14. Juli 2018

Simons Website war fertig, in drei Sprachen. Die Visitenkarten wollte er heute in möglichst vielen Cafébars in der Stadt auslegen, in Zehnerstapeln, möglichst nah an der Kasse. Das hatte er sich vorgenommen, während er zu Hause die Route festlegte. Ich hatte Simon versprochen, bei Buik & Boek ebenfalls einen kleinen Stapel auf der Theke zu deponieren. Ich hatte Lotte nicht gefragt, ob ich das dürfe, sondern hatte sie unter der Theke in der Schublade versteckt, in der Absicht, bei jedem Kunden eine in die Tüte gleiten zu lassen, nachdem ich den Kassenzettel angetackert hatte.

 

Am Morgen hatte ich Bavo kurz angerufen, ich hatte es einmal klingeln lassen und sofort die Verbindung unterbrochen. Er hatte eine halbe Stunde später zurückgerufen. »Du wolltest mich sprechen?«

Ich hatte versucht, ihm meine Besorgnis wegen Simon zu vermitteln, aber irgendwie gelang mir das nicht, obwohl ich sogar den Mailentwurf mit seinen Verhaltensauffälligkeiten bei der Hand hatte, sollte ich vor lauter Nervosität den Faden verlieren.

»Also ehrlich gesagt freue ich mich zu hören, dass Simon sich selbständig macht«, sagte Bavo. »Ich sehe da kein Problem. Think Out Loud hat lange genug von seinem Talent profitiert.«

»Findest du diese Schlaflosigkeit überhaupt nicht alarmierend?«, fragte ich. Ich wollte Bavo nicht zu sehr beeinflussen, er würde bloß denken, dass ich ein Problem hatte. Und vielleicht hatte er recht und ich übertrieb, vielleicht hatte ich mich hier verrannt. Wie sollte ich das wissen? Wer würde es mir ehrlich sagen, falls es so war?

»Weißt du, Leo … Als ich hier in la bella Italia meinen Laden aufmachte und es danach aussah, dass was aus der Sache wird, da hab ich auch zwei Wochen lang kein Auge zugetan.«

»Okay, zwei Wochen. Bei ihm ist es anders. Das geht jetzt schon seit über zwei Monaten so. So wenig Schlaf ist einfach

Unbehelligt von jeglicher Gegenrede, schwarz auf weiß in meiner Maildatei, waren meine Argumente wirklich besorgniserregend, aber jetzt, wo ich sie laut formulierte, spürte ich sofort, wie effekthascherisch sie klangen.

Bavo lachte genüsslich. »Tödlich? Mein liebes Kind, der Mensch verträgt eine ganze Menge. Weißt du was? Gib ihm mal eine Massage. Das hat Tinneke früher bei Simon gemacht, als er ein kleiner Knirps war, sie hat seine Arme und Beine mit einer Lotion eingerieben, danach hat er wie ein Murmeltier geschlafen. Ein kleiner Knirps, der schläft wie ein Murmeltier, das hat Tinneke immer gesagt. Ach … wäre sie bloß noch da für Simon.« Das Tattoo erwähnte er nicht weiter, als gehe er davon aus, dass es ein Scherz war.

 

Den ganzen Tag über war noch kein Kunde und keine Kundin im Laden erschienen. Das lag nicht an uns, hatte Lotte schon ein paarmal wiederholt. Es gab Geschäftsinhaber und Gastwirte, die Anfang der Woche eine Petition gegen die Antiverkehrspolitik hatten herumgehen lassen, die ihre Kunden abschrecke – von Porsche-Besitzern könne man doch nicht erwarten, dass sie sich zu Fuß fortbewegen, oder? Heute war es noch schlimmer, nicht nur die Parkplätze, sondern auch die Fußwege lagen verlassen da, der Oude Graanmarkt stand voll mit leeren Stühlen, als hätte eine Stadträumung stattgefunden, über die wir als Einzige nicht informiert worden waren.

Wir hatten an diesem Vormittag jeder einen Teil der Lagerbestände gezählt, die Ergebnisse gegengecheckt, waren zu vier verschiedenen Resultaten gekommen. Ich war müde, ihr war schlecht, morgen würden wir einen erneuten Versuch unternehmen.

