Am Samstagmorgen ließ ich Lady Hardcastle ausschlafen. Bei der Soirée der Farley-Strouds würde sie schließlich lange aufbleiben und die ganze Zeit spritzig und wundervoll sein müssen. Ich erledigte ein paar Kleinigkeiten und half dann Miss Jones dabei, den Speiseplan für die kommende Woche zu erstellen, sodass sie noch die Bestellungen aufgeben konnte, bevor die Läden um die Mittagszeit schlossen.
Kurz vor zehn kam Lady Hardcastle schläfrig in die Küche.
»Guten Morgen, Haushalt«, begrüßte sie uns. »Bin ich zu spät fürs Frühstück?«
»Dafür ist es nie zu spät, Mylady«, entgegnete Miss Jones. »Aber wir wussten nicht, wann wir Sie erwarten dürfen, also habe ich noch nichts parat. Was hätten Sie denn gern?«
»Kann ich bitte ein paar pochierte Eier haben? Auf Toast. Und haben wir was von diesem amerikanischen Zeug bekommen, dem Tomatenketchup? Helston’s?«
»Heinz«, korrigierte ich sie. »Ich bring es Ihnen rüber.«
»Danke, Liebes«, sagte sie und schlurfte wieder hinaus. »Setzt du dich zu mir?«
Als sie fort war, sagte Miss Jones: »Ich weiß ja nicht, wie sie diesen Dreck essen kann.«
»Eier auf Toast?«, fragte ich.
»Nein, dieses Ketchup-Zeug. Schmeckt kein bisschen nach Tomaten. Ich könnte ihr eine köstliche Tomatensoße machen, wenn sie wollte. Oder ein Ketchup aus Pilzen. Es würde zwar ein Weilchen dauern, aber es würde ganz ausgezeichnet zu den Eiern passen.«
»Ich mag es inzwischen eigentlich ganz gern. Vergessen Sie nicht, dass im Namen des Essens schlimmere Verbrechen begangen worden sind. In Schweden gibt es ein Gericht aus fermentiertem Hering namens surströmming – es riecht so ekelerregend, dass es nur im Freien gegessen wird.«
»Kann schon sein, aber das heißt weder, dass ich Mr. Heinz mögen muss, noch sein Tomatenketchup.«
»Was ist mit den gebackenen Bohnen, die Lady Hardcastle bei Fortnum’s besorgt hat?«
»Jetzt haben Sie mich erwischt«, erwiderte sie mit einem Grinsen. »Die mag ich sehr.«
»Ich auch. Machen Sie mir auch ein paar Eier? Ich koche solange den Kaffee.«
Ein paar Minuten später trugen wir das Essen und die Post ins Frühstückszimmer, wo ich mich zu Lady Hardcastle an den Tisch setzte.
»Bitte sehr, Mylady«, sagte ich und stellte ihr den Teller mit Eiern auf Toast hin. »Willkommen am Samstag.«
Sie blickte durch das Fenster auf den grauen Winterhimmel. »Du magst dich willkommen fühlen. Ich lege mich vielleicht gleich wieder hin.«
Dann begann sie zu frühstücken.
»Haben Sie irgendwelche aufregenden Pläne für heute?«, fragte ich und versuchte, die Stimmung ein wenig aufzuheitern.
»Nichts Großartiges. Am liebsten würde ich nachher Lizzie Worrel aus dem Gefängnis befreien, aber wir müssen das wohl aussitzen, bis Caudle mehr von den Notizen transkribiert hat. Vielleicht arbeite ich ein bisschen weiter an den Modellen für den neuen Animationsfilm, aber selbst mit dem Paraffinofen ist es in der Orangerie ein bisschen frisch. Außerdem habe ich den Eindruck, wir sollten was mit dem Garten anstellen.«
»Aber Sie hassen Gartenarbeit.«
»Das ist genau der Grund, warum da nie etwas vorangeht. Vielleicht sollte ich mich mal umhören. Es muss in der Gegend doch einen zuverlässigen Menschen geben, der für uns ein bisschen das Pflanzen und Stutzen übernehmen könnte.«
»Wissen Sie, wer meiner Meinung nach einen famosen Gärtner abgeben würde?«, fragte ich.
