Zwei Schuhe, ein Frack. Während ich mir Schuhe und Jacke anzog, hörte ich es Simon wieder sagen. Der ganze Abend lief in Dauerschleife in meinen Gedanken ab. Ich fühlte mich verkatert und zerknautscht, die Haut über meinen Wangen spannte.

Im Studium hatten wir im zweiten Jahr einen MultiCam-Workshop gehabt. Jeder Studierende musste eine Podiumsdiskussion zwischen drei Leuten mit vier aufgestellten Kameras aufzeichnen. Man stand vor einem Schirm, auf dem die vier Bilder zu sehen waren, dort musste man die Einstellung wechseln, sich entscheiden, welche Kamera man einsetzte, um es zu einem Ganzen zu montieren, das das Gespräch am besten wiedergab.

Das war die Art und Weise, in der ich ständig über den gestrigen Abend nachdachte. Simon, Coen, Lotte und ich hatten alle vier den Abend unterschiedlich erlebt, und ich erstellte jetzt Bildmontagen, wobei ich die Perspektive wechselte, so dass ich Simons merkwürdiges Verhalten auf alle möglichen Weisen vor mir sah. Zum ersten Mal sah ich mich selbst, eine todmüde Leo neben einem Simon, der ihr entglitt.

Es war das erste Mal, dass ich Simons merkwürdiges Verhalten mit anderen hatte teilen können, dass ich es nicht allein hatte ertragen müssen, aber auch das hatte mir überhaupt keine Erleichterung verschafft, im Gegenteil, die Scham, die Entfremdung und die Verwirrung waren nur größer geworden.

Ich beschloss, das Versprechen, das ich Simon gegeben hatte, zu halten und Simons und Coens Vergangenheit niemals mit Lotte zu teilen, es würde es nur schlimmer machen, ähnlich wie wenn herrschsüchtige Mütter in die Schule kommen, um sich in Auseinandersetzungen zwischen Teenagern

 

»Leo, noch mal zu gestern … Falls notwendig: Ich kann dir die Kontaktdaten eines sehr erfahrenen Psychiaters besorgen, meine Tante ist Psychologin, sie hat Verbindungen. Denk in Ruhe darüber nach, ich will dich zu nichts zwingen, aber ich denke, dass es notwendig ist«, hatte Lotte am frühen Morgen geschrieben, die Nachricht stand auf meinem Bildschirm, als ich aufwachte, ich hatte ungefähr zwei Stunden geschlafen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich ließ es stehen, weil ich hoffte, dass das Angebot verschwinden würde, obwohl ich wusste, das würde nicht geschehen.

Ich wollte weg aus dieser Wohnung, aus diesem Zimmer, ich hatte nicht die Energie, dazubleiben, Simon zu sehen, seine Geräusche zu hören. Genauso sehr widerstrebte mir der Gedanke, ins Geschäft zu gehen, Lotte dort stehen zu sehen, ihrem Blick ausgesetzt zu sein. Ich hatte weder die Kraft, über den gestrigen Abend zu sprechen, noch, ihn zu verschweigen.

Und ihr Bauch, mit diesem Kind darin, das immer größer wurde, das sich auf Ultraschallaufnahmen bereits deutlich abzeichnete. Sie brauchte nichts zu sagen, brauchte nur dazustehen, die Hände in die Seiten gestemmt. Diese Haltung nahm sie in letzter Zeit oft ein, mit durchgedrücktem Rücken, mit geraden Schultern, ein wandelndes Ausrufezeichen, während ich immer gebeugter ging, eine einzige Frage.

Je weiter ich mich von zu Hause entfernte und je näher ich dem Geschäft kam, umso langsamer fuhr ich.

Ich kann nicht mehr, dachte ich, während ich zögerlicher in die Pedale trat. Mir schwindelte. Ich konnte nicht mehr, und obwohl ich diesen kleinen Satz stumm gesagt hatte, war

 

An der Ecke Kartuizerstraat/Sint-Kristoffelsstraat, kurz vor dem Handtaschengeschäft, stieg ich vom Rad und blieb mit zitternden Knien zwischen den Kartons stehen, die zum Abholen an die Straße gestellt worden waren – ein paar Sekunden lang, während ich auf den Gehweg schaute, die Plattenreihen, die sich, von der Morgensonne leicht erwärmt, vor mir erstreckten. Es ging eine solche Anziehungskraft von ihnen aus.