Sobald ich in den Augenwinkeln die leiseste Bewegung auf der Straße sah, schaute ich, ob es zufällig Simon war, der vorbeiging. Auf meinem Handy hatte ich gesehen, dass der letzte Kaffee, den er bezahlt hatte, im Yuka in der Anspachlaan war, einer seiner nächsten Stopps war bestimmt das Chicago, dort verkehrte die Sorte junger Eltern, die er als Zielpublikum anvisierte, mit genügend Geld, mit genügend Unruhe, um mal was Verrücktes zu machen, er konnte jeden Moment vorbeikommen, seine Erscheinung würde hier, in der ausgestorbenen Dansaertstraat, sofort auffallen. Mit einer Mischung aus Angst und Sehnsucht schaute ich hinaus. In den letzten Tagen hatte ich Simon immer in unseren klaustrophobischen Zimmern gesehen, ich wollte ihn gern mal in einer weiträumigeren, unabhängigeren Umgebung sehen, wer weiß, vielleicht sahen seine Bewegungen dann normal aus.

Die Vorstellung, ihn nachher berühren zu müssen, auf Bavos Rat hin Simons Hände und Beine mit Lotion zu massieren, rief ein Gefühl des Widerwillens in mir hervor, die Erinnerung an frühere Massagen, bei denen ich ihm einen runterholte, während er auf dem Rücken lag, und mich danach auf ihn legte, minutenlang, still und fest an ihn gedrückt, bis alles getrocknet war und ich mich losreißen konnte. Daran durfte ich jetzt nicht denken, das heimelige Geräusch unserer sich voneinander lösenden Hautflächen.

 

Auf dem grünen Satinpuff wurden normalerweise die Kinder geparkt, während ihre Mütter Klamotten anprobierten. Samstags fand man da ein ganzes Knäuel von Minimenschen – Klettverschlussschuhe, Rotznasen –, die Gesichter alle in dieselbe Richtung gewandt: zum Bildschirm, der in den Marmorkamin eingelassen war und auf dem ununterbrochen derselbe Film lief. Es musste eine DVD sein, die die Geschäftsführerin irgendwo gratis bekommen und selbst nie angeschaut hatte, sonst wüsste sie, wie ungeeignet die Geschichte von Findet Nemo in diesem Zusammenhang war: die Clownfischmama, die gerade abgelaicht hat, wird zusammen mit all ihren Eiern – bis auf eines – von einem Barrakuda geschluckt. Wir hatten den Film schon Hunderte von Malen gespielt, von den ersten fünfzig Minuten hatte ich so ungefähr alle Szenen mal gesehen, in beliebiger Reihenfolge, aber noch nie das Ende – Mütter blieben hier nie neunzig Minuten lang.

Lotte und ich hatten vorgehabt, den Film einmal nach Hause mitzunehmen und einen Filmabend zu veranstalten, doch daraus würde jetzt wohl nichts mehr, sie würde ihn bestimmt mit ihrem Kind anschauen wollen.

»Ähm … Ist das ein Wort, zusammengeschrieben?«

»Nein, zwei. Tohu …« Ihre Augen suchten den Rest des Wortes auf dem Schirm, das dauerte ein bisschen. »… Wabohu. Tohu Wabohu.« Sie wiederholte es ein paarmal, beim vierten Versuch kam es glatt aus ihrem Mund.

Wortpost war der kostenlose Newsletter, für den wir uns vor ungefähr drei Jahren unter der Mailadresse des Geschäfts angemeldet hatten, boekenbuik@brussel.info, nachdem ich im Spaß zu Lotte gesagt hatte, mein Wortschatz würde

»Was hältst du davon? Werden Sie Abonnent und erhalten Sie zweimal pro Woche eine E-Mail, in der unser Sprachberatungsdienst ein schwieriges oder seltenes Wort aus den Nachrichten erklärt«, hatte sie mir stolz vorgelesen. »Diese Woche: Schmieren. Keine Ahnung, was das heißt. Soll ich es dir mal vorschmieren

Der Newsletter wurde montags- und donnerstagsvormittags versandt – Tage, an denen Lotte und ich gemeinsam im Laden waren, das konnte kein Zufall sein. Die Wortpost enthielt immer ein Wort, die Bedeutung des Worts, die phonetische Wiedergabe und – das Schönste – eine etymologische Erklärung, »Wortwissen« genannt.

