25. Juni 2018

Schon seit mehr als zwei Wochen schliefen Simon und ich kaum vier Stunden pro Nacht. Die schwarzen Linien des Tattoos, die zuvor noch plastisch hervorgetreten waren, hatten sich jetzt in die Haut gesenkt, man konnte sie nicht mehr spüren, wenn man im Dunkeln mit dem Finger darüberstrich.

Lotte rief mich im Geschäft in einem Ton zu sich, den ich nicht an ihr kannte. Ich kannte ihre Intonation, wenn sie vorhatte, mir eine lästige Aufgabe zuzuteilen (die

»Ich habe eine merkwürdige Nachricht erhalten«, sagte sie. Sie stand vor dem Computerbildschirm in der Nähe des Eingangs.

Reflexartig dachte ich, es ginge um eine Nachricht von Simon, der im gleichen passiv-aggressiven Ton, den er seit einigen Tagen anschlug, wenn er über Think Out Loud sprach, auch Lotte angeschrieben hatte.

Lotte hatte uns am vergangenen Wochenende eingeladen, als Unterstützer zum Halbfinale des vgc-Hallenfußballpokals mitzukommen. Die Tollers sollten gegen die frischgegründete Herrenmannschaft des FC Motivée antreten. Ich hatte Lottes Vorschlag an Simon weitergeleitet, aber er sagte, da hätte er wirklich was Besseres zu tun. Dass ich zusammen mit Lotte hinginge, hielt er für keine gute Idee, warum sollte ich eine Mannschaft unterstützen, in der er nicht mehr mitspielte? Seinetwegen durfte FC Motivée gern gewinnen. Er würde irgendwann ein eigenes Team zusammenstellen, FC Sproud, mit geschmackvollen, ganz im Hausstil entworfenen Trikots.

»Da, schau.« Lotte drehte den Schirm zu mir hin und zeigte mir den Posteingang. Die Nachricht war an die allgemeine Adresse des Geschäfts gerichtet und kam von einer anonymen Mailadresse.

 

ich nehme an, dass Sie lieber keine Mitarbeiter dafür bezahlen, dass sie schlafen. Vielleicht sollten Sie dafür sorgen, dass sie mehr zu tun haben?

 

Mit freundlichen Grüßen

 

ein täglicher Passant

Ich las die kleinen Buchstaben, sie schrumpften vor meinen Augen, ich spürte, wie ich mich ausdehnte, wenn ich zu lange auf sie schaute, und auch der Laden, den wir gerade für den bevorstehenden Ausverkauf umdekorierten, nahm außergewöhnliche Dimensionen an. Neben pochenden Schmerzen hinter den Augen hatte ich in letzter Zeit ständig das Gefühl, dass nichts mehr aus einer festen Form bestand. Das gleiche Gefühl hatte ich auch bei meinem ersten und einzigen Flug mit Simon gehabt, nach Barcelona: Während der Landung hatte ich aus dem Fenster geschaut, und aus einem Meer winzig kleiner bunter Punkte waren langsam ganze Bäume und Plätze und Häuser aufgetaucht, die immer größer wurden, noch größer, zu groß, gigantisch groß und so detailliert, dass ich, als wir dicht daran vorbeischossen, hinter dieser winzig kleinen Scheibe selbst zu schrumpfen begann, bis ich nur noch die Größe eines Spielzeugpüppchens hatte. Dieses befremdliche Gefühl verschwand erst, als ich im Flughafengebäude auf der Toilette saß und das gefaltete Blatt Klopapier in meiner Hand exakt die richtigen Maße hatte. Genau das tat ich in diesen Zeiten der Übermüdung auch: einen Gegenstand in die Hand nehmen, dessen präzisen Umfang ich kannte, um mich zu beruhigen.

Ich griff nach der Computermaus. Meine Finger passten

 

Die Anlage enthielt ein Foto, Lotte hatte es bereits gesehen, es war unten in dem Balken mit den heruntergeladenen Dateien. Ich klickte es an, wie der Geist aus der Flasche flutschte er auf den Bildschirm: der mit versenkten Knöpfen verzierte tannengrüne Puff im hinteren Teil des Ladens, auf dem ein Mädchen in Fötushaltung lag und schlief, mit dem Rücken zur Straße. Schludrig zusammengefasstes rotbraunes Haar, lockere gestreifte Hose aus glänzendem dünnem Stoff, der hinten zwischen ihren Pobacken klebte, sie hielt die Hände gefaltet, als wäre sie beim Beten umgekippt. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis mir bewusst wurde, dass ich das Mädchen war.

