1. Oktober–8. Oktober 2018

Die Tage liefen leicht dahin, mit der gleichen Energie schaffte ich plötzlich viel mehr. Lange hatte ich mich gegen den Wind fortbewegt, dieser Gegenwind war jetzt weg, und so legte ich automatisch noch einen Zahn zu.

Ich brauchte zu Hause keine Rücksicht auf Simon zu nehmen, kein Essen für ihn zuzubereiten, ihn nicht im Auge zu behalten. Ich musste nicht mehr auf meine Worte achten, auf der Hut bei Aufschriften sein, in denen er an ihn gerichtete Botschaften sehen könnte, aufpassen, dass ich nicht etwas in zwölffacher Anzahl auf seinen Teller legte, oder unruhig sein bei jedem Kleinbus, der in unserer Straße parkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel Kraft mich das über Wochen gekostet hatte. In mir war eine ganze Task-Force ausgebildet worden, die jetzt überflüssig war.

Eine beruhigende Regelmäßigkeit schlich sich in meine Tage. Ich arbeitete täglich von Viertel vor neun bis Viertel vor eins im Laden, danach löste Lotte mich ab, damit ich rechtzeitig zur ersten Besuchszeit bei Simon sein konnte. Ich war sein einziger Besuch, brauchte mir keine Sorgen darüber zu machen, wer ihn so sehen würde und was er über ihn denken würde. Simons Vater blieb einstweilen einfach in Mailand,

Ich folgte der immer selben Route durch die Krankenhausgänge, kaufte mir ein Brötchen in der Cafeteria, nahm denselben Fahrstuhl nach oben, wartete an der Tür, bis um eins die Besuchszeit begann, saß neben Simons schlafendem, betäubtem Körper, bis um Punkt zwei eine Stimme das Ende der ersten Besuchszeit verkündete.

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich auf dem ruhigen Gang in der Nähe der Stationstür, den Rücken am warmen Heizkörper, der Geräusche machte wie der Magen von jemandem, der zu viel Kaffee getrunken hat. In der Geborgenheit dieses Rauschens und Blubberns aß ich das Brötchen aus der Cafeteria, schaltete den Flugmodus meines Handys aus und schaute, ob neue Mails oder andere Nachrichten als Reaktion auf die fünf Texte gekommen waren, die an den zurückliegenden Werktagen jeden Mittag gesendet worden waren und die man inzwischen auch online nachhören konnte.

Ich loggte mich in meine Social-Media-Accounts ein, schaute, ob sich dort noch jemand geäußert hatte und wie oft mein Text von anderen geteilt worden war, ich scrollte und klickte, bis es keine Reaktion mehr zu liken gab, bis nirgends ein neuer Follower anzunehmen war. Danach schaute ich mir die Timelines von anderen an, bis es auch da nichts mehr gab, was ich mit »Gefällt mir« markieren konnte. Ich sah mir die Statistiken von Boekenbuik Bloggt an, trug alle Papiere für den Antrag auf Simons Krankengeld zusammen, ich las die Wortpost, die Lotte mir aus dem Geschäft als Horoskop schickte (was bedeutet »apathisch«, was bedeutet »Nozizeption«), ich schrieb tagebuchartige Notizen in ein Heft für den Fall, dass Simon später würde wissen wollen, wie ich diese

Zu Beginn der Abendbesuchszeit von sieben bis Viertel nach acht ging ich wieder auf die Station. Meist hatte Simon sein Abendessen bereits bekommen, aber es war kalt geworden, weil er nicht verstand, dass jetzt Essenszeit war. Ich half ihm, das Fleisch zu schneiden oder den Deckel von seinem Joghurtbecher zu entfernen.

Vor allem während dieser letzten Viertelstunde versuchte ich, Ruhe auszustrahlen, ihn keinen Reizen auszusetzen, ich schlüpfte neben ihm ins Bett, bis er schlief, und dann lagen wir reglos da, in exakt der gleichen Haltung; friedlich, ideale Modelle für Zeichner. Nie war ich entspannt genug, um selbst zu schlafen. Ich studierte Simon aus der Nähe, seine Poren, seine Nase, seinen sehnigen Hals, seinen Atem, seine trockenen Lippen mit den Krakelüren – näher war ich mein ganzes Leben lang niemandem gewesen, einem Körper, dessen Besitzer fort war.

