6. August 2018

Die Arbeiten in unserer Straße begannen an dem Tag, an dem mein erster Artikel im Bruzz erschien. Dreihundertfünfzig Wörter über Stadttauben, wie sie sich auf Plätzen herumtreiben, leicht vorgebeugt, watschelnd, den Eindruck erweckend, dass sie einst Vorderbeine hatten anstatt Flügel und dass sie die noch immer vermissen.

So leer hatte ich die Herzieningslaan noch nie gesehen. Mir war nicht klar, wie und wohin alle geparkten Autos so plötzlich verschwunden waren. Da stand nur noch ein weißer Kleinbus, vermutlich vom Bauunternehmen, quer auf der verlassenen Straße, auf der vorderen Bank drei Straßenarbeiter, die jeder ein Brötchen aßen, ein Weißer, ein Türke und ein Asiat, als wären sie der Anfang eines faulen, rassistischen Witzes. Sie trugen Helme, reflektierende Westen und Walkie-Talkies und schauten zu, wie ein Kran einen etwas kleineren Kran brachte. Im Dach des Kleinbusses saß ein sich drehender Ventilator.

Ich wusste sofort: Das ist nicht gut.

Inzwischen war ich daran gewöhnt, wie Simon zu schauen und zu denken, vorauszusehen, was er beargwöhnen würde, so dass ich ihn mit einem Bogen darum herumlotsen oder seine Aufmerksamkeit ablenken konnte oder damit ich seinem Argwohn zuvorkommen konnte, indem ich eine alles übersteigende Theorie vorbrachte, etwas so Übertriebenes ersann, dass er sich nicht mehr traute, selbst mit etwas anzukommen.

Simon reagierte nicht auf meine Nachricht.

Ich schickte einen zwinkernden Smiley hinterher.

 

Gegen Ende des Tages hatten die Straßenarbeiter eine aus Brettern gezimmerte kleine Brücke zwischen unserer Haustür und der Bordsteinkante gebaut, über die frisch ausgehobene Grube hinweg, in der schwarze Abwasserrohre und orangefarbene Leitungen freilagen wie Muskeln und Knochen in einer mit Klammern aufgehaltenen Wunde.

»Abreißen geht immer schneller als Aufbauen«, rief der türkische Arbeiter mir zu, der mich in das Loch schauen sah.

Simon erwartete mich oben an der offenen Tür.

»Hat der Mann dich nach Simon Sproud gefragt? Der Typ sieht Maxim täuschend ähnlich, er könnte glatt sein älterer Bruder oder sein Cousin sein.«

»Maxim?«

»Maxim von Think Out Loud, der Typ sitzt seit heute auf meinem Platz bei TOL. Er ist ein Cousin von Coen. Das steht auf ihrer Website, auf der ›Wer sind wir?‹-Seite, dort wird er als mein Nachfolger vorgestellt – buchstäblich mein neues Ich.«

Er griff nach meinem Rucksack, den ich gerade vom Rücken genommen hatte, und tastete in den offenen Seitentaschen herum. Was er dort zu finden geglaubt hatte, wollte er nicht sagen.

 

An den darauffolgenden Tagen rissen die Paparazzi die gesamte Straßendecke mit einem ratternden Schlagbohrer auf, der sogar das Besteck in der Schublade klirren ließ.

Nicht stören

Bitte!!!!!!

 

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Das Schild hing an der Tür seines Büros, unter seinem Logo, und war aus der Papprückseite eines Spiralblocks gebastelt. Erst hatte da nur »Nicht stören« gestanden, aber im Laufe der Woche hatte er »Bitte« und danach die Ausrufezeichen hinzugefügt und dann noch mehr Ausrufezeichen, bis sogar ein zweites Schild dafür nötig war und es fast schon rührend wurde, dass ich ihn nicht einmal stören gekommen war, als würde es mich nicht genug interessieren. Daan schaute aus sicherer Entfernung auf die geschlossene Tür, in einer Haltung, die üblicherweise für eine gerade geöffnete Packung Speck oder für fremden Besuch reserviert war. Ihre gespitzten Ohren richteten sich wie zwei Minisatelliten auf jedes fremde Geräusch, das zu hören war.