Das Foto war von jemandem aufgenommen worden, der drinnen im Laden stand. Ich wusste, wann das gewesen sein konnte: letzten Montag, abends, Lotte war früher gegangen, weil sie noch kurz bei ihrer Mutter vorbeischauen wollte. Eine unwiderstehliche Anziehungskraft war von diesem Puff ausgegangen, die Anziehungskraft eines glitzernden Schwimmbeckens an einem glutheißen, drückenden Tag, und nachdem ich stundenlang mit dem Schlaf gekämpft hatte, hatte ich schließlich nachgegeben. Es war mein bester Schlaf der ganzen Woche gewesen. Ich hatte sogar die Ladenglocke überhört und war erst aufgewacht, als mir ein Postkurier mit einer Einschreibesendung auf die Schulter getippt hatte. Ich hoffte, dass es dieser Mann war, der das Foto gemacht und geschickt hatte, dass nicht noch mehr Kunden mich gesehen hatten, dass sich womöglich herausstellen würde, dass Dinge gestohlen worden waren.

 

»Selbstverständlich leite ich das Foto nicht an Godelieve weiter. Was für ein Widerling, dass der dich fotografiert hat. Aber dir ist hoffentlich klar, dass du mich in Schwierigkeiten bringst, der Mann hätte die Kasse ausrauben können, Passanten haben dich durch die Scheiben dort liegen sehen. Jetzt muss ich die Chefin anlügen, und ich lüge nicht gern.«

Sie zeigte mir, wie sie die Mail und das Foto in den Papierkorb verschob.

»Warum bist du so müde? Wir haben in letzter Zeit kaum miteinander geredet, du lachst fast nicht mehr.«

»Simon und ich können seit Wochen nicht besonders gut schlafen.«

Allein schon der Gedanke an unser Bett zu Hause, in diesem kleinen Büroraum, eingeklemmt zwischen Kartonstapeln, die Vorstellung, da bald wieder reinkriechen zu müssen, mit Simons Unruhe als unheilverkündendem Soundtrack im Hintergrund, erregte Widerwillen in mir. Ich wechselte das Bettzeug häufig, damit der Duft des Waschmittels darin steckte, himmlisch frisch, doch der vertraute Geruch half nicht. Ich blieb Simon gegenüber ständig auf der Hut, es war, als teilte ich die Wohnung mit einem Fremden, jemandem, dessen Absichten ich nicht kannte, jemandem, dem ich in der Nähe meines schlafenden, abgekoppelten Körpers nicht mehr traute. Ich war schon ein paar Mal drauf und dran gewesen, Lotte mitten in der Nacht anzurufen und zu fragen, ob ich bei ihr schlafen dürfe, sah aber jedes Mal davon ab, denn wie hätte ich das Simon erklären sollen?

»Weiß Simon schon, was er anfangen will? Macht er sich jetzt selbständig, oder sucht er sich eine Stelle bei einer anderen Agentur?«

»Machst du dir finanziell Sorgen?«

»Ja, schon«, sagte ich.

»Das klappt bestimmt, er hat so viel Talent, demnächst stehen die Auftraggeber bei ihm Schlange.«

So gern ich auch ehrlicher gewesen wäre, es gelang mir nicht, von den Sorgen zu sprechen, die mich wirklich vom Schlaf abhielten. Auch wenn Lotte mich voll verstehen würde, alles tun würde, um mir zu helfen. Das Problem war, dass Coen über sie davon erfahren würde, und ich wollte Simon in seinen Augen nicht schwächen, ich wusste, wie wichtig es ihm war, von Coen ernst genommen zu werden.

»Think For Myself«, war Simons neuer Slogan geworden, ein Motto, das er fast täglich wiederholte. Ich wollte ihn nicht gerade in diesem Punkt treffen.

»Komm mal eben mit«, sagte Lotte. Sie führte mich ins Lager, hinter die Spiegelwand, außer Sicht der Kunden.

»Wenn du versprichst, dass du von der Ladenglocke wach wirst, kannst du dich jederzeit hierhin zurückziehen und hinlegen, wenn im Laden nichts los ist«, sagte sie. Sie trug Ohrstecker, an jedem Ohrläppchen baumelte ein perfektes Kirschenpaar. Ich hasste diese Dinger, sie waren nicht realistisch – wie oft gab es solche perfekten Paare in einem Kilo Kirschen, die man kaufte?

In einem geschützten Winkel hinter einem Rollregal baute Lotte ein weiches Nest aus aufeinandergestapelten farbenprächtigen Fake-Pelzmänteln, die wir niemals würden verkaufen können, weil niemand aussehen wollte wie ein Eisbär, der über einen Regenbogen gestolpert ist.

»Schlaf mal ein bisschen. Du siehst furchtbar müde aus.« Sie drückte mich sanft an den Schultern hinunter.

Meine Beine gaben nach, ich saß.

Als ich da nun auf dem Rücken lag, den Blick auf die Lagerdecke gerichtet, auf die schlampig aneinandergefügten Gipsplatten, den leicht chemischen Geruch ungetragener Kleidung in der Nase, im Hintergrund Lottes beruhigende Stimme, die die gerade in den Laden gekommenen Kunden einlullte, konnte ich endlich landen.