 

Manchmal brabbelte Simon im Halbschlaf. Er sprach eine spröde, ungeordnete Sprache, in der alle Wörter fremd klangen. »Möchtest du auch gern ein Pfahl sein?« oder »Die Wolken brauchen Soße«. Er war der Geschäftsinhaber, der die Rückseite seiner Ladentheke unbewacht ließ, der Koch, dessen Küchentür offen stand. So etwas wollte man lieber nicht sehen, man wollte später etwas in diesem Laden kaufen können, ohne die Einkaufspreise zu kennen, man wollte noch genüsslich in diesem Restaurant essen können, und trotzdem blieb ich liegen, brachte sogar mein Ohr dicht an seinen Mund, mit ebenso viel Neugier wie Scheu vor dem, was tief drinnen verborgen war, Simon lag da mit offenem Suchverlauf.

Einmal sang er »Leo, Leo, jeder kommt, wenn er Leo sieht«, leise und falsch, ich fand es rührend, er hatte mir ein Zeichen

Ich blieb, solange ich konnte, selbst wenn Simon während der gesamten Besuchszeit schlief, ich konnte unmöglich weggehen, bevor das Ende-Signal ertönte, wollte nicht riskieren, dass er hochschrak und denken würde, ich sei überhaupt nicht gekommen.

 

Die Abende gehörten mir selbst, Lotte gab sich alle Mühe, sich meiner anzunehmen, sie schlug mir vor, zum Essen zu kommen oder sich gemeinsam einen Film anzuschauen, aber ich wollte lieber allein sein, das war Simon gegenüber fairer, ich bekam es nicht übers Herz, etwas Schönes zu unternehmen, während er so demontiert dalag. Ich radelte nach Hause, schmierte mir ein Brot, das ich meist aß, während ich einen kurzen Bericht tippte, mit dem ich Simons Vater auf dem Laufenden hielt und zu beruhigen versuchte. Danach sah ich mir die Online-Kommentare zu meinen Texten an. Ich scrollte nicht nur auf der Suche nach positiven Reaktionen, sondern auch nach negativen. Für jedes Kompliment, das ich als wahr annahm, musste ich erst eine negative Bemerkung akzeptieren – Kritik war die Nadel, mit der man Orden ansteckte. »Weniger Weiber im Radio bitte«, lautete die Reaktion von jemandem. Die meisten Beleidigungen stammten von Männern und richteten sich nicht gegen mich persönlich, sondern an die Chaoten, die ihrer Meinung nach in Brüssel das Sagen hatten.

Wenn ich keine Lust mehr hatte, durch die sozialen Netzwerke zu scrollen, legte ich mich auf die Couch, um fernzusehen, meistens Sendungen über andere vom Pech Verfolgte, Wiederholungen von Fear Factor, Leute, die unter peinlichen Erkrankungen litten, oder Rekonstruktionen missglückter schönheitschirurgischer Operationen.

Ich sah mir auch Fotos von neugeborenen Kätzchen an und ging auf Seiten von Tierheimen auf der Suche nach einer Katze, die für Daan durchgehen könnte. Als ich endlich ihre Doppelgängerin gefunden hatte, mit einem kleinen weißen Fleck an exakt derselben Stelle und derselben Fell- und Augenfarbe, traute ich mich nicht, das Tierchen zu kaufen. Was, wenn Simon sich doch daran erinnerte, wie Daan ums Leben gekommen war, und denken würde, das Tier sei vom Tode auferstanden?

 

Elf Tage nach Simons Einlieferung ging eine Mail auf meiner Blogadresse ein mit dem Betreff »Anfrage von Libelle«. Sofort bekam ich Bauchschmerzen. Es ist so weit, dachte ich, jemand war dahintergekommen, die sensationellen Geschichten hatten sich verbreitet, die Presse wollte herausfinden, ob es stimmte, ob ich eine Beziehung zu einem Mann hatte, der sein Haustier umgebracht hatte.

Die Mail war um 14.15 Uhr abgeschickt worden und bestand aus zehn Sätzen. Ich machte einen Screenshot und sah sie mir so an, das half, ich fühlte mich geschützter.