Im ersten Jahr, das ich in Brüssel verbracht hatte, bevor ich Simon kennenlernte, hatte ich auch gelegentlich dieses Verlangen verspürt, mich einfach mitten auf die Straße zu legen, aufzugeben, damit ich gefunden, versorgt werden konnte, nicht von Menschen, die ich kannte, sondern von Fremden, die sofort Hilfe einschalteten, Profis, die man für ihre Dienste bezahlen konnte und bei denen man nie in der Kreide stehen würde. In manchen Momenten schien das die einzige Möglichkeit zu sein, mich meiner Mutter nahe zu fühlen, ohne dafür selbst sterben zu müssen. Immer hatte ich Gründe gefunden, es doch nicht zu tun, aber heute fiel mir nichts ein, und ich sah nur Gründe, es tatsächlich zu tun: Die Straße war verlassen, es hatte nicht geregnet, ich hatte keinen kostbaren Besitz bei mir außer meinem Fahrrad, das Altpapier und die

Jetzt oder nie. Ohne weiter nachzudenken, legte ich mich hin, rücklings auf den Gehweg, Hände und Beine in asymmetrischer Position, Augen geschlossen, dicht neben einen großen Turm ineinandergestapelter Kartons, reglos, leblos. Jetzt musste nur noch ein Passant oder eine Passantin vorbeikommen oder ein Müllmann, der mich dort finden und sich um mich kümmern würde.

Er oder sie würde nicht zögern und einen Hilfsdienst anrufen. Die Sirene würde näher kommen – endlich eine Sirene, die für mich unterwegs wäre –, und die Hilfeleistenden würden neben mir knien, mit besorgten Stimmen. Hatte jemand das Mädchen fallen sehen? Wusste jemand, wer ich war? Das Stethoskop auf meiner Brust, hochgehoben und auf eine Trage gelegt werden, in den Rettungswagen gerollt und durch die Stadt gefahren werden, durch ein Spalier von Autos, die uns die Durchfahrt gewährten, im Krankenhaus aufgenommen werden, an eine Infusion angeschlossen, versorgt und berührt werden, von Krankenschwestern, die Fragen stellten, die sich mit ihren schweren Brüsten über mich beugten, um meinen Blutdruck zu messen, die mir die Funktionsweise des Betts erklärten, das mit einer Fernbedienung höher und tiefer gestellt werden konnte, ein Einzelbett, in einem Zimmer mit einer anderen Kranken, deren Zustand mich nicht interessierte, tagelang schlafen dürfen, ein Tablett mit Essen bekommen, Butterbrote mit Schmierkäse, Schnittbohnen in salziger Soße oder was immer sie in dieser Großküche zustande brachten, und wenn sie mich fragten, ob sie jemanden benachrichtigen könnten, würde ich Lottes Namen angeben. Lotte würde ganz außer sich hereinstürzen, sie würde nicht von meiner Seite weichen.

Niemand kam. Wenn ich so auf dem Boden lag, schien die

Ein Fahrzeug näherte sich, möglicherweise das Müllauto, es hatte einen schweren, röhrenden Motor. Ich wartete, hielt mich bereit, entdeckt zu werden, mein Herz klopfte schneller. Es geschah nichts. Ein Personenwagen fuhr vorbei, er fuhr zu schnell und bemerkte mich nicht einmal, ich sah aus den Winkeln meiner zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen, wie er um die Ecke bog und verschwand. Das Brummen erstarb, es wurde still. Ich wagte nicht zu kontrollieren, ob von fern jemand näher kam. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das in Bronze gegossene Hündchen, das ich nicht zu sehen brauchte, um zu wissen, wie es da stand, mit erhobenem Bein, in Erwartung des Bächleins, das nicht kommen wollte. Mein Fahrrad, dachte ich plötzlich, das hatte ich in dem ganzen Trara vergessen, das stand neben mir, in Höhe meiner Füße, auf der Stütze. Wie sollte jemand glauben, dass ich wirklich gestürzt war? Ich stieß mit dem Fuß an das Rad, und noch einmal, bis es kippte, es fiel über meine Unterschenkel, die Klingel traf die Bordsteinkante und schrillte durchdringend, vergnügt, es klang wie das Lachen einer Frau, die beleidigt worden ist, aber trotzdem zeigen will, dass sie Sinn für Humor hat.

