erwartet. Kisten über Kisten voll mit dem Zeug.«

»Als Sie uns gestern Morgen von Stansbridges Ankunft erzählt haben, erwähnten Sie doch das Entladen einer großen Kiste. Wir wissen aber, dass das Gold und das falsche Gold in einer Reihe kleinerer Kisten transportiert wurden. Was ist dann also mit der großen Kiste passiert? Was, wenn – und das sind jetzt nur wilde Spekulationen – was, wenn die Kiste genau so groß war, dass sie über die Palette mit dem Gold passte? Was, wenn sie, statt die Kisten mit dem falschen Gold aus der Kiste zu hieven und sie auf einen Rollwagen zu laden, einfach nur die falsche Kiste von den falschen Goldkisten gehoben und sie dann über die echten Goldkisten gesetzt haben? Was, wenn alles, sobald es zugenagelt worden ist, genau wie eine Kiste Kaffeebohnen aussah?«

»Meine Männer haben sämtliche Kisten geöffnet – alle waren voll mit Bohnen.«

»Was, wenn nur die obere Hälfte der Kiste mit Kaffeebohnen befüllt war und es darunter noch ein Fach gab, in dem die Goldkisten versteckt werden konnten?«

Der Inspektor dachte einen Augenblick lang nach. »Sie könnten alles auf dem Rollwagen gelassen und es gar nicht heruntergehoben haben.«

»Das sollte sie leichter auffindbar machen«, sagte Lady Hardcastle.

»Tut mir furchtbar leid, Sir Benjamin«, sagte der Inspektor. »Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«

»In der Halle«, erwiderte Sir Benjamin. »Gehen Sie ruhig.«

Inspektor Sunderland entschuldigte sich und verließ das Zimmer.

»Donnerwetter, Emily«, staunte Lady Bickle. »Du bist ja wirklich eine ganz Schlaue.«

»Alles schön und gut«, schaltete sich Dr. Gosling wieder ein, »aber wie passt denn die arme Miss Worrel in die ganze Geschichte?«

»Neben der Tatsache, dass er ein Dieb, ein Schurke und korrupt ist«, erklärte Lady Hardcastle, »ist Nathaniel Morefield auch ein prominenter Gegner des Frauenwahlrechts. Er hasst schon die schiere Idee der WSPU und hat sich einen Plan ausgedacht, die Suffragetten auszuschalten, indem er eine Spionin bei ihnen einschleuste. Er fand ein Mitglied der Nationalen Frauenliga gegen das Frauenwahlrecht und warb die Dame an, damit sie sich der WSPU anschloss und ihm von deren Aktionen berichtete. Christian Brookfield recherchierte zu diesem Zeitpunkt bereits über Morefield. Er hat der Spionin – Beattie Challenger – den Hof gemacht, um mehr herauszufinden, aber dann hat er Lizzie kennengelernt und sich in sie verliebt. Er beendete umgehend seine vorgespielte Beziehung zu Miss Challenger. In der Zwischenzeit hatten Morefield und seine Kompagnons herausgefunden, dass Brookfield ihnen auf die Schliche gekommen war, und entschlossen sich, ihn ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. So konnten sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – sie konnten den neugierigen Journalisten loswerden und zugleich dem Ruf der Suffragetten schweren Schaden zufügen, die ja angeblich jegliche militante Aktion für die Dauer des Wahlkampfs eingestellt hatten. In Beattie Challenger hatten sie eine willige Komplizin. Wie gesagt war sie einsam und leicht zu beeinflussen – sie wollte von allen gemocht werden. Aus irgendeinem Grund hegte sie einen leidenschaftlichen Hass gegen die Idee eines allgemeinen Wahlrechts. Sie scheint von ganzem Herzen daran zu glauben, dass die großen Staatsangelegenheiten von reichen Männern entschieden werden sollten und dass der Rest von uns sich aus diesen Dingen heraushalten muss. Das hat sie heute früh vor dem Haftrichter ausgesagt.«

»Die Aufgabe war also wie gemacht für sie«, bemerkte ich.