Daraus war ein Ritual entstanden: Sobald Lotte die Mail von Wortpost auf dem Bildschirm im Laden aufploppen sah, schmierte sie es mir laut vor, inklusive der Bedeutung und des dazugehörigen »Wortwissens«. Das war der einzige Augenblick der ganzen Woche, in dem sie ihr Schauspieltalent einsetzen konnte. Am liebsten waren ihr die hochgestochenen, weit hergeholten Wörter, damit sie mit affiger Stimme einen Quizmaster spielen konnte. Meine Aufgabe war es, die Bedeutung des Begriffs zu erklären oder zu erraten, und wenn mir das gelang, musste Lotte noch am selben Tag das Wort unbemerkt in einen Dialog mit einer Kundin einschmuggeln, ohne laut loszuprusten. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie derangiere, nur schnell Ihre Hosenbeine abstecken. Ich werde versuchen, die Kinder zu kalmieren. Hoffentlich keine Kalamitäten und Malaisen bei dieser Geburt! Wir haben alles, was sich für diese Transition eignet.

Bisher war sie jedes Mal damit durchgekommen.

»Hat es was mit Kochen zu tun, oder ist es eine Art afrikanischer Regentanz?«

Ich schüttelte den Kopf.

Lotte las die Lösung ihres Rätsels vor, feierlich. »Tohu Wabohu. Bedeutung: Zustand von Chaos oder Wirrnis. Wortwissen: Tohu Wabohu ist hebräisch. Es sind geflügelte Worte aus Genesis, dem Ersten Buch Mose, in dem beschrieben wird, wie Gott Himmel und Erde erschafft. Am Anfang war die Erde tohu wabohu: ›wüst und leer‹, so die traditionellen Bibelübersetzungen. Die Wortkombination Tohu Wabohu hat eine eigenständige Bedeutung entwickelt und kann auf Niederländisch auf einen Zustand von Chaos oder Wirrnis hindeuten.«

Chaos und Wirrnis. Ich suchte im Spiegel ihren Blick. Lachte sie über mich? Machte sie das absichtlich, hatte sie es sich spontan ausgedacht, wollte sie mich dazu verleiten, etwas über diesen Morgen zu erzählen?

»Das steht hier wirklich.«

Plötzlich saß sie neben mir, auf dem Puff. »Leo, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie. »Schläfst du immer noch nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Darf ich dir mal was zeigen?«, fragte ich. »Simon hat eine Website für seine neue Firma, und ich würde mal gern deine Meinung dazu hören.«

»’türlich«, sagte sie.

 

Letzten Samstag, als ich aus dem Geschäft nach Hause kam, nachdem Lotte ihre Schwangerschaft enthüllt hatte, hatte Simon die Fertigstellung seiner Website mit mir feiern wollen. Er hatte in die Türöffnung seines Büros ein rotes Band gespannt, das ich mit einer Nagelschere durchschneiden musste, woraufhin ich auf dem Stuhl Platz nehmen durfte, um mir als Allererste SimonSproud.be anzusehen. Zuvor hatte ich versprechen müssen – geschworen hatte ich es, bei Daans unschuldiger Seele –, dass ich es niemandem verraten würde, es sei noch nicht ganz fertig, sagte er, er müsse noch

»Das Band nicht zu schnell durchschneiden, du weißt, wie lange ich daran gearbeitet habe!«, hatte Simon gesagt und genau zugeschaut, wie ich mich danach hinsetzte und seine Website aufrief. Die Startseite war schlicht und bestand aus drei Elementen: »Wer ist Simon?«, »Portfolio«, »Philosophie«. Simon verfolgte aufmerksam, was ich als Erstes anklicken würde, er war mordsstolz, in ihm brandete bereits Applaus auf, Tausende von Händen, und jetzt auch meine. Schon seit dem Durchschneiden des roten Geschenkbands hatte ich Bauchschmerzen.

»Und?« Knacks, knacks machte er mit seiner Nase.

»Ja, schön übersichtlich«, sagte ich.

»Ist das alles?«, sagte er.

