13

Am Montagmorgen, fast vier Wochen nach dem Brand in der Thomas Street und Lizzie Worrels Verhaftung, war die Stimmung im Hause Hardcastle bedrückt. Wir waren nun seit beinahe einem Monat im Kreis gelaufen, hatten kaum mehr erfahren, als dass das Opfer des Brandes ein tatkräftiger und prinzipientreuer Journalist war, der seine letzten paar Monate auf Erden mit Bemühungen verbracht hatte, die Missetaten einer Handvoll gieriger und ehrloser Männer aufzudecken. Allerdings war keiner von ihnen, soweit wir das beurteilen konnten, direkt verantwortlich für das Feuer und Christian Brookfields Tod.

Lady Hardcastle war in ihrem Arbeitszimmer, als ich mit dem Kaffeetablett aus der Küche kam. Ihre Tür stand offen, also rief ich sie im Vorübergehen.

»Im Frühstückszimmer gibt es Kaffee und Kuchen, falls Sie eine Pause machen wollen. Wenigstens bald.« Ich hob das Tablett, damit sie es sehen konnte.

»Großartig«, erwiderte sie. »Gib mir nur noch ein paar Minuten, damit ich diesen Brief beenden kann, dann komme ich zu dir.«

Ich deckte für zwei den Tisch und hatte mir gerade eine Tasse Kaffee eingeschenkt, als sie hereinkam.

»Wie schön«, sagte sie. »Ist das für mich? Danke.«

Ich reichte ihr die Tasse hinüber und schenkte mir eine zweite ein.

»Was haben Sie heute Morgen denn so gemacht?«, fragte ich und schnitt zwei Stück Früchtekuchen ab.

»Abgesehen davon, dass ich wegen unseres mangelnden Fortschritts geschmollt habe, meinst du? Nur ein paar Briefe. Es überwältigt einen leicht, wenn man … es nicht … selbst … überwältigt …«

»Das war ein viel eleganterer Gedanke, als er sich noch in Ihrem Kopf befand, nicht wahr?«

»War es wohl. Leider sind meine sprachlichen Fähigkeiten von meinen morgendlichen Mühen erschöpft.«

»Und wie läuft es in den weit entfernten Ecken des Empire so?«

»Nicht so weit entfernt, wie du vielleicht hoffen würdest«, erwiderte sie. »Alle Nachrichten stammten aus der Umgebung. Betsy Leftwich in Norwich wird weiter von ihrer Gicht gequält und macht sich Sorgen über die Anzahl von Staren, die in den Regenrinnen schlafen. Dann ist da Colonel Sawyer – erinnerst du dich an ihn von dem Theater in der russischen Botschaft her? Er hat mich gefragt, ob ich ihm einen guten Waffenschmied in Liverpool empfehlen kann. Anscheinend ist der Kerl, zu dem er normalerweise geht, verhaftet worden. Und Harry fragte nach der Adresse von Barty und/oder Skins. Anscheinend planen Lavinia und er eine Party und hätten gern etwas Lebendigeres als das übliche Streichquartett zur Unterhaltung ihrer Gäste.«

»Sind wir auch eingeladen?«, fragte ich.

»Tatsächlich sind wir das. Anfang April. Möchtest du gern hingehen?«

»In meinen besten Klamotten, mit Ragtime-Musik, es gibt Alkohol umsonst, und jemand anders macht den Abwasch? Müssen Sie da überhaupt fragen?«

»Ich sag ihm Bescheid. Was hast du denn gemacht?«

»Dies und das.«

»Eine Frau voller Geheimnisse, hm?«

»Geheimnisse und Intrigen. Aber zum Großteil waren es Näharbeiten.«

»Und Telefonanrufe«, sagte sie mit dem Mund voller Kuchen, als das Telefon im Flur zu läuten begann.

Ganz die treue Zofe ging ich ran. Kurz darauf kehrte ich mit einer Nachricht zurück.

»Das war Dinah Caudle. Sie hat uns gebeten, uns so schnell wie möglich im Hog and Ass an der Midland Road mit ihr zu treffen.«

»Hat sie auch gesagt, warum?«

»Nein. Sie war von einer Aura aus Geheimnis und Intrige umgeben.«

»Davon gibt es ja neuerdings eine ganze Menge. Also sollten wir uns wohl besser auf den Weg machen, wenn wir mehr herausfinden wollen. Hat sie dir den Weg beschrieben?«

»Klar und deutlich. Wir können es in weniger als einer Stunde dorthin schaffen.«

Der Pub lag direkt neben dem Redaktionsgebäude der Zeitung und war so leicht zu finden gewesen, wie es uns versprochen worden war. Er war proppenvoll, sogar an einem Montag um die Mittagszeit, also mussten wir uns eine Weile umschauen, bis wir Miss Caudle entdeckten, die uns von einem Ecktisch aus zuwinkte. Ich winkte zurück, aber ihre Aufmerksamkeit wurde bereits wieder von der Notwendigkeit in Anspruch genommen, den Tisch und seine kostbaren leeren Stühle mit Klauen und Zähnen gegen einen Mann mit einer eckigen Schirmmütze zu verteidigen.

