Ununterbrochen spiele ich im Geist den gestrigen Babybesuch ab, das Gespräch auf dem Nachhauseweg. Ich möchte mich erinnern, was genau gesagt wurde, wie wir dastanden, welche Miene Simon machte, welche Andeutungen und Vorzeichen ich übersehen habe.

Noch eineinhalb Kilometer, ungefähr drei Minuten Weiterstrampeln, und ich kann unser Haus sehen. Ich spüre nicht nur die gleiche Eile wie vor zwölf Jahren, sondern auch den gleichen Widerstand. Die Bewegung zu einem Ort, an dem man eigentlich nicht ankommen will, den man nicht sehen will, ein Ergebnis, das man nicht wissen will.

 

Die Bäume am Straßenrand. Die kleine Gruppe Umstehender. Das Motiv auf dem weißen Tuch, das sie bedeckte.

Sie sei auf dem Rückweg vom Gemüsehändler gewesen, sagte mein Vater, als ich am Unglücksort ankam, ein Auto habe sie angefahren. Das war das Erste, was er gesagt hatte. Und auch: Es sei keines seiner Autos gewesen, es sei eine Marke, die er nie verkauft habe.

Der Nachbar hatte im Garten gesessen und Zeitung gelesen und plötzlich quietschende Bremsen gehört und danach einen lauten Schlag. »Als ob jemand mit einem Baseballschläger eine Kokosnuss aufschlägt.« Er war nachsehen gegangen, war ins Haus zurückgelaufen, um den Rettungsdienst zu alarmieren, und hatte das erstbeste Stück Tuch ergriffen, um sie damit zu bedecken, einen frischgewaschenen Bettbezug

Reflexartig hatte ich, als ich dort angelangt war, die umliegenden Rasenstücke abgesucht, weil ich dachte, dass der Kopf meiner Mutter fehle. Ich fand natürlich keinen Kopf, nur eine ihrer Sandalen, ein Stück weiter weg auf einer Wiese, ein Pferd schnupperte daran. Jemand hob die Sandale für mich auf, meine Hände zitterten zu stark, und legte sie unter das Tuch. Da war ihr Fahrrad, mit einer Einkaufstasche am Lenker und mit einem verknautschten Vorderrad. Als die Polizisten kamen und den Bettbezug anhoben, bedeckte mein Vater meine Augen mit seinen Händen, allerdings mit genügend Raum zwischen den Fingern, so dass ich durchschauen konnte, falls ich das wollte, schließlich war ich sechzehn. Ich wollte, er hätte mir diese freie Wahl nicht überlassen, denn natürlich konnte ich nicht anders, als doch zu schauen.

Es erstaunte mich, dass die Hände meines Vaters zitterten, dass er so mitgenommen war, dass er sie offenbar noch genug mochte.

Meine Mutter hatte auf dem Rückweg vom Gemüsehändler einen Umweg über einen Bastelladen gemacht, wie sich später herausstellen sollte. Sie hatte ihn gleich, nachdem er geöffnet hatte, betreten, um eine Tube Kleber zu kaufen, damit sie die kleine Porzellanfigur würde reparieren können, die mein Vater am Abend zuvor absichtlich zerbrochen hatte. Sie hatte den kleinen Geige spielenden Harlekin, den sie schon von klein auf besaß, mitgenommen, damit der Verkäufer ihr den geeignetsten Kleber empfehlen konnte. Dieser Verkäufer war der Letzte, der mit ihr gesprochen hatte, so stellte sich bei der Beerdigung heraus. Die zerbrochene Figur fand ich in der Tasche an dem Fahrradwrack, das die Polizei bei uns ablieferte. Mama hatte alle Teile einzeln in Zeitungspapier

Er hatte den Blumenkohl ein paar Tage später zubereitet. Mama hätte keine Lebensmittelverschwendung geduldet, sagte er. (Nein, es war vor allem er, der keine Verschwendung duldete, Mama hatte dem – wie bei allem – nach Möglichkeit Rechnung getragen. Regelmäßig spülte sie Essen in der Toilette hinunter, damit Vater nicht merkte, dass sie etwas hatte zerkochen lassen.) Ich wünschte mir sehr, es würde mir schmecken, aber das tat es nicht, es war so fade zubereitet, als würden wir Hirn essen. Es kam mir hoch, und ich schluckte es wieder hinunter.

Abends, im Badezimmer, hängte ich meinen Bademantel neben ihren und verknotete unsere Ärmel, und jeden Abend sah ich mir an, wie wir da Hand in Hand hingen.

Ich weinte, ohne mir die Augen zu reiben, damit sie nicht rot wurden und mein Vater mich nicht würde trösten wollen. Sein Kummer (der viel zu spät kam) durfte sich nicht mit meinem vermischen (der immer schon da gewesen war, der genau angemessen war). In jenem letzten Jahr in meinem Elternhaus hörte ich nie Radio, um zu vermeiden, dass plötzlich ein trauriges Lied käme und ich in seinem Beisein doch weinte.

Die Porzellanscherben und den frisch erworbenen Sekundenkleber verwahrte ich sorgfältig in dem Zeitungspapier, ohne die Figur zu reparieren, aus Angst, mein Vater würde sie, sobald sie wieder heil war, für sich beanspruchen.

Indra holte mich in jeder freien Minute ab, um mich abzulenken, um bei ihr zu Hause einen Film zu schauen.

Ich saß vor dem Bildschirm, sah sich bewegende Bilder,

Nach ungefähr fünfzig Filmnachmittagen kündigte Indra an, dass sie nach Brüssel ginge, um Jura zu studieren, und dass ich mitkönnte. Es gebe dort eine Filmakademie, sagte sie, und sie traue mir zu, Regisseurin zu werden.

 

Ich weiß nicht, ob es etwas gebracht hätte, wenn mein Vater jemals bereit gewesen wäre, seinen Anteil an Mamas Tod zuzugeben, doch dass er so oft betont hatte, ihr Hauptziel sei der Gemüsehändler gewesen, das wollte ich nicht hören.

Ich wäre lieber mit meiner Mutter zurückgeblieben, dann hätten wir gemeinsam um meinen Vater trauern können. Ich würde sie fragen, warum diese kleine Figur ihr so viel bedeutete.

Jetzt, da sie nicht mehr da war, wollte ich nicht unbedingt die Beziehung zu meinem Vater enger gestalten. Er empfand das selbst auch so, es kostete keinerlei Mühe, die Beziehung abzubrechen, es ging von allein, wir waren nirgends, nicht mit der kleinsten Faser, miteinander verbunden gewesen.

Simon hatte sich schon bald gefragt, warum ich einen kleinen Beutel mit Scherben und Sekundenkleber in die