»Nein? Wer denn?« Sie blätterte weiter die Post durch.
»Erinnern Sie sich an den alten Mann, der uns beim Fall um Spencer Caradine geholfen hat? Hat im Wald gewohnt.«
»Obadiah Tuppence«, sagte sie zerstreut.
»Jedediah Halfpenny«, erwiderte ich. »Besser bekannt als Old Jed. Ich wette, dass er einiges von Gartenarbeit versteht. Und ich wette auch, dass er sich darüber freuen würde, als Gegenleistung für einen Tag ehrlicher Plackerei ein bisschen was zu verdienen. Er mochte Sie.«
»Alle mögen mich, Liebes. Ich bin doch einfach zuckersüß. Und wenn du glaubst, dass er für die Arbeit der Richtige ist, hast du meine Erlaubnis, ihn aufzusuchen und ihn einzustellen. Ach, der hier ist von Harry. Gibst du mir bitte dein Buttermesser? An meinem klebt irgendwas.«
»Butter?«, vermutete ich.
»Ja, bitte.«
Ich reichte ihr das Messer, und sie schnitt damit den Brief von ihrem Bruder auf.
»Geht es ihm gut?«, fragte ich.
»Ausgezeichnet. Das Eheleben scheint es gut mit ihm zu meinen … Lass uns mal sehen … Sie haben ein Haus am Bedford Square gemietet. Nicht wahnsinnig praktisch, wenn man in Whitehall arbeitet, aber er behauptet, der Spaziergang würde ihm guttun. Was noch …? Sie haben Dienerschaft eingestellt, und er hat jetzt sogar einen Kammerdiener. Ich muss schon sagen, mich hat immer frustriert, dass er für seine Wohnung in St. John’s Wood nur halbtags eine Haushälterin hatte … Lavinia engagiert sich für die üblichen wohltätigen Zwecke. Ach, sie ist aber auch in den Vorstand der Firma ihres Bruders berufen worden. Sie hat einen scharfen Verstand. Sie wird sich dort gut machen.«
Lady Lavinias Bruder war »Fishy«, von dem Lady Hardcastle ein neues Auto kaufen wollte.
Sie las noch kurz weiter. »Dann fragt er, wie es mir geht. Ach, und dir. Anscheinend will Lavinia wissen, wann wir sie besuchen kommen … Dann erzählt er noch ein bisschen über die Arbeit … Oh.« Unvermittelt senkte sie den Brief.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ehrlichmann ist gesehen worden.«
Günther Ehrlichmann war der deutsche Agent, der Lady Hardcastles Ehemann, Sir Roderick, in Shanghai getötet hatte. Wir wussten wenig über ihn, abgesehen von der Tatsache, dass Lady Hardcastle ihn kurz nach dem Mord an Sir Roderick erschossen hatte. Ungeachtet seines sehr realen und etwas unschönen Todes waren unsere Freunde Skins und Dunn – zwei Ragtime-Musiker – ihm vor Weihnachten in einem Nachtclub in London begegnet.
»Was schreibt er genau?«, bohrte ich nach.
»Erinnerst du dich, dass die Jungs erzählt haben, dass Harry mit ihnen im Rag-A-Muffin kurz nach ihrer Begegnung mit dem Mann, der sich als Ehrlichmann ausgegeben hat, gesprochen hat?«
»Natürlich. Er hatte vor, ihn eine Weile von ein paar Leuten aus dem Außenministerium beschatten zu lassen.«
»Hat er auch getan. Sie haben allerdings seine Spur verloren, aber Harry hat auch die Staatspolizei eingeschaltet, und einer von denen hat ihn am Donnerstag gesichtet. Am Bahnhof Paddington ist er in einen Zug nach Penzance gestiegen.«
»Und die Züge nach Penzance fahren über Bristol«, beendete ich ihren Gedanken.