»Guten Morgen, meine Damen«, begrüßte sie uns, sobald wir uns zu ihr durchgekämpft hatten. »Entschuldigen Sie das Gedränge – ich hatte ganz vergessen, wie voll es hier zwischen den Schichten wird.«

»Es sieht ziemlich lebendig aus«, sagte Lady Hardcastle. »Das hier sind also alles Kollegen von der Zeitung?«

»Ja, die Schicht der Drucker endet, nachdem sie alles für die Auflage heute Abend sauber gemacht haben. Sie trinken und essen etwas, bevor sie heimgehen. Und jeden Moment müssen jetzt auch die Schriftsetzer kommen. Sie trinken und essen etwas, um sich für ihr Tagwerk zu stärken. Die Journalisten … nun, ich würde Stein und Bein darauf schwören, dass einige von ihnen hier wohnen. Darf ich Sie zum Lunch einladen? Es gibt nichts Raffinierteres als Pastete und ein Pint, aber es ist gutes, herzhaftes Essen.«

»Das wäre ganz wundervoll«, erwiderte Lady Hardcastle. »Danke.«

»Dem schließe ich mich an«, sagte ich.

»Wünschen Sie mir Glück«, sagte Miss Caudle. »Und verteidigen Sie meinen Stuhl mit Ihrem Leben. Ich musste einen Mann umbringen, um an diesen Tisch zu kommen.«

Dann verschwand sie in der Menge.

Wir setzten uns so, dass sich der leere Stuhl zwischen uns befand und an die Wand gerückt war. Das brachte uns ein paar verärgerte Blicke von Männern mit beladenen Tellern und randvollen Gläsern ein, aber sie ließen uns in Ruhe und sahen sich nach einem anderen Platz um. Miss Caudle kehrte ein paar Minuten später zurück, und wir ließen sie sich hinsetzen.

»Ich habe den Mann hinter der Bar mit Engelszungen überredet, uns das Essen und die Getränke herzubringen. Es dauert nicht lange.«

»Interessant, Sie mal in Ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten«, sagte ich.

»Das Hog and Ass? Wohl kaum, ich bin mehr für Tee im Ritz zu haben. Na ja, wäre ich wenigstens, wenn ich die Kohle dafür hätte – dieser Tage finden Sie mich eher im Crane’s. Aber ich dachte mir, dass Ihnen vielleicht eine Kostprobe des Zeitungslebens in einem richtigen Zeitungspub gefallen würde.«

»Das hier ist also ganz authentisch, hm?«, fragte Lady Hardcastle. »Trotz des eher landwirtschaftlichen Namens?«

»Authentischer geht es nicht«, erwiderte Miss Caudle. »Das Schwein und der Esel auf dem Schild führen bei der Suche nach dem wahren Ursprung des Namens in die Irre. In früheren Zeiten, müssen Sie wissen, hatten die Schriftsetzer nur wenig Respekt vor den Druckern und haben sie Schweine genannt. Sehr verärgert über diese Verunglimpfung, erwiderten die Drucker den Gefallen und nannten die Schriftsetzer Esel. Im Hog and Ass – dem Schwein und Esel – kommen sie heute zusammen, vergessen ihre uralte Rivalität und beschweren sich bei einem geselligen Glas Bier über die Autoren.«

»Wie wunderbar«, sagte Lady Hardcastle. »Das Dog and Duck in Littleton Cotterell ist hingegen nur nach Hunden benannt. Und Enten.«

»Keineswegs«, schaltete ich mich ein. »Auch dieser Name hat einen interessanteren Ursprung. In den Zeiten von König John hießen die Steuereintreiber Dogs, und sie zu meiden nannte man Ducking. Unsere Dorfkneipe ehrt also eine lange Tradition der Steuerhinterziehung im West Country.«

Beide blickten mich mit gerunzelter Stirn an.

»Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ihnen das glauben soll«, sagte Miss Caudle.

»Geht mir genauso«, pflichtete Lady Hardcastle ihr bei.

»Ach, na ja«, erwiderte ich. »Es war einen Versuch wert. Sie haben recht, Mylady, tatsächlich ist der Pub nach Jagdhunden und den toten Enten benannt, die sie apportiert haben. Ich sehe ein, dass es ein Akt verrückten Ehrgeizes war, Sie täuschen zu wollen.«

Unsere Pasteten und Biere kamen, und wir begannen zu essen.