»Und clever«, sagte ich. »Clever, dass du das selbst gemacht hast.«

Früher ließ Simon mich immer an seinen Entwürfen teilhaben. Er legte mir nach einem Abgabetermin die Resultate vor, loggte sich auf dem Firmenserver ein und zeigte mir auch die Zwischenstadien, und dann sah er mich unsicher an, manchmal mit zitternden Händen. Ich war die Allererste, die Beifall klatschen musste, und es war einfacher, kritisch oder begeistert zu sein, weil es immer Teamarbeit gewesen war.

»Schau mal unten, in meinem Portfolio«, hatte Simon gesagt, »ich hab da eine Überraschung für dich.«

Tatsächlich, ganz unten auf der Seite prangte mein Name neben einem Tattoo, das er für mich entworfen hatte. Es hatte Ähnlichkeit mit der bekannten Escher-Zeichnung mit den zwei Händen, doch dies war eine kleine Figur, die sich mit

 

Ich ging mit Lotte zum Computer und öffnete einen Browser. Simons Website war sofort da, nachdem ich das S eingetippt hatte, ich hatte mir in den letzten Wochen häufig angesehen, wie weit er damit war, was er über den Tag hinweg während meiner Abwesenheit geschafft hatte.

Ich scrollte im Lesetempo durch seine Philosophie, während ich Lottes Augen genau beobachtete – wie sie über die Zeilen glitten, hin und her und hin und her –, ich suchte nach einem Urteil, sah aber nur einen neutralen Blick. Ich ließ die Maus nicht los, damit sie nicht selbst auf der Website herumklicken konnte, sonst würde sie auch auf der Seite »Wer ist Simon?« landen, wo der Text stand, den ich geschrieben hatte. Lotte könnte bemerken, dass er im Vergleich zum Rest schlecht geschrieben war, oder sie könnte auf der Portfolio-Seite zu weit nach unten scrollen und dort das Tattoo entdecken, das Simon für mich entworfen hatte.

Jetzt standen Lottes Augen still. Sie hatte alles gelesen. Sie sah mich an.

»Also, du erzählst Simon persönliche Geschichten, Traumata oder etwas, was du schon dein ganzes Leben lang vergessen willst, und dann entscheidest du dich, einen Entwurf anfertigen zu lassen, den du auf deine Haut übertragen lässt, um zu zeigen, dass es dich stärker gemacht hat?«

»Eine psychologische Beratung, die zu einem Tattoo führt? Eine Art ästhetische Narbe für die Seele«, fasste sie zusammen.

Diese ästhetische Narbe für die Seele, das war gut formuliert, darauf hätte ich selbst kommen müssen, dann hätte ich es Simon vorschlagen können. Wer von uns beiden war hier eigentlich die Schriftstellerin?

Lotte griff zur Maus und klickte selbst weiter.

»Oh. Hat er das für dich gemacht?«, sagte sie beim Anblick des zeichnenden und sich ausradierenden Männchens. Sie studierte das Tattoo, musterte mich erneut, als würde sie meine Verletzung erst jetzt verstehen, wo sie vor meiner potenziellen ästhetischen Narbe stand.

»Schön!«, sagte sie. »Du kannst stolz auf ihn sein. Ich kenne durchaus Leute, die gern so ein Tattoo hätten, gerade weil sie nie wissen, was genau sie sich tätowieren lassen sollen, und denen nur ein Name oder ein kurzer Text zu wenig ist. Die könnten so was gebrauchen. Leute, die ein Kind verlieren und solche verrückten Dinge machen, zum Beispiel einen Ring aus der Plazenta anfertigen. Ich würde ihm meine Haut schon anvertrauen.«

»Wenn du dieses Kind verlieren würdest?«

»Aber nein!« Sie erschrak beim Gedanken daran. »Falls ich je ein Tattoo wollte. Ich wäre neugierig, wie er mich zeichnen würde. Na ja, da stehen noch keine Preise dabei. Ich kann mir vorstellen, dass so was nicht billig ist.«

»Nein, das stimmt.« In letzter Zeit rechnete ich manchmal aus, wie viele Tattoos er zu den derzeitigen Preisen verkaufen müsste, um alle seine Investitionen zu kompensieren, und nach seinem heutigen Zug durch die Cafébars waren es beträchtlich mehr als die Anzahl der Bekannten, die wir zusammen hatten.