»Das tun sie, ja. Er hat einen seiner Kollegen vor Ort nach Bristol Temple Meads geschickt, um dort rechtzeitig den Zug abzupassen, aber keine Spur von Ehrlichmann. Das gibt einem allerdings zu denken.«
»Tatsächlich hat ihn die Reise eine Zeit lang näher an uns herangeführt. Allerdings ist er, wenn er wirklich bis nach Penzance gefahren ist, jetzt weiter von uns entfernt, als er es in London war.«
»Stimmt, aber was um alles in der Welt gibt es denn in Penzance?«
»Erst mal einen Bahnhof«, erwiderte ich. »Und einen Hafen. Vielleicht will er das Land verlassen.«
»Vielleicht. Ich finde das alles ein wenig beunruhigend. Ich dachte eigentlich, dass wir diesen ganzen Unfug hinter uns hätten.«
»Wir können nicht viel mehr tun, als Ruhe zu bewahren. Und natürlich uns zu bewaffnen.«
»Ausgezeichnet. Ich wollte schon die ganze Zeit den Hut ausprobieren, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast. In den kommenden Tagen und Wochen werde ich ihn nicht mehr ablegen. Außer natürlich heute Abend, wo Glamour und Eleganz gefordert sind.«
»Das stimmt. Während Sie also irgendwelche Hausherrinnen-Dinge tun und ich für Sie schufte, werde ich …«
»Du schuftest für mich?«
»Ich wollte gerade sagen, dass ich dafür sorgen werde, dass Ihr Kleid, Ihre Schuhe und Ihre Juwelen ihren Höhepunkt an Eleganz und Glamour erreichen.«
»Du verwöhnst mich.«
»Das tue ich wirklich. Essen Sie die letzte Scheibe Toast noch?«
Auf dem Land begannen Partys, wie wir gelernt hatten, nicht zu einer zivilisierten Zeit wie in der Stadt. In der Stadt käme es im Traum niemandem in den Sinn, eine Party vor zehn Uhr anfangen zu lassen, aber hier draußen auf dem herrlichen englischen Land wurde das anders gehandhabt. Hier gingen alle früh zu Bett, standen früh wieder auf und dachten sich gar nichts dabei, wenn sie ihre geselligen Zusammenkünfte für sieben Uhr ansetzten.
Aus diesem Grund lieferte ich Lady Hardcastle um Punkt Viertel nach sieben an der Eingangstür zu The Grange ab. Ich winkte Jenkins, dem Butler der Farley-Strouds, zu, steuerte den Rover neben das große Haus, parkte vor den umgebauten Stallungen, die inzwischen als Garage dienten, und ging dann zum Haus zurück, geleitet vom Licht über der Steintreppe, die zum Dienstboteneingang führte.
Ich trat, ohne anzuklopfen, ein und steuerte ohne Zwischenfall Maudes Tür an. Dort klopfte ich kurz an.
»Ach, um alles in der … Was ist denn jetzt noch?«, drang ihre Stimme zu mir heraus.
»Ich bin’s, Miss Denton. Eine einfache Reisende aus fernen Landen, die bei Ihnen Zuflucht sucht. Oder auch Flo vom Fuße des Hügels, die gern bei einer Tasse Tee mit Ihnen plaudern würde. Was auch immer Sie bevorzugen.«
Die Tür öffnete sich, und das strahlende Gesicht von Maude Denton, Kammerzofe und englische Meisterin im Sich-vor-der-Arbeit-Drücken, ragte vor mir auf. Sie war ein bisschen älter als ich – obwohl ich nie herausgefunden hatte, wie alt genau –, nicht zu vergessen einen Kopf größer und ein ganzes Stück breiter um die Hüften. Aber in ihren Augen glitzerte es schelmisch wie bei einem jungen Mädchen, und ein ansteckendes Lächeln stand auf ihren Lippen.
»Um Himmels willen, kommen Sie rein, bevor uns noch irgendwer bemerkt«, sagte sie, packte mich am Ärmel und zerrte mich ins Zimmer.
»Guten Abend, Maude«, sagte ich und zog eine Kuchendose unter meinem Mantel hervor. »Haben Sie ein bisschen Tee?«
»Tee kann bleiben, wo der Pfeffer wächst«, erwiderte sie und nahm den Kuchen entgegen. »Das hier verlangt nach Sherry.«
»Das geht leider nicht. Ich muss noch fahren.«
»Ts, ihr jungen Waliserinnen und eure Überkorrektheit. Legen Sie den Mantel ab, und machen Sie es sich bequem, ich setze derweil das Wasser auf.«
Maude hatte ich kurz nach unserem Umzug nach Littleton Cotterell kennengelernt. Ich hatte mich den Großteil des Nachmittags vor Clarissa Farley-Strouds Verlobungsfeier in ihrem Zimmer versteckt, damit wir nicht in die hektischen Vorbereitungen hineingezogen wurden. Jetzt war ich ihr schon seit Monaten nicht mehr zufällig begegnet und freute mich auf einen angenehm müßigen Abend in ihrer Gesellschaft.