»Also, schießen Sie los«, sagte Lady Hardcastle zwischen zwei Bissen. »Warum sind wir über die County-Grenze in diese bezaubernd kuriose Höhle des Frevels und der Sünde zitiert worden?«

»Ich habe den nächsten Abschnitt von Brookfields Notizbuch entschlüsselt«, erklärte Miss Caudle. »Und ich habe ein Treffen mit meinem Herausgeber, Mr. Charles Tapscott, anberaumt, um mir ein paar Dinge bestätigen zu lassen. Dieser Lunch soll uns für die Begegnung stärken.«

»Ist er eine derart beeindruckende Persönlichkeit?«, fragte Lady Hardcastle.

»Er ist ein alter Schaumschläger mit Hang zur Abschweifung. Wir werden unsere gesamte Kraft brauchen, um ihn beim Thema zu halten.«

»Und mehr verraten Sie uns jetzt nicht?«, fragte ich.

»Um Himmels willen, nein. Wo bliebe da der Spaß?«

Wir folgten Miss Caudle durch den Haupteingang ins Gebäude der Bristol News und passierten den Portier, der ihr ein fröhliches »Tag, Miss Caudle, er ist in seinem Büro« zurief.

Wir stiegen die Treppe hinauf in die geschäftige Nachrichtenredaktion im ersten Stock, wo ohne sofort erkennbaren Grund von Schreibtisch zu Schreibtisch laut gebrüllt wurde. Um zum Büro des Herausgebers zu gelangen, mussten wir den ganzen Raum durchqueren, an Journalisten und Schreibkräften vorbei, die Miss Caudle alle fröhlich grüßten. Mit einer Ausnahme. Ein kleiner Mann mit einer verrutschten Brille und einer schief zugeknöpften Weste grinste sie höhnisch an, schnalzte missbilligend mit der Zunge und kehrte dann an seine Arbeit zurück.

»Beachten Sie ihn gar nicht«, riet uns Miss Caudle. »Das ist Aubrey Holcomb, unser Sportredakteur. Der Platz einer Frau ist im Haus. Nicht wahr, Aubrey?«

Er ignorierte sie.

Lady Hardcastle war davon unbeeindruckt. »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Mr. Holcomb. Ich habe Ihren Artikel über die Sorgen bei Bristol City gelesen. Sehr instruktiv. Obwohl ich mich frage, ob die Entlassung des Trainers nicht eine etwas zu drastische Maßnahme ist. Meiner Meinung nach ist das Spielsystem falsch – ich bin mir nicht sicher, ob die Pyramide ihre volle Wirkung entfaltet. Wenn man die beiden äußeren Mittelfeldspieler zurückziehen würde, um eine Viererkette in der Verteidigung zu bilden, auf die Flügelspieler verzichten und einen der Mittelstürmer ins Mittelfeld zurückbewegen würde, hätte die Mannschaft zwei undurchdringliche viergliedrige Verteidigungsketten.«

»Aber nur noch zwei Stürmer«, schnaubte Holcomb höhnisch.

»Oh«, fuhr sie fort, »aber die vormaligen Flügelspieler könnten sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung mitarbeiten. Außerdem könnte man noch einen der anderen Mittelfeldspieler weiter vorziehen. Der andere kann dahinter zurückbleiben, um die Verteidiger abzuschirmen. Im Sturm haben Sie so immer noch fünf Mann mit zwei Mittelstürmern, zwei halben Außenstürmern und einem wendigen Mittelfeldspieler. Aber sobald sie den Ball verlieren, müssen die drei Mittelfeldspieler, die im Angriff geholfen haben, sich wieder in ihre Verteidigungslinie zurückziehen. Mit dieser Aufstellung sollten sie am Mittwoch ein Team wie Sheffield schwindelig spielen können.«

»Was?«, blaffte Holcomb für meinen Geschmack ein bisschen zu aggressiv. »Wie um alles in der Welt kommen Sie auf die Idee, dass Sie irgendwas von Fußball verstehen?«

»Es ist eigentlich ganz einfach.«

»So einen Unsinn habe ich noch nie gehört«, sagte er noch und wandte sich dann wieder seinen Notizen zu, die er verärgert durchblätterte.

