5

Dinah Caudle brauchte nur zwei Tage, um ein Treffen mit Mr. Oswald Crane für Donnerstag unter dem Vorwand zu arrangieren, dass sie einen Artikel über ihn schreiben wolle. Damit Lady Hardcastle und ich ebenfalls mitkommen konnten, hatte sie gefragt, ob sie ihre Auszubildende mitbringen dürfe. Zuerst hatte er sich dagegen gesträubt, bis sie ihm erklärte, dass ihre Auszubildende eine adlige Lady mittleren Alters sei, die für die Gesellschaftsseiten schreiben wolle. Die Aussicht darauf, möglicherweise auf den Gesellschaftsseiten erwähnt zu werden, hatte alles geändert, und er hatte sich geradezu überschlagen uns entgegenzukommen.

»Glücklicherweise«, sagte Lady Hardcastle, als wir die Hauptstraße entlang zu unserem Treffpunkt auf der Corn Street gingen, »kann man sich fast immer auf die Hochnäsigkeit von Wirtschaftsleuten verlassen. Sie tun alles, um als Teil der besseren Gesellschaft betrachtet zu werden.«

»Ich habe die bessere Gesellschaft aus der Nähe gesehen«, warf ich ein, »und würde jederzeit lieber mit Halsabschneidern und Prostituierten in Verbindung gebracht werden. Anwesende natürlich ausgenommen.«

»Natürlich. Und ich kann nicht behaupten, dass ich anderer Meinung bin, aber für heute müssen wir den Schein wahren. Ich werde das glamouröseste und dümmlichste Mitglied der besseren Gesellschaft abgeben, damit er sich von mir die Art gesellschaftlicher Anerkennung erhofft, von der er schon immer der Meinung war, dass sie ihm zusteht.«

»Glamourösest?«, fragte ich.

»Und du? Haben wir uns einen Namen für dich ausgedacht?«

Ein kleines Risiko mochte bestehen, dass er Lady Hardcastles Namen wiedererkennen würde. Sie war nicht so eitel, sich einzubilden, dass alle von ihr gehört hätten, aber in den letzten beiden Jahren war sie in mehreren Zeitungsartikeln erwähnt worden, sodass die Nennung ihres Namens durchaus beunruhigend wirken könnte. Demzufolge hatten wir uns entschieden, sie heute zu Lady Summerford zu machen. Ich nahm nicht an, dass ich namentlich vorgestellt würde, also hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, mir auch für mich einen Decknamen auszudenken.

»Haben wir nicht«, entgegnete ich. »Ich bin nur eine bescheidene Dienerin. Als ich aufgewachsen bin, konnten wir uns keine Namen leisten. Ich spare noch immer auf einen eigenen Namen.«

»Wir nennen dich Nelly Maybee. Mit zwei E.«

»Das hat Potenzial«, erwiderte ich. »Sie haben mich aus den Slums von Cardiff gerettet. Ach, oh, und wir könnten andeuten, dass ich nicht so moralisch einwandfrei gewesen bin, wie es sich für eine junge Frau gehört.«

Sie schnalzte nur missbilligend mit der Zunge. Wir hatten früher oft geheimnisvolle Rollen gespielt, unter deutlich gefährlicheren Umständen, und sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht riskieren würde, unsere Tarnung auffliegen zu lassen, indem ich es übertrieb. In diesem Fall vermutete ich allerdings, dass ein Snob wie Crane mich nicht einmal beachten würde, also dachte ich, ich könnte mit dem Hintergrund meiner Figur ein bisschen Spaß haben. Schließlich wäre ich die Einzige, die über ihn Bescheid wüsste.

Ich hatte eigentlich erwartet, dass unser Treffen in einem eichengetäfelten Saal in einem prunkvollen Gebäude im Herzen des Geschäftsviertels stattfinden würde, mit Porträts von ehemaligen Vorstandsvorsitzenden an den Wänden, die streng und missbilligend auf uns herabsahen, als wir uns an einen glänzenden Mahagonitisch setzten. Daher war ich enttäuscht, als ich erfuhr, dass Mr. Crane sich mit uns in einem seiner Kaffeehäuser treffen wollte. Zugegeben, in seinem allerersten und dem Kronjuwel seines Kaffeehausimperiums, aber eben trotzdem nur in einem Kaffeehaus.

Als wir eintrafen, saß Dinah Caudle schon mit einem kleinen, rundlichen Herrn zusammen. Sie grüßte Lady Hardcastle, und der Mann sprang auf. Viel größer wurde er dadurch allerdings nicht.

»Lady Summerford, nehme ich an«, sagte er. Sein Gehabe war ebenso aufgeblasen wie der absurde Schnurrbart, der seine Oberlippe schmückte.

»Lady Summerford«, sagte auch Miss Caudle, »bitte erlauben Sie mir, Ihnen Mr. Oswald Crane vorzustellen, Kaffeeimporteur und Eigentümer dieses großartigen Geschäfts. Mr. Crane, das ist Lady Summerford, die neueste freischaffende Autorin für die Gesellschaftsseiten der Bristol News

»Sehr erfreut!«, sagten beide zugleich.

Mr. Crane zog demonstrativ einen Stuhl für »Lady Summerford« heraus und ignorierte mich ebenso demonstrativ. Ich setzte mich an einen benachbarten Tisch, nah genug, um mitzuhören, und weit genug weg, um vergessen zu werden. Ich hatte ein Buch dabei, das ich zu lesen vorgab, während ich ihrem Gespräch lauschte und Nelly Maybees Hintergrundgeschichte ein bisschen aufpolierte.