»Sie helfen also nicht oben bei der Party mit?«, fragte ich, als sie mir eine Tasse Tee und ein Stück des mitgebrachten Madeirakuchens reichte.
Sie musste lachen. »Sie sind so ein Witzbold. Stellen Sie sich das nur mal vor – ich soll bei der Party helfen. Als ob mir das in den Sinn käme!«
»Ich hab Sie seit Monaten nicht gesehen. Sie könnten einen Schlag gegen den Kopf bekommen und sich in eine vollkommen andere Person verwandelt haben. So was kommt vor, wissen Sie? Ich habe solche Geschichten schon in der Zeitung gelesen.«
»Es bräuchte schon mehr als einen Schlag gegen den Kopf, damit ich bei diesem Unsinn mithelfe. Ich hab auch so schon genug mit Mylady zu tun, schönen Dank auch.«
»Und, wie ist das Leben so im großen Haus auf dem Hügel?«, fragte ich. »Gibt es irgendwelchen frischen Tratsch, der noch nicht bis ins Dorf vorgedrungen ist?«
»Kaum. Alles, was hier oben passiert, hat sich in Nullkommanichts im Dorf herumgesprochen – wenn Sie also nichts gehört haben, gibt es auch nichts. Das Leben geht weiter, wie es seit Generationen verlaufen ist.«
»Wie enttäuschend. Kein Techtelmechtel zwischen einem Diener und einem Zimmermädchen? Und Jenkins zweigt nicht heimlich etwas vom Weingeld ab, um damit seinen Ruhestand in Weston-super-Mare zu finanzieren?«
Sie lachte erneut. »Nichts dergleichen. Die Einzige, die hier so was Ähnliches wie ein Techtelmechtel hatte, ist die verflixte Dora Kendrick.«
»Nicht gerade mein liebstes Hausmädchen. Was hat sie denn angestellt?«
»Um ehrlich zu sein, komme ich bei all ihrem Unfug nicht mehr mit. Es wird gemunkelt, dass sie irgendeinem jungen Burschen im Dorf schöne Augen gemacht hat, damit er sie zu irgendeinem Tanz in der Dorfhalle ausführt. Aber er hat gesagt, dass er lieber die Tochter des Metzgers fragen will …«
»Daisy Spratt«, nannte ich automatisch den fehlenden Namen.
»Ja, genau die. Sie ist eine Freundin von Ihnen, oder?«
»Ist sie, ja. Und irgendwer versucht gerade, ihren guten Namen in den Dreck zu ziehen. Na ja, oder wenigstens ihren Namen in den Dreck zu ziehen. Ich weiß nicht, wie gut der inzwischen noch ist – sie war ja nie der keusche Typ. Aber sie hat ein gutes Herz, und, wie Sie sagen, sie ist meine Freundin. Sie glauben doch nicht etwa, dass Dora hinter den Gerüchten steckt, oder?«
»Was für Gerüchte sind es denn?«
»Etwas in der Art, dass sie mit Lenny Irgendwas hinter dem Kricketclubhaus gesehen worden sein soll. Die Einzelheiten hab ich vergessen, aber sie schwört, dass es nicht wahr ist.«
»Lenny Leadbetter«, sagte Maude. »Das ist der Kerl, auf den Dora ein Auge geworfen hatte. Ich würde ihr zutrauen, dass sie versucht, beide in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Würden Sie die Ohren für mich offen halten? Ich hätte gern eine Bestätigung, bevor ich irgendetwas Überstürztes tue.«
»Ooh, haben Sie vor, ihr aufzulauern und ihr die Ohren lang zu ziehen? Oder ihr eins auf die Nase zu geben?«
»Nichts so Brutales, aber ich denke schon, dass es an der Zeit ist, eine gewisse Person mal in ihre Schranken zu weisen.«
»Das ist wirklich überfällig, meine Liebe. Längst überfällig. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht einen Sherry anbieten kann?«
»Sehr sicher, aber bitte, lassen Sie sich von mir nicht abhalten, einen zu trinken. Ich bin vollauf zufrieden mit meinem Tee.«
»Ich nehme auch nur einen ganz kleinen.«
Drei Sherrys später, vielleicht auch vier, war Maude außerordentlich heiterer Stimmung und schon unterwegs in Richtung Schelmenstreich. Sie hatte einen Plan.