Ich las den Text drei Mal. Beim ersten Mal las ich schnell, um mich zu vergewissern, dass es keine schlechte Nachricht

»Hallo Leo, wie geht’s?«, schrieb Jolanda Wiebinga. Sie stellte sich per Mail kurz vor. Sie war schon seit vier Jahren Redakteurin bei der Libelle, sie war Niederländerin, der Liebe wegen nach Brüssel gekommen. Sie hatte meine Texte auf Bruzz Radio gehört und war kurzfristig auf der Suche nach einer Gastkolumnistin, die vorübergehend einen leeren Platz in ihrem wöchentlich erscheinenden Lifestyle-Magazin füllen könnte. Fünf Wochen lang ein Beitrag von fünfhundert Wörtern über die kleinen und großen Dinge des Lebens. Sie habe an mich gedacht, schrieb sie. »Gern leben, gern mögen« sei das Motto ihrer Zeitschrift, und mit diesem Motto versuchten sie, jede Woche gut eine halbe Million Leserinnen und Leser zu fesseln. Wir könnten mal zusammen Kaffee trinken, falls ich überzeugt werden müsse.

Gut eine halbe Million Leserinnen und Leser, wie konnte ich mir das bloß vorstellen, so viele Menschen bekam man, selbst wenn man sie fest zusammenpresste, nicht alle zusammen auf einen Platz.

Dass ich mich geehrt fühlte, antwortete ich Jolanda umgehend, dass es aber eine seltsame Zeit sei, denn mein Partner sei gerade in die Psychiatrie gekommen, vermutlich wegen einer Psychose. Ich sei in erster Linie damit beschäftigt, zu arbeiten und ihn zu besuchen, es würde schwierig sein, über die kleinen Dinge zu schreiben, wenn es um so etwas Großes ging. Könnten sie eventuell meine Radiobeiträge übernehmen? Die seien bisher nur online erschienen.

Jolanda hatte innerhalb von zwei Minuten geantwortet. Am liebsten wäre ihnen noch nicht Publiziertes. Könne ich nicht darüber schreiben, wie ich meinen Partner in so einer Einrichtung besuchte? Zuneigung sei manchmal auch mit Kummer verbunden, wisse sie, das sei auch etwas, was sie für ihre Leserinnen und Leser in den Blick nehmen wollten. Wenn man sich die Zahlen im Bereich psychische Gesundheit ansehe, könne man sagen, es sei notwendig, Tabus zu brechen, nicht nur für die Patienten selbst, sondern auch für deren Angehörige. Libelle-Leserinnen und -Leser bekämen schon genug Feld-Wald-Wiesen-Kolumnen aufgetischt. Sie schlug vor, dass ich unter Pseudonym schrieb.

Ich suchte ein Foto von Jolanda im Internet, sie sah freundlich und vertrauenswürdig aus. Sie war bewusst kinderlos geblieben, ein Tabu, über das sie selbst mehrmals offen in der Zeitschrift geschrieben hatte.

Wir telefonierten. Jolanda hatte eine energische, überzeugende Stimme. Sie wiederholte bestimmt drei Mal, dass sie in meinen Krankenhausbesuchen eine Kolumne sehe, sie könne sich anhand früherer Artikel von mir, die sie gelesen habe, vorstellen, dass das von zusätzlichem Wert sein würde. »Im Übrigen«, sagte sie, »Psychosen kommen häufiger vor, als man denkt.« Ihre eigene Schwester sei auch anfällig für Psychosen, kurz nach ihrer ersten Entbindung sei sie stationär aufgenommen worden. Hätte ihre Familie damals bloß jemanden gehabt, der darüber schrieb, ehrlich und offen und mit dem nötigen Humor.

Ich konnte mir sofort vorstellen, was Lotte sagen würde, wenn ich ihr von diesem Plan erzählte. Seit sie ein Kind

Gegen Jolandas Vorschlag hätte sie bestimmt Einwände. »Menschen, die dir etwas bedeuten im Leben, darfst du nicht einfach gratis an Unbekannte verschenken, die dir nichts bedeuten«, hörte ich sie bereits mit ihrer Ich-mein’s-ja-nur-gut-Stimme sagen. »Nicht einmal, wenn du damit Tabus brichst.«

Doch Leserinnen und Leser waren nicht bedeutungslos, sie fungierten als Mittler, stellten das Bündel von Kreisen rund um meinen Kreis auf der Wasseroberfläche dar. Jedes Mal, wenn Simon einen kleinen Stein hineinwarf, würde ich es nicht Lotte weitererzählen müssen oder einer Dame wie Marianne in einem Zentrum für geistige Gesundheitsfürsorge im Tausch gegen eine Spende, nein, ich würde es mir von der Seele schreiben, Tausende könnten es gleichzeitig lesen, ich würde mit einem Schlag eine Menge Kummer los, alles Gewicht, das in den kommenden Tagen und Wochen noch auf mir lasten würde. Außerdem: Jolanda bot mir 295 Euro pro Kolumne, fünf Kolumnen, ich rechnete es sofort auf meinem Handy aus: 1475 Euro insgesamt.