Es war gut, dass ich etwas hatte, womit ich mich geistig beschäftigen konnte – Mr. Cranes eintönige Konversation tat wenig, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er war sowohl ein Langweiler als auch ein Bauer. Er war ungewöhnlich gut über Themen wie Ackerbau, Ernte, Versand, Röstung, Vertrieb und Zubereitung von Kaffee informiert. Außerdem kannte er sich bei dessen Verpackung und Bewerbung aus, da er vor Kurzem erst eine Druckerei für ebendiese Zwecke erworben hatte.

All das wusste ich, weil er sein Wissen gern mit bestürzender Weitschweifigkeit und ohne das leiseste Bewusstsein dafür teilte, wie unglaublich langweilig er war. Das alles wäre nicht so schlimm gewesen – Enthusiasten können oft bezaubernd und faszinierend sein, sobald sie bei ihrem Spezialgebiet in Fahrt kommen – , wenn er nicht zugleich eine Tendenz zu meinungsstarker Dummheit gehabt hätte. Man konnte wirklich von Glück sagen, dass keine von uns bewaffnet war.

Wenigstens glaube ich nicht, dass Lady Hardcastle eine Waffe dabeihatte. Sie trug jedenfalls den Hut nicht, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte und in den oben ein raffiniert verstecktes Fach eingenäht war, in das eine Deringer-Pistole genau hineinpasste – sie hatte vor einiger Zeit einmal einen Witz über einen solchen Kopfschmuck gemacht, also fand ich es lustig und vielleicht auch nützlich, dass sie tatsächlich so etwas zur Verfügung hatte. Allerdings hatte sie einen beunruhigenden Hang, ihre Browning in die Handtasche zu stecken, »weil man nie weiß, wann sie einem von Nutzen sein könnte.« Langer Rede kurzer Sinn, es war unmöglich zu sagen, ob sie tatsächlich unbewaffnet war. Mr. Cranes Bemerkungen über die Bauern, die in Afrika und Amerika seinen Kaffee anbauten, seine Meinungen über die Armen und Bedürftigen hierzulande und vor allem seine Ansichten über Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft hätten sicher sein Verderben bedeutet, wenn sie bewaffnet gewesen wäre. Ich muss zugeben, dass ich selbst meinen Ärmel ein- oder zweimal in der Hoffnung betastete, dort vielleicht ein Wurfmesser versteckt und es dann vergessen zu haben.

Lady Hardcastle ließ es so aussehen, als ob sie an seinen Lippen hinge. Sie ahmte Miss Caudle nach und machte sich bei seinen Worten ausführliche Notizen.

»… und das ist ein weiterer Grund, warum man Frauen nicht das Wahlrecht zuerkennen sollte«, sagte er und unterbrach meine Tagträume über Nelly Maybees frischgebackene Karriere als Taschendiebin. »Zu viel Intuition, verstehen Sie? Es ist ja insgesamt sehr gut und schön, Instinkte und Intuitionen zu haben, wenn man Kinder großzieht oder sich um den Haushalt kümmert. Aber in der Politik genauso wie in der Wirtschaft geht es um verlässliches Urteilsvermögen und darum, Gefühle und Vorlieben beiseitezuschieben und den Verstand walten zu lassen. Ich fürchte, Frauen haben einfach nicht die Fähigkeit zu sachlichem, logischem Denken.«

Miss Caudle hatte erst fassungslos dreingeschaut, aber ihre Gesichtszüge sogleich wieder zu einem einfältigen Lächeln geordnet, als er schließlich in ihre Richtung sah. Ich bewunderte ihre Selbstbeherrschung.

»Da haben Sie recht«, sagte sie. »Frauen sind dem einfach nicht gewachsen. Ich glaube, es wäre eine Katastrophe für das Land, wenn wir wählen dürften. Was weiß ich denn schon über internationale Angelegenheiten?«

Lady Hardcastle schien es hingegen inzwischen leid zu sein, sich weiter nachsichtig mit ihm zu zeigen, also wechselte sie kurzerhand zum eigentlichen Grund für das Gespräch.

»Haben Sie denn von dem Brand letzte Woche in der Thomas Street gehört?«, fragte sie ihn.

»Habe ich. Schreckliche Sache. Ist nicht einer Ihrer Kollegen umgekommen?«

»Doch«, bestätigte sie. »Christian Brookfield.«

»Schrecklich. Schrecklich. Eine Suffragette hat das Feuer gelegt, oder? Was mir doch recht gibt, denken Sie nicht? Zu viel Gefühl wirbelt in einem weiblichen Gehirn herum. Nicht genug Vernunft. Kein Gedanke an die Folgen des eigenen Handelns, verstehen Sie? Ein Mann musste sterben, nur weil sie etwas Aufmerksamkeit für ihre Sache erregen wollte.«

»Kannten Sie Christian Brookfield?«, fragte Lady Hardcastle und ignorierte seine letzten Bemerkungen.

»Nein, kann ich nicht behaupten.«

»Seltsam«, erwiderte sie. »Denn er hat Sie gekannt. Wenigstens wusste er, wer Sie sind.«

»Viele Menschen wissen, wer ich bin, meine Liebe. Ich besitze Kaffeehäuser in der gesamten Stadt.« Er gestikulierte ausladend, um das Ausmaß seines großartigen Imperiums anzudeuten.

»Vielleicht ist das eine Erklärung. Aber er kannte auch Ihre Frau.«

»Noch einmal, eine Menge Leute kennen meine bezaubernde Frau«, sagte er, diesmal fühlte er sich jedoch sichtbar unbehaglich.

Nach Miss Caudles Gesichtsausdruck zu urteilen, war auch sie nicht allzu glücklich über die Richtung, die das Gespräch nahm. Sie versuchte, das Thema zu wechseln.