»Einer der Nachteile, sich hier zu verstecken und sich zu weigern, bei den Vorbereitungen für die Party zu helfen, ist, dass man keine Gelegenheit hat, mit einem Tablett am Rand rumzustehen und den Gesprächen der Großen und Gütigen zu lauschen.«
»Ich habe schon oft gelauscht«, merkte ich an. »Man verpasst nichts.«
»Mag sein«, entgegnete sie. »Aber manchmal vielleicht doch. Außer natürlich, wenn man die Geheimtür kennt, hinter der sich ein Geheimgang verbirgt, der zu einem Geheimraum führt, in dem die Geheimnisse der Heimlichtuer heimlich belauscht werden können.«
»Und kennen Sie den?«
»Kenne ich was, Liebes?«
»Den Geheimgang zum Geheimraum?«
Sie lachte. »Aber natürlich, Sie Dummerchen. Es wäre ja wirklich eine ziemlich armselige Vorstellung, erst über Geheimtüren zu schwadronieren und dann zu sagen: Aber leider, leider weiß ich nicht, wo sich der geheime Durchgang zu den Bereichen der geheimen Geheimnisse befindet. Stellen Sie Ihre Teetasse ab, und folgen Sie mir.«
Ich tat, was sie mir sagte, und schlich vorsichtig hinter ihr die Dienstbotentreppe hinauf ins Erdgeschoss.
»Warum schleichen wir?«, fragte ich, als wir auf einem vertrauten Gang herauskamen, von dem ich wusste, dass er an der Bibliothek vorbei zur Eingangshalle führte.
»Nur zum Spaß«, antwortete sie und tippte sich gegen den Nasenflügel.
Kurz vor der ersten Tür zur Bibliothek blieben wir gegenüber einem reich verzierten chinesischen Schränkchen stehen, an das ich mich von unseren früheren Besuchen auf The Grange her noch erinnerte. Links neben der Tür gab es eine flache Nische, in die Regalbretter eingepasst waren, auf denen eine Auswahl an Nippes stand – Erinnerungsstücke an das erste Leben der Farley-Strouds. Maude griff an einer Mütze mit dem Aufnäher Erste XV vorbei und tastete dann unter dem Brett darüber herum. Ein leises Klicken ertönte. Nachdem sie vorsichtig dagegen gedrückt hatte, schwang das ganze Regalensemble nach innen, und ein dunkler Gang voller Spinnweben wurde dahinter sichtbar.
»Sie haben doch keine Angst vor Spinnen, oder?«, fragte sie mich.
»Nein. Nur vor Kühen.«
»Sie haben Angst vor …? Ach, egal. Falls wir hier drin irgendwelchen Kühen begegnen, schlage ich sie in die Flucht, während Sie die Beine in die Hand nehmen. Kommen Sie. Und machen Sie die Tür hinter sich zu.«
Ich drückte die perfekt ausbalancierte Regaltür zu, bis der Riegel klickend einrastete. Der Gang war jetzt vollkommen dunkel.
»Halten Sie sich am Band meiner Schürze fest, und folgen Sie mir«, sagte Maude. »Von jetzt an müssen wir tatsächlich still sein.«
Sie ging in gemächlichem Tempo voran, ich hielt mich an ihrer ordentlich gebundenen Schürzenschleife fest und folgte ihr. Nach ein paar Metern stockdunklem Schlurfen und ein paar mit Spinnweben behangenen Ecken wurde es in dem schmalen Gang ein wenig heller, und wir hörten das leise Gemurmel einer Party. Während Maude vor mir auf und ab wippte, sah ich immer wieder eine Art Gitter, das nur wenige Meter vor uns in die Wand eingelassen war.