Als wir außer Hörweite waren, sagte ich: »Was war das denn? Hatte das Hand und Fuß, oder wollten Sie ihn einfach nur ärgern?«

»Ein bisschen von beidem, um ehrlich zu sein«, entgegnete sie. »Wir haben uns in London doch mal ein Spiel angesehen, erinnerst du dich? Und ich musste die ganze Zeit darüber nachdenken, wie viel besser es wäre, wenn sie sich ein bisschen anders aufstellen würden. Das würde sich allerdings nie durchsetzen. Du weißt ja, wie konservativ Männer bei solchen Sachen sind.«

Miss Caudle klopfte an die Tür des Herausgebers und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Miss Caudle«, grüßte der Mann hinter dem Schreibtisch jovial, als wir alle hineinmarschierten. »Ach, und zwei Gäste. Seien Sie alle willkommen. Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich.«

Wir setzten uns. Das Büro war weder so groß noch so luxuriös, wie ich es von dem Büro eines Herausgebers einer großen Regionalzeitung erwartet hätte. Aber der Mann selbst strahlte eine ruhige Autorität aus und verlieh dem Raum eine Würde, wie es das abgenutzte Mobiliar und die schmutzigen Lampen allein nicht geschafft hätten. Ein großes Fenster ermöglichte ihm zwar den Ausblick eines Herrschers über die Redaktionsräumlichkeiten, tat aber nur wenig, um das Geschrei seiner übermäßig lauten Angestellten auszusperren.

Er sah Miss Caudle an und wartete darauf, dass sie uns vorstellte.

»Lady Hardcastle«, sagte sie also, »darf ich Ihnen Mr. Charles Tapscott, den Herausgeber der Bristol News, vorstellen? Mr. Tapscott, das sind Emily, Lady Hardcastle, und ihre Freundin und Kollegin Miss Florence Armstrong. Sie haben mir bei einer Geschichte geholfen.«

Wir versicherten uns gegenseitig, hocherfreut über das Kennenlernen zu sein.

»Ich habe hier Ihre Notizen, Miss Caudle«, sagte Mr. Tapscott und tippte mit dem Ende seines Füllers auf einen Papierstapel. »Sie haben ganz offensichtlich hart gearbeitet.«

»Das haben wir alle«, erwiderte Miss Caudle und zeigte auf Lady Hardcastle und mich. »Aber der Großteil der frühen Recherchen stammt von Christian Brookfield. Er hat ein verschlüsseltes Notizbuch hinterlassen.«

»Ich wusste in groben Zügen Bescheid darüber, woran er arbeitete«, sagte Tapscott. »Ich habe ihn jedoch immer noch wegen der Einzelheiten gepiesackt. Es ist ja schön und gut zu wissen, dass diese schleimigen Kerle nichts Gutes im Schilde führen, das zu beweisen ist aber dann die wahre Kunst. Seien wir ehrlich, wir alle wussten doch, dass solche Männer Leichen im Keller haben. Ich meine, Sie haben sie doch kennengelernt, oder? Man muss nur einen Blick auf sie werfen, um zu wissen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie …«

»Ja, das ist richtig«, unterbrach ihn Miss Caudle. »Wir haben uns viel Mühe gegeben, mit den Männern zu reden und mehr über sie herauszufinden. Zuerst haben wir es heimlich versucht – unter falschen Namen und all das. Aber innerhalb weniger Tage wussten sie schon, wer wir waren. Und inzwischen glaube ich auch zu wissen, warum.«

»Nun«, sagte Mr. Tapscott, »die sind ja alle zusammen von der – wie heißt es gleich? –, der Liga für altmodische Käuze, oder wie sie sich auch immer nennen. Antifrauenwahlrecht-Typen. Und sie haben jemanden im Inneren der WSPU. Eine Spionin. Ich bin nie einem Spion begegnet. Hört sich wie ein ziemlich faszinierender Beruf an. Ich kann mich noch an einen Schulfreund erinnern, der behauptet hat, dass sein Vater etwas mit Spionage zu tun hätte. Ich hab ihm nie geglaubt. Der Kerl war eine Nervensäge. Aber dann, zehn Jahre später, ganz unverhofft, ich habe gerade eine Geschichte oben am Chaiberpass recherchiert, da …«

»Soso«, unterbrach ihn Miss Caudle erneut. »Sie wussten darüber Bescheid?«

»Natürlich. Brookfield musste es von mir genehmigen lassen, bevor er in die nächste Phase seiner Ermittlungen eingetreten ist.«

»Die nächste Phase?«, fragte Miss Caudle. »Ich bin mit der Entschlüsselung bisher nur bis zu der Stelle gekommen, wo er über die Möglichkeit nachdenkt, dass es eine Spionin in der WSPU geben könnte.«

»Ja«, sagte Mr. Tapscott. »Er brauchte meine Genehmigung – oder wenigstens musste ich auf dem Laufenden sein, was er tut, falls das irgendwelche Konsequenzen zeitigen würde –, denn er hatte ja vor, der verdächtigen Frau den Hof zu machen.«

»Lizzie Worrel?«, riefen wir alle wie aus einem Mund.