»Absolut. Nicht nur bekam sie so die Gelegenheit, ihre Herzenssache voranzubringen, sie hatte auch plötzlich die Chance, sich an ihrem ehemaligen Liebsten und seiner neuen Freundin zu rächen, indem sie den einen umbrachte und der anderen den Mord in die Schuhe schob. Und sie konnte außerdem noch ihre Lieblingsmethode dafür anwenden – sie scheint eine ziemlich beeindruckende Reihe von Brandstiftungen in ihrer Akte zu haben. Zudem war der Besitzer des Ladens noch ein engagierter Gegner des Frauenwahlrechts, also bezweifle ich nicht, dass ihm geraten worden war, in dieser Nacht auszugehen und dann eine große Zahlung der Versicherung einzustreichen. Als wir angefangen haben zu ermitteln, war Miss Challenger natürlich vor Ort, um ihre Auftraggeber über die Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Dinah hat ja schon vermutet, dass irgendwer erfahren haben musste, dass sie im Besitz von Brookfields Notizbuch war – sie haben bei ihr eingebrochen und es zu stehlen versucht.«

»Also wirklich«, staunte Dr. Gosling. »Was ich nicht alles verpasse, während ich Leichen aufschlitze und ihre inneren Organe abwiege.«

»Simeon, mein Lieber«, tadelte Lady Bickle. »Nicht beim Essen, bitte, sei ein guter Junge.«

»Du hast recht. Tut mir leid, allerseits.«

Lizzie Worrel blieb die ganze Zeit über sehr still. Sie aß nur wenig und wirkte ein bisschen überfordert, aber immerhin lächelte sie. Das hatte ich an ihr vorher noch nicht gesehen. Es stand ihr gut.

Dann kehrte der Inspektor zurück.

»Ich habe gleich ein paar Männer raus nach Avonmouth geschickt. Danke für den Einfall, Mylady.«

»War mir ein Vergnügen. Aber Sie müssen unbedingt diese Lachspastete probieren, so ziemlich das Köstlichste, was Sie je essen werden.«

Daraufhin nahm das Gespräch eine Wendung in etwas konventionellere Gefilde, und wir sprachen über die kürzlich abgehaltenen Wahlen – die Mr. Asquith nicht ganz die Mehrheit verschafft hatten, die er brauchen würde, um seinen Haushalt zu verabschieden – , außerdem über Frauenwahlrecht, Fußball, Musik und sogar über Automobile. Dr. Gosling schien sich ausgesprochen gut mit Miss Caudle zu verstehen, was wiederum Lady Bickle zu gefallen schien. Und Mrs. Sunderland verstand sich sehr gut mit Lady Hardcastle, was wiederum dem Inspektor sehr zu gefallen schien.

Ich tat mein Bestes, um lebendig und geistreich zu wirken, aber das Morphium half mir nicht gerade dabei. Zwar dämpfte es wunderbar den Schmerz, aber ich war allmählich bereit, mich wieder hinzulegen. Lady Hardcastle, ganz meine Beschützerin, bemerkte, dass ich schwächelte. Sie bot an, mich nach oben zu bringen, sobald der Käse serviert war.

Dann schlief ich den Schlaf der Gesegneten.

Am Mittwochmorgen halfen Lady Hardcastle und ich Lady Bickle dabei, den WSPU-Laden zu öffnen. Eigentlich hatten wir erwartet, dass Marisol Rojas in Beatrices Abwesenheit aufsperren würde, aber es gab nirgends eine Spur von ihr. Wir hörten uns um und erfuhren von einer der Nachbarinnen, dass sie sie aus einem der rückwärtigen Fenster des Ladens hatte klettern und Richtung Berkeley Square davonhasten sehen.

»Ich frage mich, warum sie das getan hat?«, wunderte sich Lady Bickle. »Es war doch niemand im Laden – sie hätte ihn einfach durch die Eingangstür verlassen können.«

»Keine Ahnung«, sagte die Dame. »Ich habe nur kurz reingeschaut und ihr erzählt, dass eine meiner Stammkundinnen von ihrer Mutter gehört hatte, dass deren Nachbarin behauptet hatte, dass das chilenische Gold vom Hafen gestohlen worden ist. Wir haben noch kurz geplaudert, und ich bin wieder an die Arbeit gegangen. Später stand ich dann im Hinterzimmer und hab eine Kanne Tee gekocht, da hab ich sie in voller Lebensgröße gesehen, wie sie an einem Regenrohr runtergerutscht ist und sich über den Hinterhof davongemacht hat.«

»Genau so hätte ich es auch getan«, warf ich ein.

Alle sahen mich verständnislos an.

»Na ja, wenn ich geglaubt hätte, dass der Laden beobachtet würde, und ich abhauen wollte, würde ich durch den Hinterhof verschwinden. Und ich hätte vorher sichergestellt, dass ich den Weg sogar im Dunkeln finde.«

»Glauben Sie denn, dass sie irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun hatte?«, fragte Lady Bickle.