Ich blieb liegen, bis das Schrillen erstorben war. Ich wollte weinen, zweifelte, ob bewusstlose Menschen Tränen produzieren können.

Wenn es wirklich so aussehen sollte, als wäre ich vom Rad gestürzt, dann brauchte ich eine Beule.

Ich hob den Kopf ein wenig an und ließ ihn auf den Asphalt fallen. Beim ersten Mal machte ich es zu vorsichtig, hielt mit den Nackenmuskeln den Schlag auf, und weil ich über meine eigene Schwäche so enttäuscht war, strafte ich

 

»Pfui Teufel«, sagte Lotte, als ich ins Geschäft kam. »Jemand hat dir einen Kaugummi auf die Jacke geklebt. Er ist noch frisch, warte mal.« Sie stellte sich hinter mich und zupfte den Kaugummi mit einem Taschentuch so gut es ging von meinem Jackenkragen. Ich war froh, dass sie hinter mir stand, dass ich sie nicht anzusehen brauchte.

Sie vergaß einzukalkulieren, dass ihr Bauch inzwischen etwas umfangreicher war, so dass sie mit ihrem vorstehenden Nabel über meinen Rücken strich, es war ein tröstliches Gefühl, einen Moment lang gehörte ich dazu, eine kleine Dreiergruppe.

Da war eine Restspannung von gestern, doch Simons Benehmen hatte ihr Bild von mir nicht angekratzt, das konnte ich merken, ich war in ihren Augen noch dieselbe Leo, wir waren noch wir selbst.

Ich löste mich von Lotte. Sie sah meine roten, geschwollenen Lider, sagte aber nichts dazu. Ich öffnete auf dem Computer die Website, die ich vor Wochen zu Hause für preiswerte psychologische Hilfe gegoogelt hatte, jetzt nicht mehr für Simon, sondern für mich selbst. Ich konnte Simon nicht zwingen, mit jemandem zu sprechen, wenn ich selber es nicht tat.

CGG, Kontakt, ich klickte »Wähle deine Gemeinde« an, es erschien kein Formular zum Ausfüllen, lediglich eine Mailadresse und eine Telefonnummer, die man anrufen konnte. Wenn ich einfach so am Telefon aussprechen konnte, worum es ging, dann brauchte ich die Sitzung doch gar nicht, oder? Ich schaffte es nicht, ich konnte nicht mehr nachdenken,

Mein Kopf dröhnte, im grellen Ladenlicht kostete es mich Mühe, die Augen offen zu halten.

Keine fünf Minuten hatte ich letzten Endes auf dem Asphalt gelegen, doch die Scham würde bestimmt fünf Jahre lang bleiben.

Ich spürte Lottes Blick, ohne dass sie etwas sagte oder tat, ich fragte mich, ob sie von ihrem Standort aus die kleinen Buchstaben in meiner Mail hatte lesen können.

Sie wollte etwas sagen, ich kam ihr zuvor. »Lotte, ja, ich hätte gern die Kontaktdaten von diesem Arzt. Simon geht es nicht gut, wie du sehen konntest. Ein Gehirntumor kann es nicht sein, er hat keine Kopfschmerzen oder Gleichgewichtsstörungen, keine Sprachstörung, kein nachlassendes Erinnerungsvermögen.«

Ich stieß es hervor, fast blies ich die Worte aus Angst, sie kämen sonst nicht weit genug und würden nichts bewirken. Dann würde ich wieder eine Weile warten müssen, bevor ich ausreichend Mut gesammelt hätte. »Ich habe eine Liste mit allem zusammengestellt, was nicht in Ordnung ist, und das sind inzwischen vierzehn Seiten.«

»Vierzehn Seiten! Was hast du da alles aufgeschrieben?«

»Versprich mir, dass ihr ihn nicht für verrückt haltet«, sagte ich. »Simon kann nichts dafür. Das ist nicht der Simon, den ich kenne.«

»Natürlich«, sagte sie. »Das war auch nicht der Simon, den wir kannten. Es bleibt unter uns.«

Lotte ging zur Tür. Einen Moment lang dachte ich, sie würde gehen, nach Hause, um es Coen sofort zu erzählen. »Haha, Coen, weißt du was, Leo führt eine Liste über Simon, was für eine Verräterin, so jemand lassen wir nicht in die

»Erzähl’s mir, alles, von Anfang an.«

Ich zählte so viel wie möglich von dem auf, was ich in den letzten Monaten notiert hatte. Das Einzige, was ich herunterspielte, war, inwieweit Coen zum Epizentrum von Simons Argwohn geworden war – eine Glanzrolle, die ich ihm nicht gönnte.

