27. September 2018 (3)

Wenn du Angst hast im Dunkeln, musst du pfeifen, auf dem Boden, im Keller, auf dem Gang, und wenn du im Dunkeln ein Liedchen pfeifst, dann hast du weniger Angst. Lediglich meine Umrisse waren übrig, in einer kleinen Sparflamme, das Allernötigste an Gedanken, eine schwache Stimme, die mir auftrug, ins Badezimmer zurückzugehen, und die zum Trost dieses Lied von Samson und Gert zu singen begann, ein Lied, das ich so oft in meinem Kinderkopf abgespielt hatte, wenn ich nachts im dunklen Haus alleine die Treppe zur Toilette hinuntermusste.

Mir selbst Mut einsingend, ging ich ein zweites Mal auf die Badewanne zu. Diesmal wusste ich genau, was ich vorfinden würde. Ich musste es ein zweites Mal sehen, schauen, was genau passiert war, allein schon aus Achtung vor Daan, wissen, was genau sie hatte erleiden müssen, ihr dabei nachträglich beistehen, mitfühlen, auch wenn ich nicht wusste, wie es sich anfühlte, eine Katze zu sein und, lebend oder tot, von jemandem aufgeschnitten zu werden. Ich musste mir einen

Das Entsetzen darüber, wozu Simon imstande gewesen war, drang nur langsam zu mir durch.

Daan hatte immer ein wenig mehr an mir gehangen als an Simon. Weil ich sie nachts nicht von mir schob, wenn sie sich oben an meinen Kopf legte, weil ich ihr beim Kochen wider besseres Wissen öfter die Fleischränder zusteckte. Hatte Simon diese Zurückweisung immer gespürt und jetzt mit dem Tier abgerechnet? Oder hatte Daan Simon angefallen, hatte sie ihn stundenlang mit Augen wie Kameras angestarrt? Lag es am Katzenkalender, dass er eine Aversion gegen Katzen entwickelt hatte?

Trotz seines Zustands war er wohl klar genug gewesen, sich an den Wettstreit zu erinnern, wie man am praktischsten Avocadokerne herauslöst, er war klar genug gewesen, zu entscheiden, dass er mit diesem Löffel am besten zu Werke gehen konnte, doch warum hatte er sich an alles andere nicht erinnern können, alles vor und nach der Löffelprämierung – die Liebe, die er für Daan empfand, wie sie immer zusammengerollt auf seinem Schoß gelegen oder ihm die Finger geleckt hatte, wie froh wir sein konnten, dass sie nachts schnurrend zwischen uns lag.

Das Aufräumen würde nicht leichter werden, wenn ich länger wartete. Das Blut würde weiter eintrocknen.

Ich nahm eine Plastiktüte, stülpte sie um und steckte meine Hände hinein. So packte ich Daan oder zumindest die Teile, die von ihr übrig waren, ihre Muskeln waren bereits

 

Was übrig blieb, spülte ich so gut wie möglich weg. Daan musste hier schon einige Stunden gelegen haben, das Blut auf dem Boden war an den Rändern bereits geronnen, es schien eine Kruste über dem Tier bilden zu wollen, die Blutplättchen merkten nicht, dass das vergebliche Mühe war, sie wollten Daan heilen und wiederherstellen.

Mit der Scheuerbürste, die wir normalerweise dazu benutzten, uns gegenseitig den Rücken zu schrubben, kratzte ich alles ab, ich suchte eine Packung feuchter Intimtüchlein und wischte damit die Wanne und die Wände sauber. Der fade Geruch der pH-neutralen Seife jedes Mal, wenn ich ein weiteres Tüchlein aus der Packung zog! Immer wieder sah ich einen neuen Fleck, kleine Spritzer an den Wänden, den Schränken, ich folgte der Spur durchs Haus – Fingerabdrücke auf den Lichtschaltern, den Türklinken, den Küchenschränken –, und für jeden Abdruck nahm ich ein frisches Tüchlein. Die gebrauchten Tücher ließ ich an Ort und Stelle fallen, sie trudelten neben mir zu Boden, ich zog unentwegt neue an einer Ecke heraus.