»Was denken Sie über die zunehmende Bedeutung des Hafens von Avonmouth?«, fragte sie eilig. »Ist es gut für Ihr Geschäft, dass Sie dort mit größeren Schiffen anlegen können, oder ist die Entfernung zur Stadt eine große Unannehmlichkeit?«

»Also, ich muss sagen …«, begann er, aber Lady Hardcastle ließ sich nicht den Schneid abkaufen.

»Sehen Sie«, fuhr sie also fort und blickte auf ihre Notizen hinunter, als ob sie dort nach einer Bestätigung suchte, »Mr. Brookfield hat nämlich an einer Geschichte gearbeitet, die enthüllt hätte, dass Ihre bezaubernde Frau eine … intime Beziehung hatte – das ist, glaube ich, die höfliche Umschreibung. Ja, eine intime Beziehung mit jemandem, der – und ich will das nicht zu sehr betonen – ganz gewiss nicht Sie waren. Haben Sie dazu einen Kommentar für die Presse?«

In der nun folgenden Stille wuchs in mir allmählich die Sorge, dass Mr. Crane vielleicht derjenige sein könnte, der gleich eine Pistole zücken würde. Sein Gesicht nahm einen unterhaltsamen Violettton an – das erste Interessante an ihm an diesem Morgen – , und seine Knöchel wurden weiß, als er sich am Tischrand festkrallte.

»Dieses Interview ist beendet«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Miss Caudle, bringen Sie diese Frau aus meinem Geschäft. Ich werde mich bei Ihrem Verleger beschweren.«

Miss Caudle stand auf, aber Lady Hardcastle blieb sitzen. »Sie haben ihn also nicht umgebracht? Um zu verhindern, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt? Vielleicht haben Sie ja jemanden angeheuert, der es für Sie getan hat?«

»Raus!«, brüllte er und verlor nun vollends die Beherrschung.

Ich unterdrückte ein Lachen und folgte ihr aus dem Kaffeehaus. Dabei schirmte ich ihren Rücken ab, falls es ihm einfallen sollte, nach ihr zu schlagen. Die wenigen anderen Gäste sahen entweder entsetzt oder voll unverhohlener Neugier auf, je nach Charakter. Die Angestellten duckten sich im Hintergrund weg und befürchteten ganz offensichtlich, dass der leitende Direktor seinen Ärger an ihnen auslassen würde.

Draußen auf der Straße war auch Miss Caudle wutentbrannt.

»Warum um alles in der Welt haben Sie das gemacht?«, fragte sie.

»Was denn, meine Liebe?«, fragte Lady Hardcastle.

»Sie wissen genau, was. Jetzt werden wir die Wahrheit nie erfahren. Wir haben Glück, falls er uns nicht wegen übler Nachrede verklagt.«

»Wenn überhaupt, würde er mich verklagen, Liebes. Sie waren doch ein Muster an journalistischer Professionalität. Ich war diejenige, die haltlose und verleumderische Anschuldigungen eines Fehlverhaltens gegen ihn ausgesprochen hat.«

Miss Caudle wirkte unbeeindruckt, sagte aber nichts.

»Ich verstehe ja, dass es sich bei Ihrer Arbeit nicht auszahlt, Leute so sehr auf die Palme zu bringen, dass sie die Fensterläden zumachen und nicht mehr mit Ihnen reden«, fuhr Lady Hardcastle fort. »Ich verstehe, dass Schmeichelei und Charme manchmal notwendig sind, um sie so weit einzulullen, bis sie Ihnen vertrauen und Ihnen dann verraten, was sie sonst lieber für sich behalten hätten. Aber meine eigene Erfahrung ist leider, dass Mörder für Schmeichelei nicht einmal im Ansatz empfänglich sind. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, irgendein Ergebnis zu erzielen, mit einem guten, stabilen Stock in das Hornissennest zu stechen und abzuwarten, was dann passiert.«

»Was dann passiert«, entgegnete Miss Caudle, »ist, dass man von einem Schwarm außerordentlich wütender Hornissen attackiert wird.«

»Möglich, meine Liebe, aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Das Gute daran ist – wenigstens aus unserer Perspektive – , dass wütende Menschen Fehler machen. Wenn man einen Schuldigen aufstört, vor allem einen Mann wie Crane, ist es sehr wahrscheinlich, dass er panisch mit den Flügeln schlägt und versucht, seine Spuren zu verwischen.«

»Einen Mann wie Crane?«

»Einen Mann wie Crane«, bestätigte Lady Hardcastle. »Er präsentiert sich gern als Industriekapitän, aber in Wahrheit ist er nur ein langweiliger kleiner Mann mit einer Vorliebe für Kaffee. Er macht um alles ein großes Gewese, kann Ihnen oder mir aber genauso wenig Ärger machen, wie er mit den Armen flattern und nach Amerika fliegen kann, um auf seinen kostbaren Plantagen nach dem Rechten zu sehen.«

Miss Caudle hatte sich wieder ein wenig beruhigt und dachte einen Moment über Lady Hardcastles Worte nach.

»Ich muss widerwillig einräumen«, sagte sie schließlich, »dass Sie da vielleicht einen Punkt haben könnten. Ich habe selbst ein paar Nachforschungen angestellt. Ihre Erfolge als Agentin der Krone sind nicht annähernd so geheim, wie Sie es mir weismachen wollten. Wenigstens waren Sie anderen Leuten gegenüber mit Ihren Geschichten deutlich mitteilungsfreudiger als mir gegenüber. Ich beuge mich Ihrem überlegenen Wissen, wenn es um das Verhalten von Verbrechern geht. Und auch Ihre Einschätzung von Mr. Crane ist ziemlich zutreffend – er ist tatsächlich ein langweiliger kleiner Kerl. Aber wenn Sie noch einmal so etwas machen sollten, setzen Sie mich darüber bitte vorher in Kenntnis.«

»In Ordnung, meine Liebe«, entgegnete Lady Hardcastle gut gelaunt. »Wie wäre es jetzt mit Lunch?«

»Ich würde sagen, dass dies das Mindeste ist, was Sie tun können. Kommen Sie mit, ich kenne den richtigen Laden. Hoffentlich haben Sie viel Geld dabei.«

Das Restaurant, das Miss Caudle auswählte, war dasselbe Bristoler Hotel, das Lady Farley-Stroud uns empfohlen hatte, als wir hergezogen waren. Der Oberkellner machte ein großes Theater und tat so, als ob er sich an Lady Hardcastle erinnerte, obwohl das gewiss gar nicht der Fall war, und führte uns zu einem Tisch in der Nähe eines großen Fensters, an dem ich dem Treiben der Stadt zusehen konnte.