Ich fühlte mich sofort ein ganzes Stück leichter, nachdem ich alles erzählt hatte, nachdem ich die Sorgen, die ich fühlte, geäußert hatte, ohne sie aus Angst, dass ich Simon bloßstellte, abzuschwächen.

»Ach, Leo«, sagte Lotte sanft. Sie trat vor mich, packte mich an den Schultern und schob mich in Richtung Puff, auf den wir uns setzten. »Warum hast du nicht schon früher was gesagt?« Sie hatte die Hand auf meinen Unterschenkel gelegt und streichelte mich sanft, und jedes Mal, wenn ihr Finger meine Haut zwischen Socke und Hosenbein berührte, erschrak ich von ihrer Wärme und musste mich zusammennehmen, um nicht loszuschluchzen, doch es war schon zu spät, die Tränen waren vorhin bereits reichlich geströmt, sie wollten nicht mehr bezwungen werden, sondern kullerten über meine Wangen, hinterließen kleine Flecken auf meinem T-Shirt, in Brusthöhe. Lotte tupfte mit ihrem Ärmel die Flecken trocken, achtete nicht einmal darauf, ob sie dabei meine Brüste berührte, was mich zusätzlich tröstete, das Eingeständnis, dass diese Situation so ernst war, dass sie jenseits aller Prüderie lag.

Ja, wie kam so etwas? Geduld ist dehnbar. Zuerst dachte ich, es sei die Trauer, und hatte abwarten wollen, danach wollte ich ihm die Chance geben, erst einmal richtig zu schlafen, und danach kamen die Arbeiten und alle Geräusche auf der Straße – wer würde da nicht allmählich verrückt

Eine ähnlich dehnbare Geduld erlebte man manchmal bei Müttern im Laden, die versuchten, streng zu ihren Kindern zu sein, sie zählten drohend bis zehn, unterteilten den letzten Teil aber in Dezimalstellen – »neun Komma fünf«, »neun Komma fünfundsiebzig«, »neun Komma neunundneunzig« – die Zehn fiel erst, wenn das Kind brav war und es nichts mehr zu bestrafen gab.

Das Festnetztelefon im Laden klingelte.

Das ist Simon, dachte ich, er hat dieses ganze Gespräch hören können, er hat anhand eines Tutorials irgendeine Software gebaut, mit der er über mein Handy mithören konnte, und bei ihm war ein Alarm losgegangen, als er in meinem Gespräch mit Lotte zur Sprache gekommen war. Ich war schon genauso paranoid wie er, seine Krankheit hatte auch mein Gehirn infiziert.

Jetzt, da ich meine Sorgen endlich mit Lotte geteilt hatte, verstand ich nicht mehr, warum ich sie so lange außen vor gelassen hatte.

»Was du schon mal gar nicht darfst, ist, mit Hilfe von Google selbst Diagnosen zu stellen«, sagte Lotte. Sie ließ das Telefon klingeln. Das war bestimmt ihre Mutter, sie rief Lotte jetzt jeden Tag während der Arbeitszeit an, mit guten Ratschlägen aus Artikeln, die sie gelesen hatte, zum Beispiel über die Luftqualität in der Stadt und deren Auswirkungen auf Embryos. »Ja-ha«, hörte ich Lotte jedes Mal sagen, so ein Ja, das Augenrollen ersetzt, ein Ja, das nur Menschen von sich geben, die ihre Mutter nie haben entbehren müssen. Dass sie jetzt nicht ans Telefon ging, dass sie ganz bei mir blieb, so für mich da war wie schon lange nicht mehr, das machte es noch schwieriger, nicht zu heulen.

Das laute Aussprechen des psychischen Krankheitsbildes,

 

Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, wie ich Simon erklären konnte, dass ich die Privatnummer eines Arztes über Verwandte von Lotte bekommen hatte, ohne dass er dachte, ich würde sein seltsames Verhalten auch schon mit ihr besprechen, alles sei Coens Plan.