Wir hielten an, und ich konnte gerade eben Maudes Umriss im schwachen Gegenlicht erkennen, das durch das Gitter fiel. Sie legte den Finger an die Lippen. Dann ergriff sie sanft mein Handgelenk und zog mich zur Wand hinüber.
Als ich nah genug war, erkannte ich, dass das Gitter zu einer der zahlreichen Metallplatten gehörte, die mir bei früheren Besuchen auf The Grange schon an den Wänden aufgefallen waren. Ein hübsches, dekoratives Lochmuster war hineingebohrt, und ich hatte angenommen, dass die Platten zu irgendeiner Art Belüftungssystem gehörten. Vielleicht war das an anderen Stellen im Haus auch der Fall, aber diese hier hatte eine andere Funktion. Ich schob mein Gesicht näher heran und lugte durch die winzigen Löcher. Vor mir lag der Tudor-Saal im Herzen des Hauses, in dem so viele Stile vereint waren. Ich hatte schon gehört, dass es in Tudor-Häusern Geheimräume geben sollte, von denen aus man seine Gäste ausspionieren konnte, hatte aber noch nie einen zu Gesicht bekommen. Bis heute. Ich konnte von hier aus alles sehen und hören, was in dem großen Saal des ursprünglichen Hauses vor sich ging, den die Farley-Strouds ihren »Ballsaal« nannten.
Ich konnte sehen, dass die Musik von einem Streichquartett kam – vier ältere Herren, die mit einiger Kunstfertigkeit etwas spielten, was für mich wie Beethoven klang. Die Leute standen in kleinen Grüppchen beieinander, Gesprächsinseln, die von Tabletts mit Häppchen und Getränken umflossen wurden, herangetragen von den livrierten Versorgungsschiffen der Lakaien und Hausmädchen. In dem Grüppchen, das unserem »Luftschacht« am nächsten stand, ging es um die Parlamentswahl und um die Frage nach dem Frauenwahlrecht. Ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand stand, sprach gerade.
»… sollten natürlich niemals das Stimmrecht erhalten. Zum einen verstehen sie nichts von Wirtschaft und Industrie. Wie sollte eine Frau eine pragmatische, informierte Entscheidung über internationalen Handel treffen oder über die Grundsätze, nach denen unsere Fabriken geleitet werden? Zum anderen sind sie zu emotional. Zu sehr von Gefühlen beeinflusst. Zu leicht zu überzeugen. Sie haben einfach zu viel Temperament für die wichtigen Entscheidungen, die das Wahlvolk treffen muss. Und Gott bewahre uns davor, dass wir ihnen jemals Sitze im Parlament gewähren. Das ganze Land würde zusammenbrechen.«
Ein allgemeines zustimmendes Gemurmel erhob sich im Rest des Grüppchens. Ewigen Wahrheiten, so schien es, war gerade Ausdruck verliehen worden.
»Zumal mit ihren Hüten«, lallte eine extrem blasierte Stimme, deren Besitzer ich nicht sehen konnte.
Die Gruppe lachte auf, aber eher verwirrt als belustigt.
»Was zum Teufel meinen Sie denn, Jimmy?«, fragte die erste Stimme.
»Nun, Sie wissen schon«, fuhr der Betrunkene fort. »Heutzutage tragen sie doch immer diese riesigen Hüte. Verdammt gigantische Dinger. Stellen Sie sich zwei Damen in monumentalen Hüten vor, die vor einem winzigen Kerl im Ausschuss sitzen. Wie sollte der arme Tropf jemals die Aufmerksamkeit des Parlamentssprechers erregen können?«
Diesmal lachte die Gruppe laut auf.