Alle übrig gebliebenen Handtücher gab ich in die Waschmaschine, zog ein Poster von der Wand, warf unseren Avocadolöffel, die Shampoos, den Wolkenschwamm, die Badeentchen und die Nagelbürste in den Müllsack, sie waren Zeugen, die ebenfalls aus dem Weg geräumt werden mussten.

Das Letzte, was übrig blieb, war Daan in der Plastiktüte, auf einem Thron aus Handtüchern.

Ein totes Tier durfte man nicht in einem Müllsack auf die Straße stellen, in der Toilette runterspülen oder in einem Park begraben, man musste es zur Mülldeponie bringen, dort gab es eine spezielle Box für Kadaver, oder man brachte es zum Tierarzt, die hatten einen speziellen Container dafür – das hatte ein Kunde mir mal erzählt.

Der Leichnam musste weg, besser jetzt als morgen. Ich hoffte, dass Simon sich nicht mehr daran erinnern würde, damit er es nicht vor sich sehen musste, wieder und wieder, und zugleich hoffte ich, dass er sich erinnerte, so dass ich nicht die Einzige wäre, die wusste, wie das Tier dagelegen hatte.

 

Ich ging aus dem Haus, meine Übernachtungstasche auf dem Rücken, den Rollkoffer mit Simons Kleidern in der einen Hand, die Plastiktüte mit Daan in der anderen, ohne

 

»Machen Sie das zu Hause auch!?«, stand auf einem großen Werbekampagnenposter neben dem Glascontainer. Unter den Buchstaben die Abbildung eines Mannes auf einem blauen Sofa, umringt von großen Müllhaufen.

Ich schaute auf die Öffnungen an der weißen Tonne und an der grünen, sie waren exakt gleich groß, oder eher: gleich klein. Wenn ich das tun konnte, würde es im Rest meines Lebens sehr wenig geben, was ich nicht könnte.

Es tat mir leid, dass ich Daan in diese kalte Tonne voll zerbrochener Gläser und Flaschen fallen lassen musste. Und nicht nur das, sondern dass ich danach weggehen musste und sie nie wiedersehen würde und dass in Kürze ein großer Lastwagen diese Tonnen leeren, sie aus der Höhe in einen noch größeren Container kippen würde und dass ich nicht genau wusste, was danach damit passieren würde, wohin alle diese Flaschen gebracht würden, in ein Spülbecken, in einen Schmelzofen, zu einer Zerkleinerungsmaschine. Das weiche, liebe Tier, jedenfalls das, was davon übrig war, zwischen all dem scharfen, kühlen Glas.

Ich schob die Metallklappe nach unten, legte die Tüte an die Öffnung. Sie schien genau hineinzupassen, trotzdem musste ich fest drücken, durch das Plastik hindurch spürte ich, wie es da drin glibberig wurde, ich wrang sie weiter aus – und wenn du im Dunkeln draußen – beim Plumpsgeräusch in der Tiefe des Containers, beim Klirren von Glas, hörten auch endlich Gert und Samson auf zu singen.

 

Erst am Eingang des Krankenhauses sah ich mich um. Der Verkehr auf den beiden Doppelspuren des Kleinen Rings stand. Vom Hang an der Kruidtuinlaan aus betrachtet, trug die Stadt eine Perlenkette aus Scheinwerfern, doppelreihig. Zwanzig Meter von mir entfernt stand ein Obdachloser, der mit einem selbstgebastelten Haken Pfandflaschen oder solche mit Alkoholresten aus dem Glascontainer angelte.

 

»Der Lift hinter der Cafeteria, fünfter Stock, Route Y folgen«, sagte eine der Ehrenamtlichen in blauer Schürze, woraufhin sie neben einer demontierten Toilettenschüssel in der Eingangshalle Platz nahm und Flyer über Prostata-Untersuchungen an Männer verteilte, die alt genug aussahen oder wacklig genug gingen.