»Oh, hast du das geschrieben? Lieb von dir, und gut gemacht, neutral, so muss es sein.«

»Lotte, jetzt mal ehrlich. Wie findest du den Ton der Website, abgesehen von der Seite ›Wer ist Simon?‹, die übrigen Seiten und die ganze Idee, ist es nicht zu …?«, fragte ich.

»Zu was?«

»Na ja, einfach zu. Zu selbstsicher, zu gekünstelt?«

»Aber nein«, sagte Lotte.

»Bestimmt?« Ich zog zögernd den Stapel Visitenkarten aus der Schublade. »Meinst du, ich kann die hier für Kunden und Kundinnen auslegen?«

Lotte nahm eine Karte vom Stapel, inspizierte sie, pfiff bewundernd durch die Zähne. »Boah, alle Achtung, Hochglanzpapier … Es ist ihm ernst!«

 

Wenn er nicht damit beschäftigt war, sich Tutorials anzuschauen, die schon lange nichts mehr mit dem Gestalten einer Website zu tun hatten – »Hi guys, in the next fifteen minutes I will explain to you how to create your own tutorial« –, war Simon nachts in den sozialen Medien unterwegs. Unter seinem Alter Ego hatte er ein Profil und eine Seite angelegt. Nach wenigen Tagen hatte er ungefähr tausendfünfhundert neue Freunde. Morgens waren die ersten Mitteilungen in meiner Timeline die lange Reihe seiner neu geschlossenen Freundschaften. Simon Sproud ist jetzt befreundet mit Helmut Lotigiers. Simon Sproud folgt jetzt Elio Di Rupo.

Auffallend oft fügte er andere Simons und Coens seiner Freundesliste hinzu.

Ich konnte eigentlich nicht glauben, dass es niemanden gab, der das auch sah, ehemalige Kollegen, die im Büro Witze darüber rissen, woraufhin einer von ihnen Simon per Mail vorsichtig darauf ansprach. Aber was wollte ich: Ich stand

Das Einzige, was ich tat, war, meine Sproud-Liste möglichst diskret zu ergänzen. Inzwischen konnte ich die Liste mit meinen Beobachtungen auswendig hersagen, so oft war ich sie durchgegangen, zum Trost, um mich selbst zu überzeugen, dass da wirklich etwas war, dass ich nicht selbst verrückt wurde, dass es erlaubt war, mich entfremdet zu fühlen, mir Sorgen zu machen. Ich ergänzte den Mailentwurf auch auf meinem Handy. Nachts lag es unter meinem Kopfkissen, eine Beule, die umso härter zu werden schien, je länger die Liste wurde. Ich bekam schon Nackenschmerzen davon, sobald ich mich hinlegte.

 

Ich fragte Lotte, ob Coen je etwas über Simons Kündigung erzählt hatte und was ihr vorausgegangen war.

Lotte zuckte nachdenklich mit den Achseln. »Nein, soweit ich weiß, nicht … Was könnte denn passiert sein?«

»Und Coen hat von Simon in den letzten Wochen nichts gehört?«

»Nein … Ich glaube nicht, dass sie sich seit der Kündigung gesprochen haben. Höchstens auf Facebook die Posts gegenseitig gelikt. Coen hat viel zu tun gehabt. Dieses Hallenfußballturnier und viele Aufträge, er hat sogar kaum noch Zeit, zu den Infoabenden über Geburtsvorbereitung mitzukommen. Warum fragst du?«

»Es stimmt was nicht, weil er zu glücklich ist? Ich würde mir nie Sorgen machen, wenn Coen zu glücklich ist, nur wenn er unglücklich ist. Vielleicht fühlst du dich bedroht, weil Simon beschlossen hat, beruflich ins kalte Wasser zu springen, während du immer noch hier hockst, im selben Umstandsmodeladen, mit diesem Drehbuch, das du schon seit acht Jahren in deinem Computer hast?«

»Was ist verkehrt an diesem Laden?«, fragte ich. »Du arbeitest hier doch auch immer noch? Du gehst doch auch nicht zu Castings?« Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Lotte gegenüber lauter wurde, ich erschrak selbst, es musste von der Übermüdung kommen.