Simon schlief so wenig. Seine Tränensäcke, die Augenringe, die knochigen Schultern in seinem Pullover, ich konnte es

 

An den Tagen, an denen ich tagsüber nicht im Geschäft zu arbeiten brauchte, flüchtete ich in die Stadt, schließlich hatte ich auch einen Grund dafür: Ich musste Artikel über Brüssel schreiben. Ich folgte einem flämischen Paar durch den chinesischen Supermarkt, das mit dem Kochbuch Simple von Ottolenghi in der Hand eine Zutat suchte, von der sie beide nicht wussten, wie sie aussah, und deren Namen sie auch nicht aussprechen konnten, und berichtete darüber. Ich schrieb über Touristen und wie sie heutzutage über Stadtpläne gebeugt dasitzen, nicht länger erwartungsvoll die Route festlegend, die sie gehen wollen, sondern erleichtert die Straßen abhakend, die sie bereits geschafft haben. Ich beobachtete Polizisten, die vor der Börse Wache standen, in ihrer typischen Polizistenhaltung, die Arme übereinandergelegt, die Hände in die Armlöcher ihrer kugelsicheren Westen gehakt, bereit, in Erwartung des Moments, in dem jemand die Single von den Electronica’s auflegen würde, den Ententanz hinzulegen.

Seit meine Beiträge auf der Website von Bruzz standen, sah ich mir fast jede Stunde schnell die Reaktionen zu dem neuesten Artikel an, die durchweg positiv waren. Selbst wenn sie überhaupt nichts mit meinem Text zu tun hatten – Leute, die sich über die Müllabfuhr und die Streichung von Parkplätzen in ihrer Wohngegend beschwerten –, empfand ich es als Ehre, dass sie diese Reaktion unter meinen Beitrag geschrieben hatten. Ich war erleichtert, dass kein merkwürdiger Kommentar von Simon dabei war.

Ich hatte Simon, wie abgesprochen, jeden Text lesen lassen, bevor ich ihn an die Redaktion geschickt hatte, um zu

Nachdem ich an meinen freien Tagen Eindrücke gesammelt hatte, die ich fürs Schreiben verwenden wollte, ging ich regelmäßig in den Laden, um Lotte, der fast ununterbrochen übel war, ein bisschen unter die Arme zu greifen. Wenn es ruhig war, setzte ich mich hinten im Lager an den Tisch, um ein paar Notizen auszuarbeiten. Ich beichtete nicht, dass ich zum Schreiben dorthin ging, weil ich nicht zu Hause zu sein wagte, wo Simon zugange war, und auch nicht, dass ich schon längst genügend Artikel geschrieben hatte, mehr als doppelt so viele, wie ich brauchte. Jahrelang hatte es einen Stau gegeben, jetzt strömte es nur so aus mir heraus. Ich nahm mir vor, alles auf meinem eigenen Blog zu posten, der zu meiner Freude auch stärker besucht wurde, wie die Statistik vermeldete.

Dass ich keine schreibende Verkäuferin mehr war, sondern eine im Verkauf tätige Schreiberin, wollte ich im Buik & Boek zeigen, nicht nur Lotte und den Kundinnen, sondern auch dem Interieur.

»Du legst ja richtig los, Mensch«, bemerkte Lotte mit leicht neidischem Unterton.

Sie druckte Screenshots von den Artikeln aus und hängte sie an die Schaufensterscheibe, so dass Passanten sie ebenfalls lesen konnten, eine Geste, die mich sehr rührte, weil ich selbst es vielleicht nicht getan hätte, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären.

Manchmal schlief ich nach dem Schreiben eine halbe Stunde im Mantelnest.

 

»Spruit, wenn dich jemand abhören wollte, würde der das doch heimlich tun, oder?«, sagte ich vorsichtig.