»Also, verraten Sie mir, Miss Caudle«, sagte Lady Hardcastle, sobald wir uns hingesetzt hatten, »wie sind Sie in die Welt des Journalismus geraten?«

Miss Caudle sah sie einen Moment kühl an, als ob sie zu entscheiden versuchte, ob sie mit einer vergleichsweise Fremden über so persönliche Themen plaudern wollte.

»Ich bin das jüngste von vier Kindern und das einzige Mädchen. Sie wissen ja, wie es ist: Der älteste Sohn erbt, der zweite geht zum Militär, der dritte zur Kirche, und die Töchter werden so schnell wie möglich verheiratet, am besten an den ältesten Sohn von jemand anderem, damit man nicht mehr für ihren Unterhalt aufkommen muss.«

»Und diese Aussicht hat Ihnen nicht gefallen?«

»Ganz und gar nicht. Also habe ich meinen Eltern einen Vorschlag gemacht. Wenn ich in der Lage wäre, meinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, würden sie aufhören mich mit dem erstbesten, dahergelaufenen kinnlosen Dummkopf verheiraten zu wollen, und mich stattdessen meine eigenen Entscheidungen treffen lassen.«

»Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert?«

»Papa hat mir ins Gesicht gelacht, und Mama hat heiße Tränen um ihre Tochter geweint. Also habe ich ihnen gesagt, was sie mich mal können – und mich dann in die Stadt aufgemacht, um mein Glück zu versuchen.«

»Das ist die richtige Einstellung«, lobte Lady Hardcastle. »Aber warum die Zeitung?«

»Erst habe ich als Kellnerin gearbeitet – und zwar genau hier – und mir eine Wohnung mit einer jungen Frau geteilt, die als Sekretärin bei den Bristol News gearbeitet hat. Eines Tages hat sie mir dann erzählt, dass sie jemanden suchten, der sich um die Gesellschaftsthemen kümmert. Sie brauchten dafür jemanden, der die Codes beherrschte, ein paar der richtigen Leute kannte und wusste, welche Schuhe er zum Interview mit einer Gräfin zu tragen hatte. Um eine langatmige Geschichte frustrierend kurz zu machen: Ich habe die Stelle bekommen.«

»Und Ihre Eltern?«

»Sind am Boden zerstört, ja. Allerdings muss festgehalten werden, dass es auch mit den anderen Kindern nicht so gut gelaufen ist. Bruder Nummer eins ist ein Trinker, der es geschafft hat, mit ein paar leichtsinnigen Investitionen eine Riesensumme zu verlieren. Bruder Nummer zwei ist unehrenhaft aus der Armee entlassen worden – aus Gründen, über die wir nicht sprechen – und arbeitet jetzt als Angestellter in irgendeiner langweiligen Bank. Bruder Nummer drei ist auf Mission nach Burma geschickt worden, nachdem er mit der Frau des Kirchengemeinderatsvorsitzenden erwischt worden war. Es gab auch Gerüchte, dass er Geld aus der Kollekte für sich selbst abgezweigt hat, aber das konnten sie ihm nicht nachweisen. Man sollte meinen, dass mein vollkommen skandalfreies Leben Grund zum Feiern wäre, aber anscheinend bringt nichts größere Schande über eine Familie als eine siebundzwanzigjährige unverheiratete Tochter, die einem Beruf nachgeht.«

»Sie scheinen das aber doch sehr erfolgreich zu machen«, sagte Lady Hardcastle. »Wie heißt es noch gleich? Gut zu leben ist die beste Rache. Sie haben schließlich großartig über unsere Filmsause und die damit zusammenhängenden Unannehmlichkeiten letztes Jahr berichtet. Es ist ja nicht so, als würden Sie auf den Gesellschaftsseiten versauern.«

»Das stimmt, nein. Ich versuche, auch ernsthaftere Geschichten zu schreiben, wo immer es möglich ist. Und wenn ich über die Festnahme und den Prozess von Brookfields wahrem Mörder berichten könnte, müssten sie mich einfach beachten.«

»Anscheinend stimmen unsere kurzfristigen Ziele überein«, bemerkte Lady Hardcastle. »Auch wir wollen all dem auf den Grund gehen. Ist es wohl möglich, dass wir zu einer Art von Bündnis kommen, was meinen Sie? Irgendeine Abmachung treffen können?«

»Wir beide?«, fragte Miss Caudle mit einem Schnauben, das an ein Auslachen grenzte. »Zusammenarbeiten?«

»Wir drei, meine Liebe«, korrigierte Lady Hardcastle. »Armstrong und ich bilden ein Team.«

Miss Caudle sah mich abschätzend an. »Ach ja, die gefürchtete Florence Armstrong. Sie werden zwar in den Artikeln seltener erwähnt, und ich bin mir noch immer nicht ganz darüber im Klaren, worin Ihre Rolle besteht, aber ich bin mir sicher, dass Ihre Anwesenheit praktisch sein wird, wenn für eine von uns etwas genäht werden muss.«

Ich nahm noch einen Bissen von meinem Fasan, entgegnete aber nichts.