»Schwer zu sagen. Vielleicht hat sie der Bande Informationen geliefert. Oder sie hat irgendwie für die chilenische Regierung gearbeitet und fürchtete sich vor den Folgen ihres augenscheinlichen Versagens, das Gold zu schützen. Vielleicht hatte sie auch gar nichts damit zu tun und dachte einfach nur, dass sie sich nicht mehr lange genug hier aufhalten sollte, damit die Leute irgendwelche fadenscheinigen Zusammenhänge herstellten. Chilenisches Gold, chilenische Suffragette – es braucht nicht viel, um da irgendeine Art von Verbindung zu vermuten.«

»Ich hoffe sehr, dass sie zurückkommt«, sagte Lady Bickle. »Ich würde sie vermissen.«

Wir würden sie nie wiedersehen, aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wir blieben bei Lady Bickle, bis Verstärkung eintraf. Wir bekamen unsere eigenen Frauenwahlrecht-Anstecker als ein Zeichen der Wertschätzung, dann wurde uns noch gesagt, dass wir bei den Treffen der WSPU stets willkommen seien. Wir versicherten allen, dass wir uns sehr bald wiedersehen würden, und ich versprach, bei den Selbstverteidigungskursen zu helfen, sobald mein Bein wieder heil war.

Ungefähr um die Mittagszeit verabschiedeten wir uns und versuchten, mich für die Heimfahrt in den Rover zu verfrachten. Das war nicht leicht. Lady Bickle bot uns an, uns im Rolls-Royce chauffieren zu lassen.

»Danke, Mylady«, erwiderte ich, »aber ich werde wenigstens noch einen Monat auf der Verletztenliste stehen. Früher oder später muss ich mich also sowieso daran gewöhnen, mich im Rover fortzubewegen. Das klappt sicher. Immerhin regnet es nicht.«

Meine Position während der Fahrt war unbequem und außerordentlich würdelos, aber nach Littleton Cotterell war es ja nicht allzu weit.

»Kennen wir eigentlich Inspektor Sunderlands Vornamen?«, fragte ich plötzlich.

»Aber ja«, antwortete Lady Hardcastle. »Er heißt Oliver.«

»Das dachte ich mir. Also ist er Ollie.«

»Das stimmt. Ach, und sie ist Dollie. Potzblitz, das kann man sich ja nicht besser ausdenken.«

Bald erreichten wir Littleton Cotterell.

»Lunch im Pub?«, fragte Lady Hardcastle, als wir den Dorfanger umrundeten. »Ich habe Edna angerufen und ihr gesagt, dass sie uns erst später erwarten soll, zu Hause gibt es also nichts.«

»Ich sage nie Nein zu einer Pastete beim alten Joe.«

»Lass uns hoffen, dass Holman eine Fleischlieferung bekommen hat, sonst wird das wieder nichts.«

Aber wir wurden nicht enttäuscht. Pasteten standen auf der Karte, und Daisy schien ungewöhnlich froh darüber zu sein, uns zu sehen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte ich, als sie uns Speisen und Getränke an den Tisch brachte. »Du siehst wie die Katze aus, die allen anderen die Milch weggeschlabbert hat.«

»Wie geht noch mal der Spruch aus der Bibel?«, fragte sie. »Der über das Säen und Ernten?«

»Denn was der Mensch sät, das wird er ernten«, antwortete Lady Hardcastle brav.

»Genau der. Und was ein gemeines kleines Hausmädchen sät, das wird es ebenfalls ernten und so weiter.«

»Ist unserer guten Freundin Dora Kendrick denn irgendetwas zugestoßen?«, fragte ich.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Daisy. »Während ihr fort wart, euch in die Luft habt jagen und auf euch habt schießen lassen …«

»Um ehrlich zu sein«, warf Lady Hardcastle ein, »bin ich diejenige gewesen, die geschossen hat.«

»Na ja, während all das jedenfalls passiert ist … Moment? Sie haben auf jemanden geschossen?«

»Mit einer ganz winzigen Pistole«, antwortete Lady Hardcastle. »Es war gar nicht der Rede wert.«

»Aha«, erwiderte Daisy verunsichert. »Na ja, während Sie das also getan haben, ist Dora – die die Gerüchte über mich und Lenny Leadbetter in die Welt gesetzt hat – oben auf The Grange in ihrem Zimmer mit genau diesem Burschen erwischt worden.«

»Mit ihm?«, fragte ich.

»Im biblischen Sinn«, bestätigte sie. »So einen Skandal hat es hier seit Jahren nicht mehr gegeben. Sie ist sofort entlassen worden, mein Name ist reingewaschen, und Lenny Leadbetter wagt nicht mehr, sich irgendwo blicken zu lassen. Vor allem jetzt nicht, da etliche der Mädchen oben auf The Grange mehr als nur sein Gesicht gesehen haben.«

»Freut mich, das zu hören«, erwiderte ich. »Ist die Pastete für mich?«

»Ach, ja, meine Liebe, tut mir leid. Iss, bevor sie kalt wird.«

Ich hatte wochenlang auf eine Pastete und ein Pint im Dog and Duck warten müssen. Ich wurde nicht enttäuscht.