Ich hatte kurz, auf Lottes Telefon, mit ihrer Tante gesprochen. Sie hatte mir die Nummer des Psychiaters diktiert. Eigentlich nehme er keine neuen Patienten mehr an, es gebe lange Wartezeiten, sagte sie. Wenn ich einen Termin bei ihm wolle, sollte ich am besten fragen, ob ich zu ihm in die Koningsstraat kommen könne, da fänden seine Privatkonsultationen statt. »Grüß ihn von Lisette, das wird helfen, er schuldet mir was.«

Mangels eines Namens hatte ich die Nummer in meinem Adressbuch unter »Koning« gespeichert.

»Ich sitze am Küchentisch, rufe jetzt einen Arzt für dich an, wenn du das okay findest, du musst schlafen. Wenn nicht, dann suche ich mir für eine Weile woanders eine Bleibe. Ich liebe dich, aber ich bin todmüde«, schrieb ich auf meinem Handy an seins, aus der Küche.

Zwei Minuten später hörte ich, wie das Schloss seiner

»Das war hoffentlich keine Idee von Lotte oder Coen?«, sagte er.

»Nein«, sagte ich. »Ich habe erst im Krankenhaus angerufen, da gab es Wartelisten, aber da war eine Ärztin, Lisette, die bereit war, mir zu helfen.«

Simon bestand darauf, dass ich mit dem Arzt sprechen sollte. Ich rief an, mit eingeschaltetem Lautsprecher, so dass er mithören konnte, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich ihn ohne sein Wissen an jemanden (sprich: Coen) auslieferte.

»Koning«, der »König« – Doktor Letiège, wie sich herausstellte –, sprach ein Niederländisch, wie man es auch bei Hofe spricht, die Vokale steckten in seinem Mund wie eine Postkarte in einem etwas zu knappen Umschlag. Ich richtete ihm Lisettes Grüße aus. Er gab mir einen »Terrminn« innerhalb einer Woche, trotz der offiziellen Warteliste von einem Monat.

»Grüße von Lisette.« Wer weiß, vielleicht war Lisette gar nicht der Name von Lottes Tante, vielleicht waren es allgemeine Codeworte, mit denen Angehörige von Paranoikern professionellen Helfern unbemerkt klarmachen konnten, dass Hilfe dringend erforderlich war.

 

In den Tagen nach dem Anruf öffnete ich regelmäßig meinen digitalen Terminkalender und starrte auf den blauen Punkt am Freitag, dem 24. August, um 10.30 Uhr: Koningsstraat. Noch nie war von so einer einfachen kleinen Form so viel Beruhigung ausgegangen. Wenn jemand mich fragen würde, welches meine Lieblingsfarbe sei, hätte ich sofort »Blau« gesagt. Ich zählte die Stunden, die wir noch überbrücken

Simons Theorien über den weißen Kleinbus, der auf der Straße parkte, entwickelten sich immer weiter. Jetzt, wo er es nicht mehr zu verbergen brauchte, durfte alles ausgesprochen werden, bald würde es ja behandelt werden und verschwinden. Der Bus gehörte keinem Geschäftsinhaber oder einer Energiegesellschaft, Coen saß darin vor einer Wand aus Monitoren und Abhörgeräten, er war darauf aus, Simons Website zu stehlen, und nicht nur die Website, an manchen Tagen wollte er Simons sämtliche Gedanken downloaden, so dass er ihn reproduzieren konnte, er würde eine ganze Reihe von Simon-Klonen machen, die bei Think Out Loud an die Arbeit gehen konnten, eine ganze Belegschaft. Er versuchte, kleine Kameras bei uns einzuschmuggeln, also kontrollierte Simon meinen Rucksack und meine Schuhsohlen, und ich ließ ihn gewähren. Einmal schlug ich ihm vor, gemeinsam beim Bus anzuklopfen und zu fragen, ob wir mal reinschauen dürften, unter dem Vorwand, dass wir vorhätten, selber so einen Bus zu kaufen, und neugierig wären, wie viel Material hineinpasste, so könnte Simon mit eigenen Augen den Inhalt des Laderaums untersuchen. Die Arbeiter hatten einigermaßen widerstrebend eingewilligt. Simon hatte den Bus gründlich inspiziert und keine doppelten Wände gefunden, aber auch das hatte ihn letztlich nicht beruhigt.