»Sie werden schon bemerken, wenn Sie sie brauchen«, sagte Lady Hardcastle, »und wenn es so weit ist, werden Sie auch froh darüber sein, dass sie da ist. Für den Moment gehe ich davon aus, dass Sie willens sind, Mr. Brookfields Notizen zu transkribieren und zu übersetzen? Wir übernehmen dann die Zuarbeit. Ich glaube, in dieser Beziehung haben wir unsere Fähigkeiten unter Beweis gestellt.«

»Sie wissen auf jeden Fall, wie man Leute piesackt, daran besteht kein Zweifel. Und von dem wenigen, was ich über Sie weiß, würde ich vermuten, dass Sie schon eingesperrt, gehängt oder in irgendeiner dunklen Gasse ermordet worden wären, wenn Sie nicht gewisse Fähigkeiten besitzen würden. Wie viele der Geschichten über Sie entsprechen denn der Wahrheit?«

»Ich weiß zwar nicht, welche Sie gehört haben, aber ich würde sagen, nicht mehr als die Hälfte.«

»Sie schulden mir eine bessere Antwort«, hakte Miss Caudle nach. »Ich habe meine Familienschande vor Ihnen ausgebreitet, das Mindeste, was Sie tun könnten, wäre, mir ein paar Hintergrundinformationen zu verraten.«

»Vielleicht haben Sie recht. Also gut. Mein verstorbener Mann ist Diplomat gewesen, und ich habe an seiner Seite als … nun ja, als Spionin gearbeitet, könnte man wohl sagen. Er war das respektable Gesicht Großbritanniens in der Welt, während ich mich in den dunklen Ecken herumgedrückt habe, um die Geheimnisse aufzuspüren, die unsere Feinde lieber für sich behalten wollten. Und zu mehr als einer Gelegenheit auch unsere Freunde. Ich brauchte dafür eine Assistentin, also habe ich meine Kammerzofe angeheuert. Das ist der Kern der Sache.«

»Wann ist Ihr Mann denn gestorben? Verzeihen Sie mir, wenn ich so unverblümt frage.«

»1893 in Shanghai. Er wurde von einem deutschen Agenten ermordet, der ihn für den Spion hielt. Armstrong und ich flohen ins Landesinnere und durchquerten China zu Fuß. Unterwegs haben wir einen Shaolin-Mönch getroffen, der Armstrong ein paar beeindruckende Kampftechniken beigebracht hat, die sich gut zusammen mit ihren exzellenten Messerwerfkünsten machen – ihr Vater ist nämlich beim Zirkus gewesen, müssen Sie wissen. Wir haben uns dann nach Burma durchgeschlagen, einige unserer wenigen verbliebenen Habseligkeiten gegen ein Boot eingetauscht und sind den Irrawaddy hinab bis nach Rangun gesegelt. Von da aus nahmen wir ein Boot nach Kalkutta, wo wir – wann war es gleich? – im Frühling 1901 angekommen sind.«

»1901«, bestätigte ich.

»Genau«, sagte Lady Hardcastle. »Die Königin war erst vor Kurzem verstorben, und wir waren also neuerdings Agentinnen des Königs. Wir sind dann noch zwei Jahre in Indien geblieben, haben mit einem alten Freund von mir, Major George Dawlish, an diesem und jenem gearbeitet. Reizender Kerl. Ich kenne ihn schon seit Kindertagen.«

»Und worin bestand Ihre Arbeit?«, bohrte Miss Caudle weiter, deren journalistische Instinkte offensichtlich geweckt waren.

»Ach, Sie wissen schon, dies und das, wie ich schon gesagt habe. Wir haben einen amerikanischen Händler als Saboteur entlarvt – Der vergiftete Bananenbaum, hat die Presse, glaube ich, getitelt.«

Ich nickte.

»Wir vereitelten den Mordversuch an einem unbedeutenderen Mitglied der russischen Zarenfamilie, das Kalkutta besuchte. Das war furchtbar aufregend und spontan. Als wir herausgefunden hatten, was die Verschwörung alles beinhaltete, saß der Mörder bereits mit einem leistungsstarken Luftgewehr auf einem Gebäude und zielte auf die Stelle, wo die Kutsche anhalten sollte. Ich hatte keine freie Bahn, um auf ihn zu schießen, also musste Armstrong eine Treppe hinaufstürmen und die Sache selbst in die Hand nehmen. Du hast ihn mit einem Messer ausgeschaltet, nicht wahr, Liebes?«

»Aus zehn Metern Entfernung«, bestätigte ich. »In den Nacken. Er war sofort tot.«

Dinah Caudle lächelte unbehaglich, und ich hoffte, dass sie allmählich ihre Bemerkung über das »Genäht-werden-müssen« bereute.

»Was haben wir da sonst noch gemacht?«, fragte Lady Hardcastle.

»Es gab noch diesen österreichisch-ungarischen Spion, der versucht hat, die Militärpläne aus dem Büro des Generaloberst zu stehlen.«

»Ach ja, der Mungo hat er sich genannt.«

»Er ist mit leeren Händen wieder abgezogen.«

»In mehr als einem Sinn, wenn ich mich recht erinnere. Er ist aus Indien ohne die Papiere und mit zwei Fingern weniger abgereist. Das war also Indien. 1903 sind wir wieder nach Hause gekommen und haben uns in London niedergelassen. Wir haben mit der gleichen Art von Arbeit weitergemacht, aber nach weiteren fünf Jahren, in denen irgendwelche Leute versucht hatten, auf uns zu schießen oder uns im Schlaf zu erwürgen – na ja, mich zu erwürgen jedenfalls; ich glaube nicht, dass irgendjemand Armstrong etwas anhaben könnte – , habe ich entschieden, dass genug genug ist, und wir sind nach Gloucestershire gezogen. Den Rest wissen Sie vermutlich.«

»Wenn auch nur die Hälfte von all dem wahr ist, wäre ich eine Närrin, Ihre Hilfe auszuschlagen«, sagte Miss Caudle. »Auch ohne dass ich die Dinge hinzufüge, die ich aus anderer Quelle gehört habe.«

»Eine Partnerschaft auf Augenhöhe also«, sagte Lady Hardcastle. »Wir teilen all unsere Erkenntnisse miteinander, arbeiten zusammen, um Lizzie Worrel frei zu bekommen und den wahren Mörder hinter Gitter zu bekommen.«

»Immer vorausgesetzt, dass Lizzie Worrel auch tatsächlich unschuldig ist«, fügte ich hinzu.