An diesem Abend kam Inspektor Sunderland vorbei, um uns mitzuteilen, dass das chilenische Gold gefunden worden sei.

»Hatte ich recht?«, fragte Lady Hardcastle eifrig.

»Sie hatten vollkommen recht«, erwiderte der Inspektor. »Wie immer. Ich bin mit einer Handvoll Männer nach Avonmouth rausgefahren und hab sie sämtliche Kisten in Cranes Lagerhaus überprüfen lassen. Bei der ersten Runde haben wir nichts gefunden, also haben wir ein bisschen nachgedacht und dann eine zweite Runde gestartet. Offenbar musste das Versteck einer oberflächlichen Begutachtung standhalten, also würde es nicht ausreichen, einfach nur die Deckel aufzustemmen und hineinzusehen. Einer der Jungs hat vorgeschlagen, sie alle auszuleeren, aber der Teil von mir, der Verschwendung verabscheut, konnte den Gedanken nicht ertragen, den ganzen völlig einwandfreien Kaffee zu vergeuden, indem wir ihn auf den Boden schütten. Dann hatte ich einen Geistesblitz. Eigentlich hätte es schon die ganze Zeit offensichtlich sein sollen – denn wir haben uns darüber ja eine ganze Weile unterhalten: Gold ist erstaunlich schwer. Ich habe ihnen also gesagt, dass sie paarweise herumgehen sollen. Wenn sie zu zweit die Kiste anheben konnten, war Kaffee darin. Aber falls sie das nicht konnten, sollten sie sie aufmachen und gründlich durchsuchen. Es hat nicht lange gedauert, bis sie es gefunden hatten. Über einem doppelten Boden lagen nur ein paar Zentimeter hoch Bohnen, darunter dann dreißig glänzende Goldbarren. Wir waren gerade fertig, als frech wie Oskar niemand anderes als James Stansbridge und seine beiden kräftigen Helfershelfer hereingestürmt kamen, also haben wir die auch gleich noch festgenommen.«

Lady Hardcastle tat ihr Bestes, nicht allzu selbstzufrieden auszusehen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.

Die nächsten paar Wochen vergingen außerordentlich angenehm. Mit dem gebrochenen Bein war ich nicht besonders mobil, aber Edna und Miss Jones sprangen für mich ein, sodass ich mich ausruhen und erholen konnte. Ich hatte auch eine Menge Zeit zum Zeitunglesen. Dinah Caudle untermauerte ihren Anspruch auf Christian Brookfields Krone mit einer Reihe von Artikeln, in denen sie »den schäbigen Untergrund unserer korrupten Stadt« bloßlegte.

Lady Bickle schickte an meinem Geburtstag ihren Wagen, um Lady Hardcastle und mich zum Dinner und zu einer Theatervorführung in die Stadt einzuladen. Wie versprochen war es so rührselig, banal und süßlich, wie Musiktheater nur sein kann, und ich hatte einen großartigen Abend. Das Gleiche galt – beinahe widerwillig – für Lady Hardcastle.

Ich hatte mich daran gewöhnt, dass man sich um mich kümmerte, und freute mich deshalb nicht allzu sehr darauf, dass der Gips wieder entfernt würde – bald hätte ich keine Entschuldigung mehr, einfach nur herumzusitzen und mich bedienen zu lassen. Doch ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Der Doktor, der mir den Gips abnahm, sagte mir mit – so kam es mir wenigstens vor – sadistischer Freude, dass meine vollständige Wiederherstellung noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen werde. Es werde noch einige Monate dauern, bis ich wieder auf den Beinen sei. Und es werde ein hartes Stück Arbeit, mich dorthin zu bringen.

Und wo ich gerade vom Irgendwohinbringen spreche … Ende März traf Lord Riddlethorpe am Steuer des bemerkenswertesten Automobils ein, das die Welt je gesehen hatte. Lang und schlank wie seine Rennwagen, aber mit einer in die Karosserie integrierten Kabine, in der die Fahrerin und ihre Beifahrerin vor Wind und Regen geschützt sitzen konnten. Das Beste von allem war, dass er einen experimentellen elektrischen Starter eingebaut hatte. Ich würde also nicht mehr kurbeln müssen.

Den Rover verkauften wir an Miss Caudle – die ihre Verlobung mit diesem Michael gelöst hatte und nun mit Dr. Gosling ausging – , dann packten wir unsere Taschen für eine Reise nach London, wo wir Lady Hardcastles Bruder Harry besuchen wollten. Als das Wetter wärmer wurde, konnte ich Lady Hardcastle sogar überzeugen, ein paar Tage am Meer dranzuhängen. 1910 ging alles in allem gar nicht so schlecht los.