»Sehr richtig, James, altes Haus«, sagte ein dritter Mann. »Wusste ich doch, dass ich auf dich zählen kann, wenn es darum geht, direkt zum Kern der Sache zu kommen: große Hüte.« Er lachte erneut. »Warte nur, bis ich das den Jungs bei der Liga erzähle. Tatsächlich haben wir bald wieder ein Treffen. Dienstagabend. Du solltest mitkommen und es ihnen selbst erzählen. Wir könnten etwas von deinem geistreichen Witz vertragen. Manche von den Jungs sind für meinen Geschmack einen Tick zu ernst. Vor allem dieser verdammte Kerl mit seinen Kaffeehäusern. Wie heißt er noch gleich? Der treibt mich noch in den Wahnsinn.«
»Sorry, alter Freund, das klappt nicht«, sagte der, der anscheinend Jimmy hieß. »Karten.«
Der dritte Mann lachte auf. »Du spielst also immer noch, hm? Kannst du es inzwischen denn schon ein bisschen besser?«
»Ich bin ein verdammt guter Spieler, lass dir das gesagt sein. Ich hab grade nur eine kleine Pechsträhne, das ist alles. Ach übrigens, ihr habt nicht zufällig ein paar Groschen, die ihr einem anständigen Kerl leihen könntet?«
Alle lachten.
»Warum schnorrst du nicht deinen alten Herrn an?«, fragte die erste Stimme. »Der Earl hat doch sicher ein paar Pfund übrig.«
»Vater droht sowieso schon, mir die Zuwendungen zu streichen«, erwiderte Jimmy betrübt. »Ich klaue bei Petrus, um Paulus bezahlen zu können und mich über Wasser zu halten. Wenn der Boss mitbekommt, wie viel Schulden ich hab, fliege ich hochkant raus, dann ist mein Name keinen roten Heller mehr wert. Fünfzig würden schon reichen. Ende des Monats hab ich eine todsichere Sache – da werd ich ’ne Menge Kohle machen. Ich rechne dann mit ein paar anderen Kerlen ab, und ihr habt euer Geld in Nullkommanichts wieder.«
»Fünfzig Pfund?«, lachte der Mann. »Das ist ein bisschen zu viel für mich. Schulgeld ist fällig, der Schneider will bezahlt werden – du weißt ja, wie das ist.«
»Denk drüber nach«, entgegnete Jimmy. »Wenn du deine Meinung änderst, weißt du ja, wo du mich findest.«
Dann schien er wegzugehen, denn die anderen fingen sofort an, über ihn zu reden.
»Glaubst du denn, ich sollte?«, fragte die erste Stimme. »Könnte nützlich sein, wenn der Sohn eines Earls mir etwas schuldet.«
»Denk nicht mal drüber nach«, sagte der Frauenwahlrechtsgegner. »Ich kenne einen oder zwei von den Typen, die mit ihm Karten spielen, und du würdest ein besseres Geschäft machen, wenn du dein Geld das Klo runterspülst. Wenigstens besteht da die Chance, dass du es bei der Kläranlage wiederkriegst.«
Daraufhin wurde noch ein bisschen gelacht, bis das Gespräch sich wieder banaleren Themen zuwandte.
Wir blieben noch eine Viertelstunde auf unserem geheimen Lauschposten, bevor Maude mir bedeutete, dass wir uns besser auf den Rückweg machen sollten.
»Und wie ist dein Abend so gewesen?«, fragte mich Lady Hardcastle, als ich ihr um ein Uhr morgens in das kleine Auto half.
»Ach, Sie wissen schon. Das Übliche. Ich habe mit Maude Denton Tee getrunken.«
»Und wie geht es Gerties Kammerzofe so?«
»Sie war gut in Form. Hat den Sherry gekippt, als würde er bald rationiert.«
»Manchmal denke ich, das sollte er auch, findest du nicht? Das elende Zeug kann sich nicht entscheiden, ob es Wein oder Brandy sein will. Ein unentschlossenes Getränk für Vikare und unverheiratete Tanten.«
»Sie können Ihrer Liste Kammerzofen ab einem bestimmten Alter hinzufügen. Sie liebt das Zeug.«
Ich startete den Motor des kleinen Rovers, und wir machten uns auf den Weg hügelabwärts Richtung Dorf.