»Die, die die Polizei wegen Brandstiftung und Mord eingebuchtet hat? Möglich. Ihr Name ist in unserem Gespräch jedenfalls gefallen, aber um die Wahrheit zu sagen, bin ich nicht mehr sicher, ob es genau dieses Gespräch gewesen ist.«

»Haben Sie irgendwelche Aufzeichnungen über dieses Treffen?«, fragte Miss Caudle.

»Brookfield hat mir ganz sicher eine Gesprächsnotiz geschickt. Die muss noch irgendwo sein. Ich sage Mary, dass sie sie raussuchen soll.«

In diesem Moment betrat eine Frau mit einem voll beladenen Teetablett das Büro.

»Ach, Mary, da bist du ja«, sagte Mr. Tapscott. »Brookfield hat mir doch eine Gesprächsnotiz über die WSPU-Geschichte geschickt, an der er gearbeitet hat. Könnten Sie die für mich vielleicht raussuchen, bitte?«

»Sicher, Mr. Tapscott«, entgegnete sie, stellte das Tablett ab und ging wieder aus dem Zimmer.

»Diese Frau gruselt mich«, sagte Mr. Tapscott und reichte jeder von uns eine Tasse voll mit beängstigend starkem Tee und mit deutlich sichtbaren Gebrauchsspuren. »Sie taucht einfach jedes Mal aus dem Nichts auf, sobald man ihren Namen erwähnt. Im Mittelalter hätten wir sie ziemlich sicher als Hexe verbrannt. Ehrlich gesagt würde es auch nicht viele geben, die mich daran hindern würden, sollte ich es jetzt anordnen. Aber sie ist eine verdammt gute Sekretärin. Effizient, aber unheimlich.«

»Sie haben die Männerliga gegen das Frauenwahlrecht erwähnt, als ob Sie sie nicht gutheißen würden«, sagte Lady Hardcastle.

»Das tue ich auch nicht«, entgegnete er. »Ich verabscheue die Kerle.«

»Aber Ihre Zeitung spricht sich dezidiert gegen das Frauenwahlrecht aus.«

»Das mag einer Unterstützerin der Sache so vorkommen. Für einen Gegner des Frauenwahlrechts wirkt die Zeitung ganz zweifellos, als wäre sie dafür. Allerdings bin ich ein Verfechter der Ansicht, dass eine Zeitung die Nachrichten ganz ohne Werturteil berichten sollte – unsere Leserschaft soll sich selbst eine Meinung darüber bilden, welche Seite sie unterstützt. Ich betrachte es als ein stolzes Zeichen unserer Neutralität, dass es uns gelingt, von beiden Seiten jeder Debatte der Voreingenommenheit beschuldigt zu werden.«

In diesem Augenblick kehrte Mary mit einem Blatt Papier zurück. Sie legte es auf Mr. Tapscotts Schreibtisch und verschwand wortlos wieder.

»Danke«, sagte Mr. Tapscott in Richtung der sich schließenden Tür. »Dann lassen Sie uns mal sehen.« Er hob das Blatt auf. »An Mr. C. Tapscott, von C. Brookfield«, las er die Notiz laut vor. »Bezug nehmend auf unser Gespräch … mögliche Unterwanderung der WSPU … wichtig, es zu dokumentieren … Ah, da haben wir’s … Ich habe vor, mich der Frau, die ich in Verdacht habe, romantisch zu nähern!  Ach, das tut mir schrecklich leid, hören Sie sich das an: Ich habe den Eindruck, dass es zu diesem Zeitpunkt unangemessen wäre, den Namen der Frau in einem offiziellen Schriftstück niederzulegen. Falls mein Verdacht sich als unbegründet erweist, wäre es zutiefst bedauerlich, eine verleumderische Anschuldigung erhoben zu haben, die den Ruf einer unschuldigen Frau beschädigen könnte. Ein ehrbarer und gewissenhafter Kerl, der alte Brookfield. Wir könnten mehr von seiner Sorte gebrauchen. Aber leider hilft Ihnen das nicht weiter – ich habe keine Ahnung, wer die Frau war.«

»Dann müssen wir wohl selbst noch ein bisschen forschen«, erwiderte Miss Caudle. »Danke.«

»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser weiterhelfen kann«, sagte Mr. Tapscott. »Gab es sonst noch etwas?«

»Von meiner Seite aus nicht«, entgegnete sie. »Meine Damen?«

»Für den Augenblick nicht«, sagte auch Lady Hardcastle.