In der Cafeteria kaufte ich zwei Reistörtchen für den Fall, dass sie mir einen kurzen Besuch in Simons Zimmer erlauben würden. Vier Euro zwanzig das Stück, ich überreichte zehn Euro und ließ das Wechselgeld in den Becher für Trinkgelder fallen, eine kleine Opfergabe.

Route Y war ich bisher noch nie gefolgt. Es gab sechs Routen. A, B, C und X, Y, Z. Bei manchen Krankheiten begannen sie vorne zu zählen, manche waren ihrer Ansicht nach besser hinten im Alphabet aufgehoben – wer den Pfeilen der Route Z folgte, endete wahrscheinlich im Keller, im Leichenraum.

Im Fahrstuhl hatte ich das Bild wieder vor Augen: Simon,

Anhand der Reste, die ich im Badezimmer vorgefunden hatte, versuchte ich, alles vor mir zu sehen, aus allen möglichen Perspektiven, den entsetzten, flehenden Blick der Katze, die nötige Verbissenheit, um so etwas durchzuziehen, die Muskeln in Simons Armen, den Matsch, den Balg, den Glitsch, das Ploppen, das Ruckeln mit dem Löffel. Keine Ahnung, warum, doch vielleicht hoffte ich, mich an mein eigenes Grausen zu gewöhnen, damit ich versuchen konnte, Simon seine Tat zu verzeihen.

 

Die geschlossene psychiatrische Abteilung befand sich auf der zweitobersten Etage, hinter einer blaugrau gestrichenen Tür, direkt gegenüber der Intensivstation, die eine dunkelrote Eingangstür hatte.

Ich klingelte, die Stationsschwester erschien. Sie setzte ihren Fuß als Türstopper ein, während wir auf dem Gang ganz kurz sprachen, und betastete das Köfferchen. »Hier sind keine Telefone, Laptops oder andere reizende, stimulierende Gegenstände drin?«

»Höchstens ein Paar hautreizende Socken.« Ich versuchte, einen möglichst ruhigen Eindruck zu machen. Trotzdem musste ich ihr den Koffer mit Simons Kleidung übergeben und durfte nicht selbst hinein.

Sie hatte kurzes Haar, eine kegelförmige Figur, mehr Gewicht in den Waden als in den Schultern – sie konnte man nicht beiseiteschubsen.

»Mach dir keine Sorgen, falls das nicht geschieht«, sagte sie. »In erster Linie schläft er, er hält eine Art Winterschlaf, sozusagen.« Sie gab mir ein ärztliches Attest, für Simons eventuellen Arbeitgeber. »Ich habe ihn schon mal für fünf Wochen krankgeschrieben.«

»Fünf Wochen?«

Die Tür ging auf, es erschienen zwei Schwestern, deren Dienst zu Ende war, eine von ihnen summte etwas von Queen, gerade laut genug, dass es einem den restlichen Tag über im Kopf bleiben würde. Ich konnte einen kurzen Blick in den leeren Gang werfen.

»Wir reparieren keine Computer, wir heilen Menschen. Das kostet Zeit.«

»Weiß Simon noch, dass er sich freiwillig hat aufnehmen lassen, oder glaubt er, ich hätte ihn dazu gezwungen?«, fragte ich.

Sie betrachtete mich von Kopf bis Fuß, ihr Blick blieb an meiner verkehrt herum angezogenen Leggings hängen, an dem Zuviel an Stoff zwischen meinen Beinen, an meinem einen sockenlosen Knöchel.

»Das weiß ich nicht. Geh du jetzt mal schön nach Hause, ruh dich ein bisschen aus, kümmere dich um dich selbst, wir kümmern uns um ihn, ich werde persönlich darauf achten, dass ihm nichts fehlt. Wir werden auch seine Wunde gut versorgen.«

Sie machte Anstalten, wieder in den Gang zurückzutreten und nach ihren Patienten zu sehen.

Ich hätte etwas sagen können, ihr anvertrauen, was Simon mit Daan getan hatte, es ihr nicht ein-, sondern tausendmal

Ich dankte der Schwester und ging. Beim Geräusch des ankommenden Fahrstuhls spürte ich die an meinem Arm baumelnde Tüte mit den beiden Reistörtchen.