Wir konnten das Geld gut gebrauchen: Seit Simons Einlieferung hatte ich die Auszüge seines Kreditkartenkontos geöffnet, die per Post gekommen waren, und es hatte weh getan, die Auflistung der ausgegebenen Beträge zu sehen. Er hatte mehr ausgegeben, als ich gedacht hatte, und für noch unsinnigere Dinge – Teilnahmegebühren an Online-Kursen, eine ganze Reihe von E-Books über das mühelose Erzielen

»Bist du noch dran?«, fragte Jolanda.

»Ja, hörst du mich?« Ich drückte mein Handy näher ans Gesicht.

»Wäre dein Partner damit einverstanden, was meinst du?«

»Ja«, sagte ich. Ich konnte ihn jetzt schwerlich fragen. Meine Antwort kam zögernd, ich konnte hören, wie Jolanda zweifelte.

»Oder wollen wir doch erst mal gemeinsam Kaffee trinken?«, fragte sie.

»Nein, ich bin mir sicher.« Es war fast zu zufällig, um wahr zu sein. Simon würde mindestens fünf Wochen in der Klinik sein, und jetzt bekam ich dieses Angebot für ebendiesen Zeitraum; ich musste zugreifen, und zwar mit beiden Händen.

Lotte würde trotz ihrer Standpunkte und Einwände an meiner Stelle das Gleiche tun, das wusste ich plötzlich ganz genau. Sie hatte mal zusammen mit Coen eine erregende Nacktszene in einer obskuren Abschlussarbeit gespielt, in der Hoffnung, damit ein größeres Projekt zu ergattern. Sollte sie im Tausch gegen das Teilen persönlicher Informationen über Coen einen Job in einer Theatergesellschaft bekommen, die eine halbe Million Zuschauer hatte, dann würde sie das, ohne nachzudenken, tun, jedenfalls wenn sie nicht schwanger wäre.

Jolanda wiederholte noch einmal, dass ich unter Pseudonym schreiben würde, dass nichts erkennbar wäre, so könne ich offen über diese Zeit schreiben, ohne dass irgendjemand mich oder Simon wiedererkennen würde. Am Donnerstag, dem achtzehnten, solle der erste Beitrag erscheinen, was bedeute: Abgabe am Montag, vor Mitternacht.

Am selben Tag noch zog ich eine Handvoll Buchstaben aus dem Scrabble-Säckchen und bildete damit, ohne groß nachzudenken, einen Namen: Zara Six.

Ich legte unter diesem Pseudonym auch ein Twitter-Profil an. Zara existierte, ich konnte nicht mehr zurück. Und auch wenn es nur für fünf Wochen sein würde, empfand ich sie schon jetzt als Freundin, die ich für den Rest meines Lebens haben würde.

Es waren noch keine zwei Wochen vergangen, seit ich Daans Haare durch den Abfluss gespült und allen gegenüber verschwiegen hatte. Simon würde nie erfahren, dass ich über ihn schreiben würde, in der Psychiatrie war jegliche Aktualität verboten, im Ergotherapieraum lagen lediglich alte Modezeitschriften und Wohnmagazine herum, und sobald Simon aus dem Krankenhaus entlassen würde, wäre nirgends mehr eine Kolumne von Zara Six zu finden, alle Zeitschriften wären bereits im Altpapier gelandet oder würden auf dem Boden von Meerschweinchenkäfigen liegen oder zusammengeknüllt dazu dienen, nasse Schuhe zu trocknen.

Er hatte Daan umgebracht, ich würde ohne sein Wissen Kolumnen über ihn schreiben, und bald, in fünf Wochen, würden wir, gleichermaßen schuldig, einen Neubeginn machen können – dann hatten wir beide etwas Schreckliches getan.