»Nein, Sir«, schloss ich mich an. »Aber wir haben wenigstens einen halben Schritt vorwärts gemacht. Danke für Ihre Zeit.«

»Ja«, sagte auch Lady Hardcastle. »Danke.«

»Es war mir ein Vergnügen«, entgegnete Mr. Tapscott lächelnd. »Ach, bevor Sie gehen – ich glaube, Sie beide haben ein paar spannende Geschichten zu erzählen. Falls Sie jemals den Drang verspüren, sie mit der Öffentlichkeit zu teilen, kommen Sie bitte zuerst zu mir. Ich zahle Spitzenhonorare für eine Innensicht auf jeden Ihrer Fälle. Oder auch für jedes andere Ihrer Abenteuer. Es gibt ja reichlich Gerüchte über Ihre Erlebnisse – ich frage mich oft, ob ich vielleicht doch einmal einem Spion begegnet bin.«

»Danke«, wiederholte Lady Hardcastle. »Wir behalten das auf jeden Fall im Hinterkopf.«

»Ich bitte darum.«

»Noch einmal vielen Dank«, sagte Miss Caudle. »Falls Sie nichts dagegen haben, würde ich gern weiter an dieser Sache arbeiten. Ich denke, es würde der Zeitung zu besonderer Zierde gereichen, wenn wir die Antworten finden könnten, um die sich die Polizei nicht geschert hat, selbst wenn das Endergebnis dasselbe sein sollte.«

»Ich habe überhaupt nichts dagegen, Miss Caudle«, erwiderte Mr. Tapscott. »Ich habe doch gesagt, wir brauchen mehr Leute wie Brookfield, und Sie haben das Zeug dazu. Machen Sie weiter so.«

Wir verabschiedeten uns noch einmal alle von ihm und ließen ihn dann weiter seine Zeitung leiten.

Zurück in der Nachrichtenredaktion fragte Lady Hardcastle Miss Caudle, ob es ein Telefon gebe, das sie benutzen könne. Miss Caudle zeigte ihr einen Tisch in der hintersten Ecke des Büros, und sie ging telefonieren, während Miss Caudle und ich an einem leeren Schreibtisch warteten.

»Sie vollbringen wirklich Wunder mit diesem Notizbuch«, sagte ich.

»Danke. Aber Tapscott hätte mir eine Menge Arbeit ersparen können, wenn er mir gleich alles erzählt hätte, was er wusste. Wahrscheinlich ist es meine eigene Schuld, weil ich ihm nicht früher mitgeteilt habe, was ich vorhatte, aber trotzdem.«

»Was machen wir mit diesen letzten Entwicklungen?«

»Ich war ziemlich überrascht, als ich Brookfields Verdächtigungen über die Spionin entschlüsselt habe, aber plötzlich ergab alles ein bisschen mehr Sinn. Es war mir seltsam vorgekommen, dass Hinkley & Co. so rasch wussten, was wir vorhatten, und ich hatte mich auf jeden Fall gefragt, ob das der Grund dafür sein könnte. Allerdings muss ich zugeben, dass es mich überrascht hat, dass Brookfield nicht nur Bescheid wusste, dass es eine Spionin gab, sondern auch eine Vorstellung davon hatte, um wen es sich dabei handeln könnte.«

»Und es ist empörend, dass er ihren Namen nicht erwähnt hat.«

»Es muss aber doch Worrel sein, denken Sie nicht? Das passt so gut zusammen. Sie war die Spionin, er hat sie verdächtigt und ihr den Hof gemacht, dann hat sie herausgefunden, dass alles nur vorgespielt war, und ihn ermordet.«

»Sie hat ihn ermordet und dann eine Nachricht hinterlassen, in der sie die Schuld auf sich genommen hat.«

»Sie hat die Schuld für das Feuer auf sich genommen, was den Ruf der WSPU beschädigt. Sie muss geglaubt haben, es würde genügen zu behaupten, dass sie keine Ahnung davon hatte, dass jemand im Haus war, und sie von sämtlichen Mordanschuldigungen entlasten.«

»Und warum sollte sie uns dann sagen, dass sie verlobt waren?«

»Hat sie das getan? Wann?«

»Wir haben sie am Freitag im Gefängnis besucht.«

»Es passt trotzdem immer noch. Inzwischen ist sie dazu übergegangen, die Verantwortung für alles abzustreiten, und sie versucht, diese Version glaubhaft zu machen, indem sie behauptet, ihn geliebt zu haben. In Wahrheit jedoch hat sie versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er seine Geschichte schreiben konnte.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich, »es fühlt sich irgendwie immer noch nicht richtig an.«

»Was fühlt sich nicht richtig an?«, fragte Lady Hardcastle, als sie vom Telefon zurückkam.