»Natürlich«, sagten beide zugleich.

»Auf die Gerechtigkeit«, sagte dann Lady Hardcastle und hob ihr Glas.

»Und das Frauenwahlrecht«, fügte ich hinzu.

»Und Nachtisch«, sagte Miss Caudle und prostete uns zu.

»Zufällig weiß ich, dass sie hier eine vorzügliche Biskuitrolle machen. Mit Vanillesoße.«

»Dann nehmen wir das bitte dreimal«, rief Lady Hardcastle einem vorbeigehenden Kellner zu.

Wir ließen Miss Caudle nach dem Essen wieder zurück an ihre lebenswichtige Arbeit gehen, das Leben der oberen Zehntausend zu dokumentieren, und kehrten zum Rover zurück. Das Automobilchen sprang sofort an, und ich ging zur Fahrerseite.

»Ich habe nur ein Glas Wein getrunken«, beschwerte sich Lady Hardcastle, als ich sie mit einem strengen Blick bedachte und sie vom Fahrersitz vertrieb.

»Miss Caudle und Sie haben zusammen fast zwei Flaschen geleert. Und wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nicht fahren, wenn wir getrunken haben. Erinnern Sie sich nicht an Sir Hectors Geschichte über diesen Kerl, der von einem Tiger gefressen wurde?«

»Ich glaube, er ist nur zerfleischt worden, Liebes, außerdem gibt es in Bristol keine Tiger. Na ja, vielleicht im Zoologischen Garten, aber es ist ja unwahrscheinlich, dass sie mich von da aus erwischen.«

»Er ist zerfleischt worden, weil er vom Rad gefallen ist. Und er ist vom Rad gefallen, weil …?«

»Weil er in Hectors eigenen Worten vollkommen dicht war. Ich hingegen bin nur leicht angeheitert.«

»Zwingen Sie mich nicht, Ihnen wehzutun, Mylady.«

Sie knurrte unzufrieden und kämpfte sich dann umständlich auf den Beifahrersitz.

»Wo schon die Sprache darauf kam: Sollen wir am Zoo halten?«, fragte ich. »Es ist ein schöner Nachmittag, um zwischen den Tieren spazieren zu gehen.«

»Zoos machen mich wehmütig, Liebes, das weißt du doch. Vielleicht sollten wir stattdessen noch mal im Laden vorbeischauen. Wir könnten Georgie von unseren Fortschritten berichten.«

»Was halten Sie von Lady Bickle?«, fragte ich. »Ich kann sie nicht einschätzen.«

»Für mich ist sie auch ein Buch mit sieben Siegeln. Wie gesagt, sie ist ein gutes Stück jünger, als man es von der Frau eines bekannten Chirurgen erwarten würde, aber da darf man nicht zu viel hineininterpretieren. Wir haben allerdings noch nicht viel Zeit mit ihr verbracht, also habe ich außer dieser nichtssagenden Beobachtung nichts Richtiges beizusteuern.«

Still dachten wir über das Rätsel Georgina, Lady Bickle, nach, während der kleine Rover die Park Street hinauftuckerte und -keuchte.

»Haben Sie Lord Riddlethorpe schon geschrieben?«, fragte ich.

»Tatsächlich habe ich das. Er hat umgehend geantwortet und mir verraten, dass er zufällig mit dem Gedanken gespielt hat, ein Auto mit zwei Sitzen und einer geschlossenen Kabine zu bauen, das von einem seiner Rennmotoren angetrieben wird. Dazu hat er noch eine ganze Seite über Gestelle und Aufhängungen geschrieben, aber Ingenieurwesen war noch nie meine Stärke. Langer Rede kurzer Sinn, er will mir bald ein paar Skizzen schicken und ist sehr erpicht darauf, uns als Testfahrerinnen zu gewinnen. Anscheinend denkt er darüber nach, mehrere herzustellen und an Liebhaber zu verkaufen. Als Gegenleistung für unsere detaillierte Einschätzung bekommen wir einen Rabatt. Und natürlich weil du seiner Schwester das Leben gerettet hast.«

»Ich freu mich schon darauf. Ach du grüne Neune!«

Vor dem WSPU-Laden auf der Queen’s Road standen zwei Fuhrwerke. Den Pferden waren Futtersäcke umgehängt worden, sodass sie zufrieden an ihrem Nachmittagssnack kauten. Sie würden eine ganze Weile dort stehen bleiben.

»Ich muss um die Ecke beim Haus der Bickles parken«, sagte ich.

»Tu das. So weit ist es ja nicht.«

Ich stellte den Rover an derselben Stelle wie am Samstag ab, dann nahmen wir den kurzen Weg in Angriff.

Beattie Challenger war allein im Laden.

»Guten Tag«, begrüßte sie uns. »Wir haben uns schon gefragt, wann wir wieder etwas von Ihnen hören. Wie kommen Sie voran?«

»Ganz ordentlich, danke«, erwiderte Lady Hardcastle.