»Ja, das würde man tatsächlich meinen, dass sie uns möglichst unauffällig abhören, dass sie einen Straßenkehrer schicken oder jemanden, der den Stromzähler oder die Gasuhr abliest, man würde nicht erwarten, dass sie eine ganze Straße räumen und einen Kran hertransportieren lassen, aber das ist es ja gerade: Sie kennen mich, sie können meine Social-Media-Profile auswerten, sie wissen, wer ich bin und wie ich denke, gerade deshalb machen sie es so sichtbar, sie wissen, dass ich einen Elektriker erwarte. Warum, glaubst du, habe ich dieses Fernglas gekauft?« Er kam dicht an mein Ohr und flüsterte. »Erzähl mal einen Witz. Du wirst sehen, die da unten können dich hören, sie stehen mit uns in Verbindung.«

»Einen Witz?«

Er drückte mir das Fernglas ungeschickt ans Gesicht, seine Hände waren kalt, ich nahm das Ding, trat einen Schritt beiseite.

Ich versuchte, mich an einen Witz zu erinnern, während ich die Okulare auf die drei Männer da draußen scharfstellte. Laut Simon taten die Arbeiter nur so, als würden sie

Die Pläne, die sie sich anschauten, sahen glaubwürdig aus. Einer von ihnen fuhr mit der Fingerspitze über ein paar rote Ziffern.

»Was ist schwarz-weiß-schwarz-weiß-schwarz-weiß-bumm …?« Das war der einzige Witz, der mir einfiel, ich hatte ihn von einem französischsprachigen kleinen Jungen gehört, der ihn im Geschäft seiner Mutter erzählt hatte.

Ich drehte mich zu Simon um, seine Haut, seine Augen, durch die Objektive so nah, unscharf, die Oberfläche irgendeines fremden Planeten.

»Was weiß ich, also, sag schon!«, antwortete Simon ungeduldig.

»Das ist … eine Nonne, die die Treppe hinunterfällt.«

Ich schaute hinaus, die Männer deuteten weiterhin konzentriert mit den Fingern auf die im Plan notierten Maße. Bei einem von ihnen stand der Reißverschluss seines Arbeitsanzugs offen.

»Nein, echt, keiner lacht.«

Simon nahm mir das Fernglas ab und schaute selbst, einen nach dem anderen nahm er die Straßenarbeiter ins Visier. Ich schaute auf Simons Tattoo, danach wieder nach draußen.

»Na ja, über diesen Witz hätte ich auch nicht gelacht. Das sind Arbeiter, you know?« Simon erhob die Stimme. Ich konnte sehen, wie die Ader in seinem Nacken, unter dem Tattoo, anschwoll. »Ich hatte dich nach einem guten Witz gefragt, nicht nach einem für Sechsjährige. Dann überlege ich mir halt selbst einen.« Er dachte ein paar Sekunden nach. Um dann mit einem Witz über Huren anzukommen, die in der Kneipe mit der Größe ihrer Vagina angaben und was da alles reinpasste, »eine Salatgurke, eine Weinflasche, ein Nudelholz« – bis die letzte Hure sich schweigend über ihren

In seiner Haltung sah ich einen Anflug von Scham, etwas Entschuldigendes, er wusste selbst sehr wohl, wie lächerlich wir uns hier machten, trotzdem konnte er nicht anders, es war ihm von oben aufgetragen worden, und er hatte furchtbare Angst, diese Befehle zu ignorieren. Man würde fast hoffen, dass die Arbeiter loslachten, einfach, um Simon einen Gefallen zu tun.

»Vielleicht ist der Empfang bei ihnen etwas verzögert, sie hören den Witz da unten erst jetzt, ein paar Sekunden müssen wir berücksichtigen.«

Wir warteten länger als bei meinem Witz. Ich stellte mich näher zu Simon, wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Er war mager geworden, knochiger. Mit seiner freien Hand fuhr er, während wir warteten, mehrmals an seiner Nase entlang – knacks, knacks, knacks.

»Da, schau! Also, ja, ja, ja, jetzt lachen sie! Schau! Siehst du wohl!« Es war wie ein langgezogener Freudenschrei. Unsanft drückte er mir das Fernglas wieder ans Gesicht. Die Okulare waren so feuchtwarm wie zwei gerade frei gewordene WC-Brillen.

»Ich sehe nur einen, der lacht.«

»Bestimmt nur den Belgier? Natürlich, der Türke spricht wahrscheinlich französisch, und Asiaten haben einen anderen Sinn für Humor.«

Es war schwer einzuschätzen, was Simon nun eigentlich mehr fürchtete: dass alle ihn bespitzelten oder dass es in Wirklichkeit niemanden interessierte, womit er beschäftigt war.