»Dass Lizzie Worrel in eine verzweifelt ausgeklügelte doppelte Täuschung verwickelt war«, erwiderte ich.

»Es gibt Dinge, die für und gegen diese Theorie sprechen«, sagte sie. »Vielleicht kann Georgie Bickle uns mehr verraten. Ich habe sie gerade angerufen und eigentlich erwartet, dass ich ihr eine Nachricht hinterlassen müsste, aber sie war tatsächlich zu Hause. Sie hat uns alle drei nach Clifton eingeladen, um die neuesten Entwicklungen zu besprechen.«

»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Miss Caudle. »Lassen Sie uns gehen.«

»Der Rover ist leider nur ein Zweisitzer«, sagte ich. »Soll ich zweimal fahren?«

»Ach, Unsinn, zweimal fahren«, sagte Miss Caudle. »Hält das Gepäckding im hinteren Teil mein Gewicht aus?«

»Ich glaube schon«, erwiderte ich. »Sie sind ja nicht sehr schwer. Der Motor könnte vielleicht Schwierigkeiten haben, uns alle auf einmal mitzuziehen, aber wenn wir erst am Krankenhaus vorbeifahren und dann über die Park Row, ist es nicht allzu steil.«

»Dann hätten wir das geklärt«, sagte Lady Hardcastle. »Wir fahren nach Berkeley Crescent.«

Lady Bickle empfing uns im Salon und bat uns, uns zu setzen.

»Ich habe die Köchin gebeten, uns eine Kanne Tee zu machen, Kuchen werden Sie nicht wollen. Emily hat mir gesagt, dass Sie gerade erst Lunch hatten. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie trotzdem etwas möchten.«

»Ich wollte das vorher schon einmal ansprechen, Mylady«, warf ich ein, »sie ist wirklich eine außergewöhnlich begabte Pâtissière

»Sie ist in Paris ausgebildet worden«, erklärte Lady Bickle stolz. »Eigentlich sollte sie ihr eigenes Geschäft leiten oder wenigstens in einem der Grand Hotels arbeiten, aber im Moment haben wir sie. Sie ist in einen unserer Hausdiener verliebt, und ich vermute, dass ihr Herz die Oberhand über ihren Verstand gewonnen hat. Ich sage ihr immer wieder, dass sie ihre Möglichkeiten ausreizen soll, aber sie lächelt dann nur, sagt, ja, Mylady, und macht weiter. Na ja, sie ist noch jung – es gibt noch genug Zeit, reich und berühmt zu werden. Und er ist tatsächlich ein hübscher Kerl. Ich kann sie verstehen.«

»Nuuun«, sagte Lady Hardcastle und zog das Wort über wenigstens drei Silben, »wenn sie sowieso Kuchen gemacht hat, wäre es doch wirklich eine Schande, die einfach verkommen zu lassen.«

»Fast schon eine Beleidigung ihrer Begabung«, sekundierte Miss Caudle.

Lady Bickle lachte auf, und als Williams ein paar Augenblicke später hereinkam, gab sie ihm für die Köchin mit, dass wir schlussendlich doch gern ein bisschen Gebäck haben wollten.

»Also gut«, sagte sie, als sie den Tee eingoss. »Was ist seit unserem letzten Gespräch passiert?«

Wir brachten sie abwechselnd über die Einzelheiten auf den letzten Stand, die wir aus dem Notizbuch und durch unser Treffen mit Mr. Tapscott bei den Bristol News erfahren hatten.

»Eine Spionin?«, sagte sie, als wir fertig waren. »Unter uns? Die sich als eine der Unsrigen ausgibt? Das ist eine ernsthafte Anschuldigung für jede von uns. Hatte Brookfield irgendeinen Beweis? Eine Verdächtige?«

»Wir sind nicht sicher, was für Beweise er hatte – ich entziffere noch immer das Notizbuch«, erklärte Miss Caudle. »Aber er hatte auf jeden Fall jemanden in Verdacht.«

»Wen denn?«

»Das wissen wir nicht«, warf Lady Hardcastle ein. »Er sträubte sich dagegen, es preiszugeben, aus Angst, fälschlicherweise jemanden zu verleumden.«

»Was wir allerdings wissen, ist«, fügte ich hinzu, »dass er versucht hat, sich der Verdächtigen zu nähern. Auf romantische Weise.«

»Lizzie Worrel?«, fragte Lady Bickle.

»Sie sind jedenfalls miteinander ausgegangen«, erwiderte Lady Hardcastle.