»Hört sich nicht nach einem besonders interessanten Abend an«, sagte Lady Hardcastle. »Tut mir wirklich leid.«
»Oh, aber das liegt nur daran, weil ich Ihnen den besten Teil noch nicht erzählt habe. Haben Sie schon mal von den Geheimräumen gehört, die die Lords in der Tudor-Zeit neben ihren großen Hallen angelegt haben, damit sie ihre Gäste ausspionieren konnten?«
»Ich habe schon davon gehört, bin aber noch nie in einem gewesen.«
»Ich schon. Es gibt einen auf The Grange.«
»Gütiger Himmel«, rief sie. »Das ist schon ein zusammengewürfeltes Wirrwarr von einem Haus, also sollte mich das eigentlich nicht überraschen. Seit dem siebzehnten Jahrhundert scheint jeder Besitzer hier und da ein bisschen was angebaut zu haben.«
»Nun, wie sich herausstellt, hat wer auch immer das Originalhaus gebaut hat eines dieser kleinen Spionierzimmer integriert, und alle späteren Besitzer haben es behalten. Maude hat mir den Weg gezeigt, und dann haben wir ein bisschen gelauscht, was Sie dort drin getrieben haben.«
»Und was haben wir getrieben?«
»Ärgerlicherweise stand eine Gruppe sehr langweiliger Männer neben dem Lauschgitter, also haben wir nicht viel mehr erfahren, als dass einer der Kerle etwas mit einer Gruppe zu tun hat, die sich gegen das Frauenwahlrecht wendet, und dass ein anderer namens Jimmy eine Niete beim Kartenspielen ist. Das hat uns dann doch ziemlich schnell gelangweilt, und wir sind zurückgegangen, um bei Maude ein bisschen Sherry nachzugießen.«
»Ihr armen Dinger. Leider waren tatsächlich ganz furchtbare Leute da. Irgendwann hat mir ein Kerl von der Männerliga gegen das Frauenwahlrecht einen Vortrag darüber gehalten, warum Frauen nicht erlaubt werden soll zu wählen. Es hatte irgendwas mit Hüten zu tun, glaube ich. Ich habe nicht wirklich zugehört. Worum auch immer es ging, der Kerl schien es für das Lustigste zu halten, was er jemals gehört hatte, und ist abgezogen, um es noch ein paar anderen Leuten zu erzählen.«
»Wir durften dem Ursprung dieses kleinen Juwels beiwohnen«, erklärte ich. »Der schlechte Kartenspieler namens Jimmy hat es sich ausgedacht. Irgendwer hat erwähnt, er sei der Sohn eines Earl.«
»Ach ja, den hab ich auch kennengelernt. James Stamford … oder so ähnlich. Sohn des Earl of … irgendwo, es fing mit K an. Knutsford vielleicht.«
Diese Unfähigkeit, sich Namen zu merken, war mir immer als ein ziemliches Handicap für eine der wertvollsten Spioninnen der Krone vorgekommen. Und zwar ein so großes, dass ich schon lange vermutete, dass sie nur so tat. Ich entschied mich allerdings, ihr in diesem Fall nicht zu widersprechen, merkte mir aber, dass der Mann ziemlich sicher weder Stamford hieß, noch dass sein Vater der Earl of Knutsford war. Ich war mir sicher, dass ich schon einmal etwas von einem Lord Knutsford gehört hatte, dass er allerdings ein Viscount war, kein Earl.
»Haben Sie denn auch irgendwen Interessantes getroffen?«
»Ach, du weißt schon, die übliche Truppe«, erwiderte sie. »Es gab einen heiklen Moment, als ich Redvers Hinkley auf der anderen Seite des Raums entdeckt habe. Glücklicherweise war er in ein ziemlich ernst wirkendes Gespräch mit dem Kerl mit dem Hutfetisch vertieft, also glaube ich nicht, dass er mich gesehen hat. Das wäre peinlich gewesen.«
»Sie hätten sich da schon irgendwie rausgeschwindelt«, erwiderte ich zuversichtlich.
»Ach, da bin ich mir auch sicher. Aber eigentlich mag ich Lady Summerford – es wäre eine Schande, wenn ich ausgerechnet dieses Alias verbrennen würde. Sie kann vielleicht noch mal nützlich werden.«
Trotz unserer schweren Mäntel bibberten wir, als ich den Rover in seinem kleinen Verschlag abstellte. Wir eilten flugs nach drinnen.
Ich machte uns einen Kakao, dann gingen wir zu Bett, aber nicht bevor mir das Versprechen auf langes Ausschlafen und Frühstück im Bett abgenommen worden war.