»Haben Sie irgendwelche Fortschritte mit dem Notizbuch des armen Mr. Brookfield gemacht?«

»Lady Hardcastle hat den Code geknackt«, erklärte ich.

»Tatsächlich? Haben Sie das wirklich? Wir haben ja gehört, dass Sie sehr klug sind.«

»Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das Rätsel sehr komplex war«, erwiderte Lady Hardcastle. »Aber gemeinsam haben wir herausgefunden, wie es funktioniert. Es waren letztendlich nur eine einfache phonetische Cäsar-Chiffre und ein paar Wortspiele, mehr nicht.«

Miss Challenger schwieg einen Moment lang und blinzelte nur. »Gut«, sagte sie nach einer Pause. »Mir ist das trotzdem alles zu hoch. Aber was steht denn drin, jetzt, da Sie es entschlüsselt haben?«

»Wir arbeiten noch daran, haben aber schon herausgefunden, dass es ein Archiv seiner aktuellen Recherchen gewesen ist. Mit der ersten Zielperson, Mr. Oswald Crane, haben wir uns bereits unterhalten. Wir haben ihn heute Morgen gemeinsam mit Miss Caudle getroffen.«

»Der Kaffeemensch?«

»Genau der«, bestätigte Lady Hardcastle. »Nicht gerade der beeindruckendste Kerl, den wir je zu Gesicht bekommen haben, hm, Armstrong?«

»Wir sind sicherlich schon strahlenderen und mutigeren Menschen begegnet«, stimmte ich zu. »Aber sein Mangel an … nun ja, eigentlich an allem außer einem ungerechtfertigten Sinn für seine eigene Überlegenheit, erlaubt nicht unbedingt, ihn als Verdächtigen auszuschließen. Verschlagenere Männer als er haben schon aus geringeren Gründen getötet.«

»Geringeren Gründen als?«, fragte Miss Challenger nach.

»Ach, tut mir leid«, erwiderte ich. »Mr. Brookfield hatte Beweise dafür, dass Mr. Cranes Frau ihm Hörner aufsetzte.«

»Ach du liebe Zeit. Und das, nachdem er diesen Vortrag darüber gehalten hat, dass es die Schuld des Ehemannes ist, wenn seine Frau fremdgeht.«

»Na ja, eben«, sagte Lady Hardcastle. »Zumindest bestand die Gefahr, dass er sich zum allgemeinen Gespött machte.«

»Wer war denn der Geliebte?«, hakte Miss Challenger nach.

»Bis dahin sind wir noch nicht vorgedrungen.«

»Das Dechiffrieren geht langsam voran, hm?«

»Miss Caudle erledigt das für uns, und sie hat auch noch andere Verpflichtungen. Aber das bekommen wir schon noch heraus, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Lady Hardcastle lächelnd.

»Dann ist es ja gut. Haben Sie das auch Georgie schon gesagt?«

»Nein, wir sind in der Hoffnung hergekommen, es Ihnen beiden gleichzeitig mitzuteilen.«

»Sie ist bei Lady Hoopers donnerstagnachmittäglicher Bridgerunde.«

»Ich erinnere mich, dass sie das erwähnt hat. Nun ja, sie hat ja unsere Telefonnummer, für den Fall, dass sie mit einer von uns sprechen will. Würden Sie ihr die Neuigkeiten in der Zwischenzeit ausrichten, bitte?«

»Natürlich«, erwiderte Miss Challenger.

»Hat eine von Ihnen Lizzie Worrel besucht?«, fragte ich. »Wissen wir denn, wie es ihr geht?«

»Diese Woche noch nicht, aber ich glaube, Georgie möchte morgen Vormittag nach Horfield rausfahren.«

»Tatsächlich?«, sagte Lady Hardcastle. »Kennen Sie Miss Worrel denn gut? Würde ihr der Besuch von zwei Fremden etwas ausmachen, wenn wir uns anschließen würden?«

»Ich bin mir sicher, dass sie sehr erfreut wäre, weil Sie doch an ihrem Fall arbeiten und so weiter. Im Moment kann das arme Ding alle Freunde brauchen, die es kriegen kann.«

»Dann rufe ich Georgie heute Abend an«, entschied Lady Hardcastle, »und sehe, was sich machen lässt. Ist das für dich in Ordnung, Armstrong?«

»Mir macht ein Besuch im Kittchen doch immer Spaß, Mylady. Solange ich auf der richtigen Seite der Zellentür sitze.«

»Aber Sie sind doch sicher noch nie auf der falschen Seite gewesen«, sagte Miss Challenger.

»Mehr als einmal sogar. Zum Beispiel dieses eine Mal in Serbien. Belgrad.«

»Ach ja«, rief Lady Hardcastle. »Das hatte ich schon ganz vergessen. War das, als ich die Bauern dafür bezahlt habe, dass sie die Gitter von deinem Fenster mit Pferden wegreißen?«

»Nein, das war in Bulgarien. In Belgrad haben Sie mir einen Dietrich in einer Banane in die Zelle geschmuggelt und den Wächtern eine Flasche manipulierten Rakija spendiert.«

»Stimmt«, erinnerte sie sich. »Schlafend sahen sie wirklich niedlich aus.«

»Potztausend«, sagte Miss Challenger.

»Das war damals gar nichts Besonderes«, winkte ich ab.

»Und morgen werden wir dann dem Frauengefängnis in Horfield einen Besuch abstatten. Keine Angst, Miss Challenger, wir werden Ihre Freundin schon befreien und alles ins Lot bringen.«

Nach einem weiteren kurzen Spaziergang durch die Geschäfte ging bereits die Sonne unter. Edna und Miss Jones waren so gut wie fertig mit der Arbeit, als wir heimkamen. Ich genoss stets ihre Gesellschaft, also plauderte ich noch ein bisschen mit ihnen.