»Moment mal«, sagte Lady Bickle. »Brookfield hat vermutet, dass die Männerliga eine Frau für ihre Drecksarbeit angeheuert hat?«

»Das hat mich auch kurz stutzig gemacht«, entgegnete ich. »Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass es auch eine nationale Frauenliga gegen das Frauenwahlrecht gibt. Möglicherweise arbeiten sie zusammen. Tatsächlich wäre es ziemlich dumm von ihnen, das nicht zu tun. Sie haben schließlich beide dasselbe Ziel, um die Frauen am Wählen zu hindern.«

»Wann ist Lizzie denn bei Ihnen eingetreten?«, fragte Lady Hardcastle.

»Letztes Jahr«, antwortete Lady Bickle. »Im Frühsommer, glaube ich.« Sie machte eine kurze Pause, um sich an den genauen Zeitpunkt zu erinnern. »Ja, so war es«, bekräftigte sie schließlich. »Letzten Juni. Damals hatten wir gerade ziemlich großen Zulauf – Beattie Challenger und Marisol Rojas haben sich uns zu diesem Zeitpunkt ebenfalls angeschlossen. Sowie eine Handvoll weiterer Frauen, aber die meisten von ihnen sind inzwischen auf der Strecke geblieben.«

»Also könnte jede der drei heimlich auch Mitglied bei der nationalen Frauenliga gegen das Frauenwahlrecht sein«, folgerte Miss Caudle. »Sie könnten Ihre Pläne schon seit Monaten an die andere Seite weitergeben.«

Lady Bickle war kurz in Gedanken versunken. »Wissen Sie, jetzt, wo Sie es sagen, haben wir in letzter Zeit tatsächlich ein paar seltsame Dinge bemerkt. Wir haben sie immer auf Pech geschoben – ganze Stapel von Flugblättern sind verschwunden, die Polizei hat sich gerade dann entschlossen zu patrouillieren, wenn wir uns darauf vorbereiteten, ein paar Fenster am Rathaus einzuschlagen, solche Sachen. Aber es könnten genauso gut Zufall und Pech wie Sabotage gewesen sein.«

»Der Einbruch in meiner Wohnung war von heute aus betrachtet fast sicher der Versuch, das Notizbuch in die Hände zu bekommen«, sagte Miss Caudle. »Und keiner außerhalb unserer Gruppe wusste von seiner Existenz. Jemand hat … na ja, irgendjemand anderem einen Hinweis gegeben – ich tippe auf Morefield – , dann hat diese Person meine Wohnung durchwühlen lassen.«

»Genau«, pflichtete ich ihr bei. »Sie haben über alles Bescheid gewusst. Und vor dem Hintergrund, dass Mr. Brookfield bisher bei allem anderen Recht behalten hat, bin ich geneigt, ihm auch in diesem Punkt Glauben zu schenken. Anscheinend haben Sie einen Maulwurf in Ihrem Garten, Lady Bickle.«

»Das will ich wirklich nicht glauben. Aber ich muss zugeben, dass es die einleuchtendste Erklärung ist. Bleiben allerdings noch ein paar offene Fragen. Die beiden, die mir spontan in den Sinn kommen, lauten: Wer ist es? Und was sollen wir dagegen unternehmen?«

»Ich denke, wir können die Effekte abmildern, indem wir für den Moment unsere Pläne für uns behalten«, sagte Lady Hardcastle. »Wir gehen übrigens davon aus, dass Sie es nicht sind. Ich möchte nicht Ihre Intelligenz beleidigen, indem ich so tue, als hätte ich diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen, aber insgesamt betrachtet erscheinen Sie mir doch die am wenigsten wahrscheinliche Verdächtige zu sein.«

»Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen«, entgegnete Lady Bickle. »Danke. Und ich stimme zu. Wir sollten alle weiteren Pläne und Entdeckungen für uns behalten. Sogar Lizzie Worrel müssen wir im Dunkeln tappen lassen. Ich habe sie ständig über unser weiteres Vorgehen auf dem Laufenden gehalten, also war sie ebenso gut informiert wie die anderen beiden. Auch aus einer Gefängniszelle kann man Nachrichten schmuggeln.«

»So ist es wohl das Beste«, sagte Lady Hardcastle. »Die Ungewissheit wird ihr zwar nicht guttun, aber falls sie wirklich unschuldig ist und wir dabei helfen können, es zu beweisen, werden ihr ein paar Tage, in denen wir sie zwangsweise außen vor lassen, nichts ausmachen.«

»Für den Moment ist alles ohnehin noch ziemlich theoretisch«, sagte Miss Caudle. »Wir können nicht viel unternehmen, bevor ich nicht mehr von dem verdammten Notizbuch entziffert habe.«

»Gestatten Sie mir in diesem Fall, Sie mit Tee und Kuchen zu stärken«, sagte Lady Bickle. »Dann lasse ich Sie alle fröhlich ziehen, und Sie können mit dem Nachdenken beginnen.«