»Aber du hast doch neulich selber gesagt, dass du es leid bist, immer die gleichen Kleidungsstücke zusammenfalten zu müssen? Und du seufzt ständig rum in letzter Zeit, hast keine Geduld mit den Kunden. Vielleicht solltest du auch einfach anfangen zu schreiben? Ein neues Drehbuchprojekt bei der Filmförderung einreichen?«

Worauf hatte ich eigentlich gehofft? Dass Lotte mich in meinen Ängsten bestätigen würde oder dass sie mich beruhigte, indem sie sagte, dass Simon Sproud eine geniale Idee sei? Ich wollte jemanden, der auf meiner Seite stand, und zugleich jemanden, der mir widersprach und sagte, alle meine Sorgen seien unberechtigt.

Solange ich ihr nicht die ganze Geschichte erzählte, solange ich ihr das »Wer ist Sproud?«-Konzept in meiner Mailbox nicht zu zeigen oder zu schicken wagte, konnte ich auch nicht erwarten, dass sie es sehen konnte.

»Wie oft spricht Coen eigentlich zu Hause über Simon?«, fragte ich.

»In welchem Sinn?«

Dingdong. Eine junge Frau kam in den Laden. Sie erkannte Lotte, und die beiden fielen einander fröhlich um den Hals. Sie hatten zusammen Drama studiert, die Frau hatte sich danach auf Journalismus verlegt und war zum Schluss in der Online-Redaktion von Bruzz gelandet. Sie war schwanger und wollte in ein paar Monaten heiraten.

Ich sah, wie Lotte sich sofort an den eigenen Bauch fasste. »Ach je, so ein Zufall, ich bin seit Anfang des Jahres auch verlobt und ich bin auch schwanger«, sagte sie. »Du bist die Erste, nach Leo und meinen Eltern, der ich es erzähle!«

Lotte half der Freundin fachkundig beim An- und Ausziehen einiger teurer Wickelkleider von Pietro Brunelli, mit einem improvisierten Brautschleier – ein Tetratuch, das nach jeder Anprobe um die Schultern geschlungen wurde, um den Look zu vervollständigen. Sie schwatzten in einer Tour: wie schnell alles gegangen war, dass sie bald selbst Kinder haben würden. Sie tauschten die Adressen von Stillcafés in Brüssel aus (»Bei Kaffabar liegen sogar Gratis-Pampers!«), sie erörterten, was für eine Art Mutter sie nicht werden wollten (und nicht, welche Mutter sie werden würden, dazu kein Wort).

Beim Bezahlen fragte die Frau Lotte, ob sie, mit ihrem Hintergrund als Schauspielerin, vielleicht junge Theaterleute kenne, die etwas für Bruzz schreiben könnten. Ein Gedicht über die Stadt, zum Beispiel. Oder Kolumnistinnen oder

Simon, wollte ich vorschlagen, der konnte wirklich einen konkreten Auftrag gebrauchen, und er war ein guter Illustrator. Vor Jahren hatte er schon mal mit einer Serie von Stadtcollagen angefangen, zusammengestellt aus Schnipseln der Papierversion von Bruzz, aber dieses Projekt hatte er letztlich nie zu Ende gebracht.

»Leo, sag mal, könntest du das nicht machen?«, fragte Lotte. Und bevor ich reagieren konnte, sagte sie schon zu der Journalistin: »Leo wäre dafür wirklich geeignet, du musst mal ihren Blog lesen, sie kann so gut kleine Dialoge schreiben, und sie wohnt schon lange in Brüssel.«

Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie die Webadresse von Boekenbuik Bloggt und meinen Namen auf Simons Visitenkarte notiert.

Nach Geschäftsschluss, auf dem Weg nach Hause, fühlte ich mich erleichtert, dass das Gespräch zwischen Lotte und mir durch die Journalistin unterbrochen worden war und dass wir es danach nicht wieder aufgegriffen hatten.

Womöglich hätte ich ihr nicht nur die Liste meiner Beobachtungen gezeigt, sondern wäre auch in Versuchung geraten, ihr den Film vorzuspielen, in dem ich ohne Simons Wissen einen seiner merkwürdigen Monologe festgehalten hatte, während er wie besessen durch die Wohnung lief, frühmorgens, in einem offenen Schlafrock. Jemand, der heimlich filmte, um dem anderen dessen Obsession zu beweisen, lieferte vor allem den Beweis der eigenen Obsession, der eigenen Verrücktheit.