Miss Jones hatte alle Vorbereitungen fürs Dinner getroffen und mir wie üblich Anweisungen dagelassen, damit ich selbst die letzten Handgriffe erledigen könnte.

»Ich dachte, ein bisschen Fasan wäre für Sie beide doch ganz schön«, sagte sie. »Fred Spratt hatte gerade frisch welche und hat mir gesagt, dass Sie die so gern mögen.«

So gern sogar, dachte ich bei mir, dass ich Fasan zum Lunch bestellt hatte. Natürlich behielt ich das für mich. Lady Hardcastle hatte irgendetwas mit Lamm gegessen, würde also entzückt sein.

»Danke«, sagte ich. »Ich glaube, das wäre alles, warum brechen Sie beide also nicht ein bisschen früher auf?«

»Würde mir tatsächlich gelegen kommen. Heute Abend hat unsere Ma ihre Gremiumssitzung, da isst sie gern ein bisschen früher.«

»Unser Dan kann auf sein Abendessen noch warten«, sagte Edna, »aber zu einem früheren Feierabend sag ich trotzdem nicht Nein.«

»Dann bis morgen. Und vielen Dank für einen weiteren Tag mit ausgezeichneter Arbeit.«

Ich bereitete ein Teetablett für die Dame des Hauses vor und brachte es ihr.

»Was denken wir denn über unser heutiges Treffen mit dem abstoßenden Mr. Crane?«, fragte ich, als ich das Tablett im Salon abstellte.

»Ich denke, ich sollte Vorbereitungen dafür treffen, ihn professionell beschatten zu lassen, das denke ich. Der ganze Sinn, den Einfaltspinsel aufzubringen, war doch, ihn dazu zu verleiten, irgendeine Dummheit zu machen, mit der er die Spuren verwischen will, die er meint hinterlassen zu haben.«

»Er wirkt auf mich nicht gerade wie ein tatkräftiger Mann«, wandte ich ein. »Ich vermute, dass er zuerst ein bisschen zittert und zaudert. Obwohl wir zugeben müssen, dass wir gar nicht wissen, ob er irgendwelche Spuren zu verwischen hat. Ein Dummkopf zu sein ist ja an sich noch kein Verbrechen. Ich würde es zwar zu einem machen, sobald ich wählen dürfte, aber danach sieht es ja für den Moment nicht aus.«

»Die Welt wird für Dummköpfe und Trottel kein sicherer Ort mehr sein, wenn du erst einmal wählen darfst.«

»Sie werden sich nirgends verstecken können«, pflichtete ich ihr bei. »Wo hat dieses spezielle Exemplar denn sein Nest gebaut?«

»Er besitzt ein prächtiges Haus in Sneyd Park. Nördlich der Hügel. Mit Blick über die Avon-Schlucht.«

»Wann haben Sie das denn alles herausgefunden?«

»Während du mit den Mädchen in der Küche gekuschelt hast, habe ich mit Inspektor Sunderland telefoniert. Er hatte schon mal mit Crane zu tun und hat sich an dessen Wohnort erinnert.«

»Wie praktisch. Und ein kleines bisschen verdächtig. Was hatte er denn mit ihm zu tun?«

»Leider nichts, was uns weiterhelfen würde. Crane hatte sich über ein paar Strolche beschwert, die sich nach Einbruch der Dunkelheit noch in der Gegend rumgetrieben haben. Anscheinend hat das die Reichen in Angst und Schrecken versetzt, dass sie im Schlaf ausgeraubt werden könnten. Oder Schlimmeres. Aber das spielt uns in die Karten. Der Inspektor hat versprochen, sich unter der Hand mit dem Streifenpolizisten dort oben zu unterhalten und ihn darum zu bitten, ein Auge auf etwaiges verdächtiges Kommen und Gehen zu haben. Das kann er als eine Folgemaßnahme der vorangegangenen Beschwerde tarnen. Es ist zwar nicht so gut, wie den Kerl tatsächlich zu beschatten, aber es wird reichen müssen.«

»Wahrscheinlich ist es das Beste, was wir im Moment tun können«, stimmte ich ihr zu. »Ich könnte mich zwar unauffällig für ein paar Tage an seine Fersen heften, aber falls er keinen Dreck am Stecken hat, wäre das Zeitverschwendung. Außerdem ist es ein bisschen kalt für solche Unternehmungen. Also sollten wir das lieber der Polizei überlassen.«

»Da hast du recht. Wir haben ihn aufgescheucht, jetzt müssen wir einfach abwarten, was passiert.«

»Haben Sie auch mit Lady Bickle telefoniert?«

»Habe ich. Sie war gerade von ihrer Bridgerunde zurück. Sie würde sich sehr freuen, wenn wir sie morgen früh begleiten würden. Wir treffen uns um zehn vor dem Gefängnis.«

»Sie haben ja viel geschafft.«

»Hab ich, und das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch mit Dinah Caudle gesprochen, und sie sagt, dass sie schon große Fortschritte bei der Entschlüsselung der nächsten Geschichte gemacht hat. Sie hofft, dass sie uns bereits morgen etwas Nützliches erzählen kann.«

»Nicht schlecht für einen Arbeitstag, ich muss schon sagen.«

Während unseres Gesprächs hatte Lady Hardcastle an einer Skizze gearbeitet, die sie nun an die Verbrechenstafel heftete. Dabei handelte es sich um eine wenig schmeichelhafte Karikatur von Mr. Crane als rotgesichtigem Dickerchen, dessen Jacke an den Nähten spannte, und gerade platzte ein Knopf ab.

»Er hat ein ziemlich gutes Motiv«, merkte Lady Hardcastle an. »Trotzdem kann ich mir nur schwer vorstellen, dass er tatsächlich etwas in dieser Sache unternimmt.«